Halbzeit

2,70 Stern(e) 3 Bewertungen

AdamSmith

Mitglied
Ich ziehe an der Zigarette. Es ist kalt, kälter als für diese Zeit des Jahres typisch. Ich behalte den Rauch in mir, stelle mir vor, wie er mich von innen auskleidet, eine dünne Schicht auf meine Lunge legt. Eine ungesunde Angewohnheit – bei diesem, extrem abgegriffenen und in allen Formen und Arten tausendfach verwendeten Gedanken muss ich lächeln.
Ich hätte meine Jacke aus dem Büro mitnehmen sollen. Ich war sowieso dort um den Dienstplan mit hinaus zu nehmen. Ich hätte auch nach vorne ins Foyer gehen können. Dort stehen Couches und es ist nicht so verdammt kalt und rauchen kann man dort auch. Dann hätte ich mich nicht hier auf diesen knallharten Stuhl setzen müssen.
Ich sitze auf der Terrasse einer Wohnanlage für psychisch Kranke. Ich sitze hier im T-Shirt, denn in der Anlage selber ist es immer zu warm. Die Anlage besteht aus sechs Gruppen. Ich arbeite in der geschlossenen Abteilung – maximaler Pflege- und Betreuungsaufwand
Ich falte den Dienstpan des vor uns liegenden Monats auf und gucke für was für Dienste mich die Gruppenchefin eingeteilt hat: Die Frühschichten sind eindeutig arbeitsintensiver mit dem Duschen, Waschen, Anziehen, Frühstück und Mittagessen, den medizinischen und therapeutischen Terminen und so weiter. Dafür sind die Spätschichten erschreckend langweilig. Nachmittags passiert so gut wie nichts. Dennoch habe ich die Spätschichten lieber.
Der Monat sieht gut aus – viele Spätschichten. Ich bemerke etwas. Es ist doch manchmal so: Man nimmt etwas nicht so richtig wahr. Dann wird man mit etwas anderem konfrontiert, das die Gedanken ungefähr in die richtige Richtung treibt und schon fällt einem etwas auf. Ich rechne kurz nach. Es stimmt: Halbzeit! Heute ist Halbzeit! Ich hab die Hälfte meines Zivildienstes hinter mir. Das alles, was ich bis hier her geschildert habe dauert natürlich in Wirklichkeit nur wenige Sekunden. Auch wenn Sie etwas länger brauchen um es zu lesen. Tatsächlich ist so wenig Zeit vergangen, dass ich erst jetzt dazu komme den nächsten Zug an meiner Zigarette zu nehmen. Halbzeit – Halb Zeit – halbe Zeit. Mir geht es nicht gut. Mein Gewissen ist nicht rein.
Wenn ich jetzt ganz ehrlich seien soll, dann muss ich Ihnen erzählen, wieso ich kein reines Gewissen habe. Es ist alles anders seid dem ich eine Bewohnerin geschlagen habe. Ich will jetzt hier nicht versuchen das zu beschönigen. Es gibt immer mal wieder Videos von solchen Szenen – sie werden dann im Fernsehen gezeigt. Ich sehe sie mir mit ebensoviel Erschütterung an, wie Sie. Verstehen Sie mich da nicht falsch. Vielleicht habe ich Glück gehabt, dass der Heimleiter nicht irgendwo Kameras angebracht hat? Vielleicht? Ich weiß es nicht! Sie heißt Manuela. Sie hatte ihr Zimmer vollgekotzt. Es war gerade in dem Moment als ich meine Schicht beenden und an die Nachtwache übergeben wollte. Ich will das, was ich getan habe nicht entschuldigen aber mein Privatleben leidet sehr unter diesen unregelmäßigen Arbeitszeiten. Ich selber leide sehr darunter, was ich hier alles erleben muss. Ich denke ich bin einfach zu sensibel dafür. Man hätte mich gar nicht einstellen sollen. Wahrlich nicht!
Ich nahm sie also mit ins Bad um sie sauber zu machen, nachdem sie sich vollgekotzt hatte. Ich will ja nichts schön färben, aber ich, und auch alle anderen Pfleger, glauben, dass sie das absichtlich macht. Ich nahm sie also mit ins Bad und machte sie sauber. Und schlug sie. Mit der flachen Hand. An den Kopf. So was sieht nie jemand. Wenn man nicht so fest schlägt, dass es eine Beule gibt. Ich schlage ja nicht so fest. Ich habe sie geschlagen. Mehrmals. Dabei hab ich sie sauber gemacht und dann wieder zurück in ihr Zimmer und dann nach Hause.
Ich glaube Sie stellen sich das jetzt falsch vor: Sie ist schwerst-mehrfach-behindert. Sie ist eigentlich ein Monster. Sie ist äußerst gewalttätig. Sie hat immer wieder zurück geschlagen. Aber sie ist blind und ich zu schnell für sie. Ich möchte nicht, dass Sie den falschen Eindruck bekommen: Zuvor und seid dem hat sie mich mehrfach geschlagen. Ich habe einige blaue Flecken davon getragen.
Jetzt aber steh ich auf der Terrasse. Es ist Herbst. Der Tag ist grau. Ich stehe hier und rauche und gucke auf den Dienstplan und es ist Halbzeit.
Es ist, glaube ich, ein Geräusch, das mich aufblicken lässt – vielleicht aber auch nicht! So was weiß man ja oft nach einer Sekunde gar nicht mehr – und ganz bestimmt werde ich mich später nicht daran erinnern.
Ich blicke jedenfalls auf. Sabine rastet aus. Sie ist eine der Gefährlichsten. Sie schleudert ihren Teller durch die Luft. Er klatscht gegen die Wand. Er war leer. Sie nimmt ihren Becher in die Hand. Ich lege meine Zigarette in den Aschenbecher, mache sie nicht aus. Als Zivi verdient man nicht so viel.
Ihr Becher fliegt durch die Gruppe. Ich gehe in Richtung Terrassentür. Sie bewegt sich auf einen der anderen Bewohner zu, der in seinem Sessel döst. Man müsste meinen der Krach weckt ihn auf. Er ist taub. Ich erreiche die Tür und öffne sie. Sabine braucht sehr viel länger für die paar Meter zu dem anderen Bewohner. Sie schwankt sehr stark. Bei der Dosis Medikamente, die sie jeden Tag einnehmen muss, ist das kein Wunder. Ich betrete den Aufenthaltsraum der Gruppe.
Aus dem Büro kommt Anja. Sie hat heute mit mir zusammen Dienst. Sie ist noch relativ junge. 35 vielleicht. Der Typ der nicht alt werden kann und bei 29 aufhört Geburtstage zu feiern. Aber sie ist wirklich in Ordnung. Mit ihr ist der Dienst absolut erträglich.
Wir blicken uns nur kurz an. Worte sind eigentlich nicht nötig.
„Time-Out!“ Sagt sie. Es gibt die Möglichkeit für Psychos eine Wegschließerlaubnis bei einem Richter zu erhalten. Man darf sie dann, unter strengen Auflagen und nur für bestimmte Zeiträume, in ihr Zimmer einschließen, damit sie die Möglichkeit erhalten sich zu beruhigen und um zu verhindern, dass sie sich und andere verletzten. Das nennt man dann „Time-Out“. Zumindest nennen wir das so. Wie der offizielle Sprachgebrauch ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen.
Sabine erreicht den Bewohner, holt aus und verpasst ihm eine Ohrfeige. Dies alles geschieht, bevor wir sie erreichen können. Der Bewohner springt auf und rennt aus dem Raum, verlässt die Szenerie, wahrscheinlich in sein Zimmer. Später wird er zum Ausgleich eine Süßigkeit oder ein ähnliches Trostpflaster erhalten.
Wir gehen Sabine an. Sie versucht mich zu schlagen. Ich weiche aus und bekomme ihren Arm zu fassen. Anja den anderen. Wir drehen ihr die Arme auf den Rücken. Sie wird augenblicklich ruhiger. Sabine lebt schon seid Jahrzehnten in Psychiatrien und wird auch nie mehr anders Leben können. Ich schätze nach so einer langen Zeit ist das Verdrehen der Arme für sie eine Gewohnheit geworden, die sie daran erinnert, dass sie bald ihre Ruhe hat.
So eingehakt gehen wir mit ihr aus dem Gruppenraum, den Gang runter in Richtung ihres Zimmers, dass dem Wort „karg“ eine vollkommen neue Bedeutung verleiht: Das Zimmer ist, wenn man so will, Psycho-gerecht.
Wir öffnen die Tür und bringen die zum Bett. Sie setzt sich bereitwillig hin. Jetzt nur noch ihre Schuhe. Denn tatsächlich sind sie die einzigen Gegenstände in diesem Zimmer, die man schleudern könnte. Es sind Sandalen. Anja bückt sich und zieht sie ihr schnell von den Füssen.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass wir die ganze Zeit über lautstark beschimpft werden und dabei gleichzeitig beruhigend auf Sabine einplappern. Allerdings sind das alles Phrasen, die man weder richtig wahrnimmt noch sich in irgendeiner Form merkt. Die ganze Situation ist mehr wie das Erfüllen einer vorgegeben Rolle und dazu gehört eben das Plappern.
Wie auch immer: Wir haben ihre Schuhe und begeben uns in Richtung Tür. Dabei wenden wir ihr nie beide gleichzeitig den Rücken zu. Wir sind an der Tür. Sabine ist ganz ruhig. Fast flüsternd bittet sie Anja darum noch mal an das Bett zu treten. So etwas tut man dann für gewöhnlich. Meistens kommen dann Fragen wie: „Hast du mich noch lieb?“
Dann sagt man: „Ja!“
Obwohl man das pädagogisch gesehen nicht sagen sollte, sondern eher: „Ich mag dich gerne leiden!“
Heute ist das sowieso egal, denn als Anja an Sabines Bett getreten ist spuckt diese sie an, verkrallt sich in ihre Haare und kratzt sie gleichzeitig mit der anderen Hand am Arm. Die Sandalen, die Anja noch in der Hand hielt fallen zu Bode. So etwas ist wirklich sehr nervig.
Ich springe wieder in das Zimmer.
Mühsam müssen wir einen Finger nach dem anderen aus den Haaren lösen und gleichzeitig aufpassen nicht geschlagen oder von Spucke (ein erschreckend harmloses Wort für das fieseste, was einem entgegengeschleudert werden kann) getroffen zu werden. Es dauert Sekunden dann haben wir Anjas Haare frei. Ich trete zurück, bleibe aber angespannt. Anja hebt die Sandalen wieder auf und schlägt damit auf Sabine ein. Einmal, zweimal, dreimal, viermal – die Hand mit den Schuhen fliegt auf und nieder.
„Du bist doch eine blöde Kuh!“ Ruft Anja aus. Jetzt, wo ich dies geschrieben sehe, erscheint es mir verblüffend harmlos. Aber sie sagt es nun einmal.
Dann Sekunden später sind wir aus dem Zimmer heraus. Anja schließt ab. Sabine brüllt uns durch die Tür Beschimpfungen hinterher. Anja stapft ins Büro. Time-Out muss dokumentiert werden, das wird sie jetzt tun.
Ich gehe wieder raus auf die Terrasse. Es ist immer noch kalt. Meine Zigarette ist abgebrannt. Ich entschließe mich, mir eine neue anzuzünden – heute ist ja Halbzeit.
 

Rainer

Mitglied
hallo adamsmith,

einen interessanten prot hast du dir da gesucht - ich sehe ihn nahezu plastisch vor mir; seine psyche ist hervorragend ausgeleuchtet.

allerdings ist mir die intention deines textes nicht ganz klar: wenn du den jungen mann sezieren willst, dann ist mir das ganz drumherum (zigarette, halbzeitbetrachtungen, "time-out" etc.) zu viel für eine kurzgeschichte. geht es dir aber um die zustände in den psychatrien und den einsatz von zivis dort, dann ist mir zu viel psychologische klischeehaftigkeit dabei; zu viele erklärungen der befindlichkeiten deines prot.
würdest du es mir bitte erklären?

vielleicht würde alles auch anders wirken, wenn der text in inhaltliche abschnitte aufgeteilt wäre; so als großer block erschlägt es mich :)

viele grüße

rainer
 

AdamSmith

Mitglied
Hallo Rainer,
vielen Dank für deine Kritik!

Es geht mir nicht um eine Kritik (Zivis, Psychatrien). Es geht mir um die Psyche des jungen Mannes. Er wirft sich vor die Bewohnerin geschlagen zu haben, obwohl das so ja anscheinend irgendwie üblich ist. Das Ganze passiert an einem sehr freudigen Tag: Der Halbzeit! Was für eine gewisse Ironie sorgen sollte.

Alles andere habe ich vor allem hinein gepackt um nicht der Kritik ausgesetzt zu werden: "Unrealistisch", "so ist das ja gar nicht wirklich" und so weiter. Dabei habe ich es wohl übertrieben und so ist das Ganze viel zu lang geworden.

Ich werde die Geschichte noch einmal überarbeiten.

Liebe Grüße
Adam
 



 
Oben Unten