Hallo Fremder

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Als der Fremde zum Tor von Cresotanien kam, saß da ein Greis auf einem Holzschemel, das Gesicht müde, gezeichnet von vielen Entbehrungen, aber die Augen wach und konzentriert. Etwas mühsam erhob er sich und sprach mit monotoner, doch zugleich eindringlicher Stimme auf den Fremden ein.

Hallo Fremder, was immer du Großartiges von Cresotanien gehört hast, glaub es nicht / Denn es sind alles Lügen, die gezielt verbreitet werden, um Leute wie dich anzulocken / Und wenn du hier durch das Eingangstor von Cresotanien blickst / Traue nicht mehr Deinen Sinnen, traue nicht deinem Verstand, ja traue nicht einmal Deinem inneren Gefühl / Wisse, Cresotoanien ist wie eine Fata Morgana / Es gaukelt dir vor, ein himmlischer Ort zu sein / Doch ich muss dich warnen / Cresotanien ist ein gefährliches Land, Fremder / Es verwöhnt Dich mit den erlesensten Genüssen / Mit allen sinnlichen Reizen / Mit emotionalem Entzücken / Mit scheinbar erleuchteten Erkenntnissen / Es schmeichelt Deiner Eitelkeit / Du fühlst dich vollkommen geliebt und umsorgt / Und Du erlebst eine unvorstellbare Süße Deines gesamten Seins / Bis Du dem Gift von Cresotanien verfallen bist / Dann beginnt für Dich eine endlose Qual / Plötzlich wird Dir der ganze Reichtum, das ganze Glück entzogen / Du stehst nackt und arm da / Ausgebrannt und leer / Die Schmerzen des Entzugs peinigen Deinen Körper/ Und deine Seele / Du bist halb wahnsinnig vor Sehnsucht nach der Süße der vergangenen Stunden / Aber je mehr Du Dich gegen das Entsetzen wehrst, desto schlimmer wird es / Fremder, ich warne Dich noch einmal / Gehe nicht nach Cresotanien / Sei standhaft / Denn Du würdest nie wieder zurückkommen / Ich bin einiger der ganz wenigen, die es geschafft haben / Und schau mich an / Ich bin nur noch eine Ruine / Ich habe das Entsetzen über mir zusammenbrechen lassen / Ich bin durch die erbarmungslose Wüste hindurchgegangen / Sie hat mich nicht zurückbehalten / Aber sie hat einen Zerstörten wieder freigegeben / Fremder, ich bitte Dich / Überschreite nicht die Schwelle / Sondern fliehe vor Cresotanien / Fliehe, solange Du noch kannst / Tausende leben dort in ständiger entsetzlichster Qual / Jeden Tag, jede Stunde, ja jede Minute flehen sie, sterben zu dürfen / Nur sterben zu dürfen / Das ist alles, was sie noch wollen / Sie wissen, dass sie ohnehin nie mehr frei leben könnten / Aber sie dürfen nicht sterben / Sie müssen leiden / Denn Cresotanien lebt von ihrem Leiden / Das ist die Energie, die dieses furchtbare Land braucht, um zu existieren / Gäbe es keinen Leidenden mehr in Cresotanien, würde das Land innerhalb einer Sekunde in Asche zerfallen / Fremder, ich habe Angst um Dich / Ich sehe die Gier in Deinen Augen / Fremder, vertraue mir doch / Überschreite nicht die Grenze / Suche nicht nach dem trügerischen Glück / Glaube mir, Du wirst die kurze Zeit der Süße unendlich teuer bezahlen / Gibt es etwas Schlimmeres, als nicht mehr sterben zu können? / Wenn einem der letzte Fluchtweg versperrt ist / Leb wohl, Fremder / Wir werden uns nie wiedersehen / Ich weiß, Du wirst nicht auf mich hören / Deine Sehnsucht nach der Süße übersteigt alles andere …

Der Greis gab dem Fremden die Hand und ging mit langsamen Schritten davon. Er hatte eine hagere, fast ausgezehrte Gestalt. Man merkte ihm an, dass er seinen geschwächten Körper nur mit äußerster Disziplin und Willensanstrengung aufrecht hielt. Sein weißes, langes Haar wehte im Wind. Nach vielleicht hundert Metern dreht er sich einmal um. Genau in diesem Moment überschritt der Fremde die Schwelle nach Cresotanien. „Dass ich auch ihn nicht retten konnte“, murmelte er. „Adios Fremder.“
 

rothsten

Mitglied
Hallo Stefan,

der Anfang ist ein einziger Satz. Der Fremde und der Greis werden hier vorgestellt und in die Geschichte eingeführt. Ich ließe mir hier mehr Zeit, gäbe den beiden Figuren mehr Raum, schaffte mehr Atmosphäre, ließe sie interagieren etc. Der Greis wird im Abspann zwar noch weiter ausgemalt, aber der Fremde bleibt ein Phantom. Auf den Fremden mag es nicht so sehr ankommen, richtig, aber so völlig leblos ...?

Der folgende Monolog ersetzt die eigentliche Handlung. Das ist sehr gefährlich, denn Dein Text bleibt damit höchst abstrakt. Es wirkt wie eine Warntafel, die an den Toren der Stadt prangt. Schaust Du Dir diese immer genau an? Schaust Du nicht mehr darauf, wie sich die Menschen hinter den Toren verhalten; sind sie entspannt, aufegeregt, in Eile ...? Und warum verhalten sie sich so? Was treibt sie an?

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er schaut auf Andere, um die Lage einschätzen zu können, auch bekannt als Herdentrieb. Mir fehlt hier einfach die Handlung, damit mein Kopfkino startet.

Tipp:
Lies mal Kafkas "Vor dem Gesetz". Dann weisst Du, was ich meine. ;-)

Sind die Schrägstriche gewollt? Hat sowas Psalmhaftes.

lg
 
Hallo rothsten,
danke für deine Hinweise, ich finde sie interessant und verständlich. Nur, mir gefällt der Text auch ganz gut, wie er im Moment ist. Und so ist er eben authentisch.
Wenn ich viele Ratschläge und Formulierungen von anderen übernehme, ist das gar nicht mehr wirklich mein eigener Text. Im Extrem ergeben sich auch Copyright-Probleme.
Dennoch, ich werde über deine Tipps nachdenken und vielleicht bei zukünftigen Texten berücksichtigen.

Viele Grüße
Stefan Sternau
 

molly

Mitglied
Hallo Stefan Sternau,

inzwischen habe ich Dein Märchen ein paar mal gelesen und die Schrägstriche stören mich nicht mehr.

Du beschreibst das Schreckensland Cresotanien, das mit trügerischem Glück von gestillter Sehnsucht und vom ewigem Leben Menschen anlockt. Einer, der diesem Land entfliehen konnte, versucht nun Menschen vor Cresotanien zu warnen.

"Überschreite nicht die Grenze / Suche nicht nach dem trügerischen Glück / Glaube mir, Du wirst die kurze Zeit der Süße unendlich teuer bezahlen / Gibt es etwas Schlimmeres, als nicht mehr sterben zu können? "

Aber welcher Sehnsüchtige wird je auf Warnungen hören, Ratschläge annehmen?

Sehr eindringliche Geschichte

Viele Grüße

molly
 
Hallo molly,

ja, du hast genau die Substanz meines Textes und seine Intention erkannt: Kaum ein Sehnsüchtiger hat die Kraft und den Willen, der existentiellen Verlockung, der unsagbaren Süße zu widerstehen.
Und das ist die Tragik des Greises. Er kennt die furchtbaren Gefahren, er widmet sein ganzes restliches Leben nur dem Versuch, die Sehnsüchtigen abzuhalten, nach Cresotanien zu gehen und dort unterzugehen - aber er scheitert fast immer.
Wie sich dieser Text deuten lässt, dafür will ich keine Vorgaben machen, sondern es der Leserin und dem Leser selbst überlassen.
Ich experimentiere ganz gern beim Schreiben, inhaltlich und auch formal; daher habe ich diesmal mit Schrägstrichen gearbeitet, aber das werde ich bestimmt nicht ständig wiederholen.

Herzliche Grüße Stefan
 
Hallo rothsten,

ich hatte in der Eile ganz vergessen, auf deinen Hinweis auf Kafkas „Vor dem Gesetz“ einzugehen. Ich kenne den Text seit langem und finde ihn sehr eindrucksvoll.
Für die Leser, die den Text nicht kennen, gebe ich eine kurze Zusammenfassung des Inhalts aus Wikipedia:

Kafkas Parabel ‚Vor dem Gesetz‘ „handelt von dem Versuch eines Mannes vom Lande, in das ‚Gesetz‘ (konkret gemeint ist: in das Gerichtsgebäude, Sternau) zu gelangen. Der Mann erfährt von einem Türhüter, der davor steht, dass es möglich sei, aber nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Er wartet darauf, dass ihm der Türhüter Einlass gewährt, ‚Tage und Jahre‘, sein ganzes Leben lang. Er versucht, den Türhüter zu bestechen. Er bittet sogar die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters nach jahrelangem Studium derselben, ihm zu helfen. Aber alles ist vergeblich. Kurz bevor der Mann vom Lande stirbt, fragt er den Türhüter, warum in all den Jahren niemand außer ihm Einlass verlangt hat. Der Türhüter antwortet, dieser Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen. Er werde ihn jetzt schließen.”

Allerdings sehe ich nur geringe, eher äußerliche Parallelen des Inhalts mit meinem Text „Hallo Fremder“. Ich selbst habe aber „Vor dem Gesetz“ herangezogen als Erläuterung für meinen Text „Der Horror-Lektor“.

Viele Grüße
Stefan Sternau
 

rothsten

Mitglied
Stefan, für mich ist Dein Text keine Erzählung, da Handlung, Dialog und Szenenwechsel fehlen. Als Vergleich, wie man auch in aller Kürze sowas lösen kann, machte ich den Hinweis zu Kafka.

Für mich bleibt Dein Text kalt, Begründung siehe oben. Es ist nur eine Meinung - meine.

lg
 



 
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