Hallo, Oma?

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xavia

Mitglied
[ 5]Agathe sitzt am Fenster im ersten Stock und blickt hinaus. Ihre Hände hat sie im Schoß gefaltet. Seit einigen Jahren ist ihr das Stricken zu beschwerlich geworden und die Freude über selbst gestrickte Strümpfe hat im Kreise ihrer Lieben ohnehin mit der Zeit deutlich abgenommen. Unten hält ein Bus, Menschen steigen aus, andere steigen ein. Sie sieht gerne dabei zu, lieber als im Fernsehen Meldungen über die neuesten Katastrophen zu ertragen. Einige von ihnen kennt sie nun schon vom Kommen und Gehen. Schön wäre es, wenn ihre Tochter Karin oder ihre Enkelin Sabrina oder gar alle beide aus dem Bus aussteigen würden, um sie zu besuchen. Man darf ja träumen … Beide sind sehr beschäftigt und kommen nur selten zu ihr ins Seniorenheim. – Das Telfon klingelt. Freudig nimmt sie den Hörer ab:

[ 5]»Hallo Oma? Hier ist Sabrina.«

[ 5]»Oh, wie schön, mein Kind, dass du mich anrufst! Es ist so einsam hier. Ich freue mich, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?«

[ 5]»Gut. Ich habe für die Schule ein Stück mit der Blockflöte geübt. Soll ich es dir vorspielen?«

[ 5]»Ja, tu das, bitte.«

[ 5]Aus dem Hörer erklingen längere Zeit Blockflötentöne, hier und da stockt das Spiel und wiederholt eine Stelle, in der ein falscher Ton war.

[ 5]»Möchtest du es noch mal hören?«

[ 5]»Lieber nicht, du musst noch ein wenig üben, aber klingt schon sehr schön.«

[ 5]»Ja oder nein? Ich kann die Wahrheit ertragen, hahaha.«

[ 5]»Nein, mein Kind, für heute ist es genug Musik gewesen. Es ist ein langes Stück. Spielst du das nach Noten?«

[ 5]»Ach, lass' uns lieber von dir reden. Wie geht es dir, Oma?«

[ 5]Agathe berichtet detailliert über ihre kleinen und größeren Wehwehchen und über diese und jene Begebenheit bei ihren Bekannten im Seniorenheim, in den Sprechpausen ermuntert durch das eine oder andere »Ach ja?« und »So, so«.

[ 5]»Ich hoffe, dass sich alles zum Guten wendet und wünsche dir gute Besserung, Oma. Erzählst du mir was von früher? Wo du Opa kennengelernt hast?«

[ 5]Das tut Agathe gern. Sie staunt, wie oft das Kind sich diese alten Geschichten anhören mag. Sie selbst erzählt sie immer wieder gerne, weil sie dann in Gedanken in ihre Jugend zurückreisen und glückliche Zeiten wieder erleben kann.

[ 5]»Das war schön, danke, Oma. Hoffentlich finde ich auch mal so einen lieben Mann. Ich muss jetzt Schluss machen, muss noch Hausaufgaben machen. Mittwoch bekommen wir einen Aufsatz wieder, dann rufe ich dich an und lese ihn dir vor, falls du ihn hören willst.«

[ 5]»Tu das, mein Kind. Ich freue mich darauf. Und viele Grüße an Mutti und Vati.«

[ 5]»Danke, ich soll auch grüßen. Tschühüs!«

[ 5]Lächelnd sitzt Agathe da und sieht verträumt zu dem Streifen Himmel hinauf, den sie über den Häusern gegenüber noch sehen kann. Er ist blau, mit dicken weißen Wolken. Sie Sonne scheint dazwischen hindurch und die Häuser werfen Schatten auf die Straße. In letzter Zeit ruft Sabrina ziemlich oft an, das ist schön. Das liebe Kind hört sich immer ganz geduldig an, was sie, Agathe, so auf dem Herzen hat. Ungewöhnlich für eine Vierzehnjährige. Karin ist nie geduldig mir ihr gewesen. Immer gehetzt, immer unkonzentriert.

»*«​

[ 5]Sabrina schreibt ihren Hausaufsatz fertig. Dann schaltet sie das Mikro ihres Laptops ein und liest ihn vor. Anschließend gibt sie »Aufsatz« ein und klickt »Speichern«. Dann sagt sie deutlich »Aufsatz« ins Mikro, klickt noch einmal »Speichern« und schaltet sie alles aus. Ihre Freundin Mona rollt mit den Augen. Sie findet es aufwändig, das alles aufzunehmen und abzuspeichern.

[ 5]»Es ist wirklich praktisch«, versichert Sabrina ihr, »es macht total Spaß, sich zu überlegen, was ich alles brauche an Aufnahmen. Und wie ich sie verwalte. Obwohl ich erst seit Beginn des Schuljahres an diesem Projekt arbeite, hat Oma noch nicht ein einziges Mal gestutzt.«

[ 5]»Woher willst du das denn wissen, wenn du nicht mehr selbst mit ihr redest?« überlegt Mona.

[ 5]»Ich nehme alles auf, was sie sagt. Höre mir die Anfänge und die Enden an. Wenn es lang ist, interessiert das dazwischen eh nicht. Wenn sie stutzen würde, dann gäbe es dahinter eine Pause. Aber es gibt keine Pausen. Sobald sie nichts hört, redet sie.«

[ 5]Wirklich überzeugt ist Mona nicht. Sie findet es gemein, wenn ein Programm mit der Oma redet.

[ 5]»Wie oft rufst du deine Oma an?« fragt Sabrina provokativ.

[ 5]Da muss sie zugeben, dass ihre Oma oft wochenlang auf einen Anruf warten muss und sich schon öfters darüber beklagt hat. Mona hat meistens keine Lust, sich Geschichten über alte Leute anzuhören oder gar über Krankheiten, schon gar nicht über kranke alte Leute. Sie hat ihre Oma wirklich lieb, aber das Leben ist so viel interessanter.

[ 5]»Siehst du. Was ich Oma sagen will, das nehme ich auf und dann brauche ich nicht so lange zu warten, bis ich zu Wort komme, sondern weiß, dass mein Programm das genau in die richtigen Lücken einbaut. So bin ich nicht genervt und Oma ist auch zufrieden.«

[ 5]Überzeugt ist Mona nicht. Es fühlt sich irgendwie falsch an. Aber sie hat kein gutes Argument dagegen, nimmt sich vor, ihre Oma bald mal wieder anzurufen.

»*« Acht Jahre später »*«​

Sabrina trägt einen dunkelroten Blazer zur schwarzen Jeans und schwarzem Oberteil, hat ihr blondes langes Haar zu einem Knoten gesteckt und blickt gelassen in die Runde. Da sitzen Timo, Robert, Tobias und Jens, Jungunternehmer in einer Software-Firma, in der sie künftig arbeiten will. Ihre Präsentation kommt ohne Folien aus, Sabrina will durch Originalität überzeugen. Sie stellt ihre neue App vor, erläutert die bahnbrechende Geschäftsidee: Jeder kann sich virtuelle Enkelkinder, Kinder, Partner oder Partnerinnen herunterladen und mit denen per Telefon kommunizieren. Aber auch Beiträge realer Personen können auf dem Server gespeichert werden, so dass diese ihre sozialen Kontakte, was den Telefon-Kontakt angeht, von Sabrinas App erledigen lassen können.

[ 5]»Ich habe die Sprach-Erkennung inzwischen so weit verbessert, dass die App sehr gezielt reagieren kann. Sie kann sogar aus Textbausteinen Beiträge zusammensetzen, wenngleich der Teil noch verbessert werden könnte, die Betonung ist, ähnlich wie bei Navigationssystemen, oft ein wenig künstlich. Der Anrufbeantworter, der verdient seinen Namen wirklich, der beantwortet Anrufe und sammelt sie nicht einfach nur.«

[ 5]Timos Smartphone meldet sich. Seine neue Freundin.

[ 5]»Liebling, das ist jetzt im Moment ziemlich unpassend, ich bin in einer Sitzung.«

[ 5]Aus dem Smartphone tönt empörtes Schimpfen. Nach einer Weile versucht er, sich wieder einzuklinken, aber es gelingt ihm erst beim zweiten Versuch.

[ 5]»Ja, mein Schatz, das sehe ich ein. Aber jetzt kann ich ohnehin nichts tun, hier können ja alle mithören. Ich rufe dich nachher wieder an.«

[ 5]Sabrina freut sich: Besser konnte es ja gar nicht laufen. Gut, dass sie ihrer Freundin Mona gesagt hatte, wann diese ihre neue Eroberung Timo anrufen sollte. Beziehungen sind alles. Nicht nur sie, sondern auch die anderen drei gucken auf Timo, dem das Ganze sichtlich peinlich ist.

[ 5]»Das ist einer meiner Anwendungsfälle«, lässt Sabrina die jungen Männer wissen. In diesem Fall hätte mein Programm deine Freundin mit Geduld und Liebesbekundungen besänftigt, nach einer angemessenen Zeit einen Rückruf angekündigt und aufgelegt. Begeistertes Gemurmel im Publikum. Sabrina weiß, dass sie gewonnen hat. Sie wird ein Teil dieses Unternehmens werden und hier ihre App vervollkommnen können. Sie hat noch viele Ideen: Virtuelle Geschenke für die virtuellen Personen, natürlich für reales Geld. Gespräche über diese virtuellen Geschenke. Video-Aufnahmen, …

[ 5]Als sie das Gebäude verlässt, brennt sie darauf, ihrem Liebsten von diesem grandiosen Erfolg zu berichten:

[ 5]»Hallo Süßer, ich bin's. Es lief wie am Schnürchen, …«

[ 5]Sie berichtet begeistert von der Präsentation, aber nach einer Weile kommen ihr seine Ach-jas und So-sos irgendwie bekannt vor: »Sag' mal, bist du überhaupt echt? Hast du etwa meine App installiert?«

[ 5]»Warum sagst du sowas zu mir, weißt du denn nicht, dass ich dich liebe?« ist die Antwort.

[ 5]»Tu' mir den Gefallen und zähl' mal von Dreißig rückwärts in Viererschritten«, will Sabrina ihn testen.

[ 5]»Was ist nur los mit dir? Du verletzt meine Gefühle. Bin ich nicht immer ein aufmerkamer Partner für dich? Das habe ich nun wirklich nicht verdient …«
 

Soean

Mitglied
Hallo Xavia,

wer andeern eine Grube gräbt, hat ein Grubengrabgerät. Nur sollte man dies nicht weitergeben, da man sonst selbst drauf reinfällt.

Zu Deinem Schreibstil möchte ich garnicht so wirklich viel sagen. Es ist einfach geschrieben und das mag ich. Der Inhalt ist einfach toll:

Erst habe ich mich für Agathe gefreut, welch eine tolle Enkelin sie hat. DAnach war ich über Sabrina erzürnt...Wie kan nsie nur. Ich erinnerte mich direkt an eigene Erfahrungen zu dem Thema...Mir ist es fast peinlich, dass ich Sabrina sogar ein wenig verstehen kann. Nur die Ausführung dessen, kann ich nciht nachvollziehen und macht Sabrina Gefühlskalt. So Gefühlskalt, dass ich sie heimlich beim Lesen ausglacht habe, als ausgerechnet Ihr Freund ihr mit Ihrer eigenen App antwortet. TOLL! Fantastisch! Erinnert mich ein wenig an Evelyn Hamann. Sie hätte diese Rolle ganz toll spielen können!

Liebe Grüße, Sören
 

xavia

Mitglied
Hallo Soean, danke für die anschauliche Schilderung deines Erlebens beim Lesen der Geschichte! Das ist so schön, dass die Geschichte das auslösen konnte: Solche Leser wünscht man sich! LG Xavia.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Xavia,

auch wenn das Ende etwas vorhersehbar war, so habe ich Deine Geschichte gerne gelesen. Trauriges Thema eigentlich!

Viele Grüße,
DS
 

xavia

Mitglied
Ja, DS, traurig finde ich das auch. Aber als es mir eingefallen ist, konnte ich nicht widerstehen, es aufzuschreiben, auch wenn mir nicht mehr als Pointe eingefallen ist. Eine Wendung zum Guten, die mir als Ende normalerweise vorschwebt, sehe ich da nicht. Es ist wohl der Lauf der Zeit. LG Xavia.
 

Soean

Mitglied
Hallo DS, hallo Xavia,

ja, der Lauf der Zeit. Leider entwickelt sich unsere Gesellschaft dahin. Ob es jemals eine solche App gibt (vielleicht gibt es sie ja schon) hoffe ich, zu recht bezweifeln zu dürfen. Aber die Geschichte unterstreicht eine gewisse Faulheit, dem Alter gegenüber.
 

FrankK

Mitglied
Hallo, xavia
Eine bedrückende Geschichte.
Dass "Oma" als Versuchskaninchen herhalten musste, schmälert die Qualität nicht. Die Familie ist üblicherweile die erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, jemanden mit den textuellen Hervorbringungen zu martern. Testleser sind oftmals einer gewissen Pein ausgesetzt. ;)

Eine Wendung zum Guten, die mir als Ende normalerweise vorschwebt, sehe ich da nicht.
Ohh - möglich wäre es schon.
Lass den Freund einfach persönlich auftauchen, mit einem Blumenstrauß in der Hand und lachend kommentieren: "Stell deine App auf Automatik, dann können sich unsere Telefone unterhalten und wir hätten endlich mal wieder etwas Zeit für uns! Mir ist nach `nem Eis - dir auch?"


Kennst Du das berühmte Schild aus einem Straßencafe?

Wir haben
kein
W-Lan!
Unterhaltet
euch!
Quelle: https://steinfisch.files.wordpress.com/2016/06/p2480439.jpg?w=768


Herzlich Grüßend
Frank
 

xavia

Mitglied
Hallo Frank,

das ist eine tolle Idee mit dem Eis und das Schild finde ich auch sehr witzig, kannte ich nicht und hätte spontan Lust, das ans Ende zu setzen, weil es die fehlende Wendung zum befreienden Lachen bringt. Aber etwas widerstrebt mir dabei und das ist der Grund, warum ich diese Geschichte geschrieben habe:

Die Oma tut es vielleicht nicht absichtlich, ist inzwischen geistig nicht mehr so auf der Höhe, aber auch andere Menschen sind oft so unsensibel darin, zu entscheiden, wie lange man Zeuge sein will von Mitteilungen, die einem in dieser Ausführlichkeit nicht gefallen, zumal man sie schon kennt und diese Mitteilung den einzigen Zweck hat, dass der oder die Redende eine Situation noch einmal erleben kann, die ihm oder ihr am Herzen liegt. Diese andere Seite der Geschichte wollte ich durch das Ende deutlich machen. Ist allerdings keine typische Situation dafür.

Vielleicht sollte ich da etwas ausführlicher werden. Diese App ist ja nicht nur schlecht, die erlaubt doch den »Opfern«, sich in Ruhe mitzuteilen, ohne damit jemanden zu quälen.

Beim Testlesen ist es, finde ich, etwas anderes: Da hat der Leser eine ganz wichtige Funktion und große Dankbarkeit gebührt ihm dafür und er bekommt sie hoffentlich. Da ist ja eine Meinung gefragt und es wird diskutiert.

Ein Freund von mir ruft jeden Tag seine alte Mutter an und die redet und redet und oft verpasst er den Moment, wo er »Ach ja?« oder »Na sowas!« sagen muss, weil es wirklich lange dauert und dann ist sie ärgerlich.

Es ist die fehlende Achtsamkeit von beiden Seiten, was mich bedrückt.

LG Xavia.
 

molly

Mitglied
Hallo Xavia,

Du schreibst:
"Diese App ist ja nicht nur schlecht, die erlaubt doch den »Opfern«, sich in Ruhe mitzuteilen, ohne damit jemanden zu quälen."

So gesehen finde ich "diese App" doppelt schlecht. Ist es tatsächlich eine Qual mit der alten Mutter zu sprechen und mag sie wirklich immer wieder die gleiche Geschichte von früher erzählen?
Muss der "arme" Freund jeden Tag telefonieren? Besucht er sie so wenig?

Franks Ende finde ich richtig schön, zeigt, dass die beste App nicht den Menschen ersetzen kann.


Viele Grüße

molly (ich bin Oma!)
 

xavia

Mitglied
Hallo Molly,

ich hatte eine Oma, da hätte ich keine Minute missen wollen, in der ich mit ihr reden konnte. Nie und nimmer hätte ich eine App benutzt. Aber ich habe eine Mutter, die ist meistens schwer zu ertragen und das liegt nicht an Demenz. Und die Mutter des Freundes, die ich vorhin erwähnt habe, ist noch schlimmer, die erwartet diesen täglichen Anruf. Es gibt halt sone und solche.

Ich gebe zu, ich muss aufpassen, selbst keines der Negativ-Beispiele zu werden. Es liegt wohl in den Genen, sich gerne reden zu hören und zu vergessen, nachzuschaun, ob noch jemand zuhören will.

In meiner Geschichte habe ich mir nicht vorgestellt, dass Sabrinas Freund die App ernsthaft gegen sie verwendet, ich fand das einfach lustig für den Schluss, hatte mir gedacht, dass er ja wusste, dass sie bei dem Vorstellungsgespräch ist und sich einen Scherz mit ihr erlaubt hat.

LA Xavia.
 

xavia

Mitglied
[ 5]Agathe sitzt am Fenster im ersten Stock und blickt hinaus. Ihre Hände hat sie im Schoß gefaltet. Seit einigen Jahren ist ihr das Stricken zu beschwerlich geworden und die Freude über selbst gestrickte Strümpfe hat im Kreise ihrer Lieben ohnehin mit der Zeit deutlich abgenommen. Unten hält ein Bus, Menschen steigen aus, andere steigen ein. Sie sieht gerne dabei zu, lieber als im Fernsehen Meldungen über die neuesten Katastrophen zu ertragen. Einige von ihnen kennt sie nun schon vom Kommen und Gehen. Schön wäre es, wenn ihre Tochter Karin oder ihre Enkelin Sabrina oder gar alle beide aus dem Bus aussteigen würden, um sie zu besuchen. Man darf ja träumen … Beide sind sehr beschäftigt und kommen nur selten zu ihr ins Seniorenheim. – Das Telfon klingelt. Freudig nimmt sie den Hörer ab:

[ 5]»Hallo Oma? Hier ist Sabrina.«

[ 5]»Oh, wie schön, mein Kind, dass du mich anrufst! Es ist so einsam hier. Ich freue mich, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?«

[ 5]»Gut. Ich habe für die Schule ein Stück mit der Blockflöte geübt. Soll ich es dir vorspielen?«

[ 5]»Ja, tu das, bitte.«

[ 5]Aus dem Hörer erklingen längere Zeit Blockflötentöne, hier und da stockt das Spiel und wiederholt eine Stelle, in der ein falscher Ton war.

[ 5]»Möchtest du es noch mal hören?«

[ 5]»Lieber nicht, du musst noch ein wenig üben, aber klingt schon sehr schön.«

[ 5]»Ja oder nein? Ich kann die Wahrheit ertragen, hahaha.«

[ 5]»Nein, mein Kind, für heute ist es genug Musik gewesen. Es ist ein langes Stück. Spielst du das nach Noten?«

[ 5]»Ach, lass' uns lieber von dir reden. Wie geht es dir, Oma?«

[ 5]Agathe berichtet detailliert über ihre kleinen und größeren Wehwehchen und über diese und jene Begebenheit bei ihren Bekannten im Seniorenheim, in den Sprechpausen ermuntert durch das eine oder andere »Ach ja?« und »So, so«.

[ 5]»Ich hoffe, dass sich alles zum Guten wendet und wünsche dir gute Besserung, Oma. Erzählst du mir was von früher? Wo du Opa kennengelernt hast?«

[ 5]Das tut Agathe gern. Sie staunt, wie oft das Kind sich diese alten Geschichten anhören mag. Sie selbst erzählt sie immer wieder gerne, weil sie dann in Gedanken in ihre Jugend zurückreisen und glückliche Zeiten wieder erleben kann.

[ 5]»Das war schön, danke, Oma. Hoffentlich finde ich auch mal so einen lieben Mann. Ich muss jetzt Schluss machen, muss noch Hausaufgaben machen. Mittwoch bekommen wir einen Aufsatz wieder, dann rufe ich dich an und lese ihn dir vor, falls du ihn hören willst.«

[ 5]»Tu das, mein Kind. Ich freue mich darauf. Und viele Grüße an Mutti und Vati.«

[ 5]»Danke, ich soll auch grüßen. Tschühüs!«

[ 5]Lächelnd sitzt Agathe da und sieht verträumt zu dem Streifen Himmel hinauf, den sie über den Häusern gegenüber noch sehen kann. Er ist blau, mit dicken weißen Wolken. Sie Sonne scheint dazwischen hindurch und die Häuser werfen Schatten auf die Straße. In letzter Zeit ruft Sabrina ziemlich oft an, das ist schön. Das liebe Kind hört sich immer ganz geduldig an, was sie, Agathe, so auf dem Herzen hat. Ungewöhnlich für eine Vierzehnjährige. Karin ist nie geduldig mir ihr gewesen. Immer gehetzt, immer unkonzentriert.

»*«​

[ 5]Sabrina schreibt ihren Hausaufsatz fertig. Dann schaltet sie das Mikro ihres Laptops ein und liest ihn vor. Anschließend gibt sie »Aufsatz« ein und klickt »Speichern«. Dann sagt sie deutlich »Aufsatz« ins Mikro, klickt noch einmal »Speichern«, danach schaltet sie alles aus. Ihre Freundin Mona rollt mit den Augen. Sie findet es aufwändig, das alles aufzunehmen und abzuspeichern.

[ 5]»Es ist wirklich praktisch«, versichert Sabrina ihr, »es macht total Spaß, sich zu überlegen, was ich alles brauche an Aufnahmen. Und wie ich sie verwalte. Obwohl ich schon seit Beginn des Schuljahres an diesem Projekt arbeite, hat Oma noch nicht ein einziges Mal gestutzt.«

[ 5]»Woher willst du das denn wissen, wenn du nicht mehr selbst mit ihr redest?« überlegt Mona.

[ 5]»Ich nehme alles auf, was sie sagt. Höre mir die Anfänge und die Enden an. Wenn es lang ist, interessiert das dazwischen eh nicht. Wenn sie stutzen würde, dann gäbe es dahinter eine Pause. Aber es gibt keine Pausen. Sobald sie nichts hört, redet sie.«

[ 5]Wirklich überzeugt ist Mona nicht. Sie findet es gemein, wenn ein Programm mit der Oma redet.

[ 5]»Wie oft rufst du deine Oma an?« fragt Sabrina provokativ.

[ 5]Da muss sie zugeben, dass ihre Oma oft wochenlang auf einen Anruf warten muss und sich schon öfters darüber beklagt hat. Mona hat meistens keine Lust, sich Geschichten über alte Leute anzuhören oder gar über Krankheiten, schon gar nicht über kranke alte Leute. Sie hat ihre Oma wirklich lieb, aber ihr eigenes Leben ist so viel interessanter und damit kann ihre Oma nicht allzu viel anfangen.

[ 5]»Siehst du. Was ich Oma sagen will, das nehme ich auf und dann brauche ich nicht so lange zu warten, bis ich zu Wort komme, sondern weiß, dass mein Programm das genau in die richtigen Lücken einbaut. So bin ich nicht genervt und Oma ist auch zufrieden.«

[ 5]Überzeugt ist Mona nicht. Es fühlt sich irgendwie falsch an. Aber sie hat kein gutes Argument dagegen, nimmt sich vor, ihre Oma bald mal wieder zu besuchen.

[ 5]Auch Sabrina hat jetzt ein schlechtes Gewissen, wenngleich sie es Mona gegenüber nicht zugibt. Das Projekt wird sie weitermachen, keine Frage. Das fasziniert sie allzu sehr und außerdem ist es ja für den Informatik-Unterricht. Aber morgen, wenn sie mit ihrer Mutter in der Stadt ist, wird sie durchsetzen, dass sie auf dem Rückweg bei Oma vorbeifahren.

»*« Acht Jahre später »*«​

Sabrina trägt einen dunkelroten Blazer zu schwarzer Jeans und schwarzem Oberteil, hat ihr blondes langes Haar zu einem Knoten gesteckt und blickt gelassen in die Runde. Da sitzen Timo, Robert, Tobias und Jens, Jungunternehmer in der Software-Firma, in der sie künftig arbeiten will. Ihre Präsentation kommt ohne Folien aus, Sabrina will durch Originalität überzeugen. Sie stellt ihre neue App vor, die sie als Schul-Projekt begonnen und seither weiter entwickelt hat und erläutert die bahnbrechende Geschäftsidee: Jeder kann sich virtuelle Enkelkinder, Kinder, Partner oder Partnerinnen herunterladen und mit denen per Telefon kommunizieren. Aber auch Beiträge realer Personen können auf dem Server gespeichert werden, so dass diese ihre sozialen Kontakte, was den Telefon-Kontakt angeht, von Sabrinas App erledigen lassen können.

[ 5]»Ich habe die Sprach-Erkennung inzwischen so weit verbessert, dass die App sehr gezielt reagieren kann. Sie kann sogar aus Textbausteinen Beiträge zusammensetzen, wenngleich der Teil noch verbessert werden sollte: Die Betonung ist, ähnlich wie bei Navigationssystemen, oft ein wenig künstlich. Aber der Anrufbeantworter, der verdient seinen Namen wirklich, der beantwortet Anrufe und sammelt sie nicht einfach nur.«

[ 5]Timos Smartphone meldet sich. Seine neue Freundin.

[ 5]»Liebling, das ist jetzt im Moment ziemlich unpassend, ich bin in einer Sitzung.«

[ 5]Aus dem Smartphone tönt empörtes Schimpfen. Nach einer Weile versucht er, sich wieder einzuklinken, aber es gelingt ihm erst beim zweiten Versuch.

[ 5]»Ja, mein Schatz, das sehe ich ein. Aber jetzt kann ich ohnehin nichts tun, hier können ja alle mithören. Ich rufe dich nachher wieder an.«

[ 5]Sabrina freut sich: Besser konnte es ja gar nicht laufen. Gut, dass sie ihrer Freundin Mona gesagt hatte, wann diese ihre neue Eroberung Timo anrufen sollte. Beziehungen sind alles. Nicht nur sie, sondern auch die anderen drei gucken auf Timo, dem das Ganze sichtlich peinlich ist.

[ 5]»Das ist einer meiner Anwendungsfälle«, lässt Sabrina die jungen Männer wissen. In diesem Fall hätte mein Programm deine Freundin mit Geduld und Liebesbekundungen besänftigt, nach einer angemessenen Zeit einen Rückruf angekündigt und aufgelegt. Begeistertes Gemurmel im Publikum. Sabrina weiß, dass sie gewonnen hat. Sie wird ein Teil dieses Unternehmens werden und hier ihre App vervollkommnen können. Sie hat noch viele Ideen: Virtuelle Geschenke für die virtuellen Personen, natürlich für reales Geld. Gespräche über diese virtuellen Geschenke. Video-Aufnahmen, …

[ 5]Als sie das Gebäude verlässt, brennt sie darauf, ihrem Liebsten von diesem grandiosen Erfolg zu berichten:

[ 5]»Hallo Süßer, ich bin's. Es lief wie am Schnürchen, …«

[ 5]Sie berichtet begeistert von der Präsentation, aber nach einer Weile kommen ihr seine Ach-jas und So-sos irgendwie bekannt vor: »Sag' mal, bist du überhaupt echt? Hast du etwa meine App installiert?«

[ 5]»Warum sagst du sowas zu mir, weißt du denn nicht, dass ich dich liebe?« ist die Antwort.

[ 5]»Tu' mir den Gefallen und zähl' mal von Dreißig rückwärts in Viererschritten«, will Sabrina ihn testen.

[ 5]»Was ist nur los mit dir? Du verletzt meine Gefühle. Bin ich nicht immer ein aufmerksamer Partner für dich? Das habe ich nun wirklich nicht verdient …«

[ 5]Sabrina legt grußlos auf und fährt nachdenklich heim: Was hat sie da nur angerichtet? – Hätte sie es nicht getan, hätte es jemand anderer gemacht. – Aber kann man damit nicht letztendlich alles entschuldigen? – Wo ist die Grenze?

[ 5]Als sie die Wohnungstür aufgeschlossen hat steht ein großer Strauß roter Rosen vor ihr, mit den Beinen von Frank darunter. Hinter den Blumen erklingt eine gespielte Roboterstimme:

[ 5]Lieb-ling stell dei-ne App auf Au-to-ma-tik dann un-ter-hal-ten sich un-se-re Han-dys und wir ha-ben Zeit für uns! Sein lachendes Gesicht erscheint über dem Blumenstrauß: »Ich gratuliere dir zum neuen Job! Wie wär's mit einem Eis?«

[ 5]Schnell sind die Blumen in einer Vase untergebracht und als die beiden Verliebten das Schild neben dem Eiscafé sehen, können sie sich vor Lachen kaum halten:


[ 5]Für heute ist das Thema vom Tisch, aber Sabrina wird nicht umhin können, weiter darüber nachzudenken.
 
A

Alberta

Gast
Hallo @xavia, Deine Kurzgeschichte hat mir ä- trotz der gruseligen Vorstellung einer automatisierten Kommunikation - sehr gut gefallen, ich könnte mir auch solche einen Schluss vorstellen: Er steht vor ihr, mit roten Rosen in der Hand, wirkt auf einmal sehr verlegen, als er sagt: "Mein Akku ist leer - wir müssen reden...!"

Lieben Gruß,
Alberta
 

xavia

Mitglied
Liebe Alberta,

ja, das ist auch ein schöner Schluss! Da kann seine Roboter-Stimme langsam ersterben und dann kommt der echte Liebste wieder zum Vorschein :)

Ich finde es schön, dass es viele Möglichkeiten gibt, dachte ich doch, es gäbe keine für einen erfreulichen Schluss.

LG Xavia.
 



 
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