Halb in Freiheit.

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pleistoneun

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Für Blinde ist immer Mitternacht. Aber diese Geschichte handelt nicht von Blinden. Die Geschichte handelt von Wallemann, dem Konditormeister, der sich in dieser wie auch in allen anderen Juli-Nächten, die für gewöhnlich unerträglich stickig waren, daran machte, das vergitterte Fenster zum begrünten Hinterhof zu öffnen, damit wenigstens ein gelegentlicher schwacher Luftzug die drückende Schwüle der Backstube vertrieb.

Zwischen seinen Fingern klebte Teig und er tat sich heute schwer, das von der Feuchtigkeit der Luft nasse Mehl über ein paar fertig gebackene Brote zu streuen. Wallemann spürte, dass er das nicht mehr lange durchhalten würde. Die Hitze und das Brot und vor allem den Knast. Hitze und Brot waren halb so schlimm, aber die andere, die schlimmere Hälfte war der Betonbau, die Gitterstäbe und das strenge Wachpersonal.

Er ging zurück zum Fenster und schaute hinaus. Hinter dieser einfachen Holztür lag die Freiheit, so nah, aber doch so fremd und unberührt. Seine Teigfinger griffen nach den Gitterstäben, die etwa in Augenhöhe das kleine Sichtfenster versperrten. Wallemann schnaubte unbedacht das Mehl von seinen Händen, als er wehmütig nach draußen blickte und dem ewig gleichen Traum von Freiheit verfiel.

In der Backstube jedoch hatte sich währenddessen in der großen Hitze neben dem Brennofen ein Tuch entzündet und das Feuer stillte seinen großen Hunger mit allem, was ihm in den züngelnden Schlund geriet.

Jäh aus seinen Freiheitsträumen herausgerissen versuchte Wallemann das Brot zu retten, was ihm jedoch angesichts der Wertlosigkeit sofort unnütz vorkam. Er ließ die Brote fallen, hätte sich fast verbrannt dabei, stieß mit einem falschen Schritt den Holzkorb um, in dem Papier zum Heizen lag. Und kurz nachdem er sich noch dachte, dass es eine Frechheit und Verantwortungslosigkeit sei, dass auf Papier niemals der Vermerk "VORSICHT BRENNBARES" zu lesen war, stolperte er über die am Fußboden verstreuten Bäckerutensilien. Den Knall mit dem Hinterkopf gegen die Holztür zur Freiheit konnte er weder spüren noch hören und auch nicht, dass die Türe aus dem Schloss gesprungen war, denn die Bewusstlosigkeit trat mit dem Sturz der Holzscheite aus den durch das Feuer zu Bruch gegangenen Stellagen ein. Dann war alles nur noch still.

Und einmal mehr träumte Wallemann von draußen, von dem kühlen Wind, der sein Gesicht streichelte und wie sich das frische Gras unter seinen Händen anfühlte. Diesen Traum aber erlebte Wallemann gerade noch ein letztes Mal, denn er starb auf der Schwelle zur Freiheit. Das Feuer tobte in der Stube und daneben, gleich daneben löschte der Tod langsam das traurige Leben Wallemanns - halb gefangen, halb in Freiheit.
 



 
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