Harald Hutfeld

Thorin

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Was viele nicht wissen, Harald Hutfeld hat einen fernen Verwandten in Übersee. Sein Name ist mir nicht näher bekannt. Zum besseren Verständnis und um etwaigen Verwechslungen vorzubeugen, sollten wir ihm jedoch einen Namen geben. Nennen wir ihn also einfach ‚James‘.
Böswillige Zungen spötteln, dass sich Harald Hutfeld und sein ferner Verwandter sehr ähnlich sind. Was ich weder abstreiten noch bestätigen kann. Lassen wir es also weiterhin ein Gerücht bleiben. Kein Gerücht hingegen ist, dass Harald Hutfeld ein Rockstar war und zwar von Kindesbeinen an. Das findet alleine schon darin Bestätigung, dass er aus seinen Fingern eher noch das Teufelszeichen, als den Stinkefinger formen konnte. Viele Zweifler halten jedoch nicht ganz zu Unrecht dagegen, dass Harald Hutfeld in seinen Kinderjahren Ministrant gewesen ist. Ja, er ist Ministrant gewesen! Und? Ich kenne Harald Hutfeld und seine Beweggründe! Ich versichere hiermit: er war es nur des Geldes wegen!
Nicht weniger staunte ich darüber, als er trotz niederer Beweggründe sich im Kreise der Ministranten schnurstracks hoch diente. Bald schon erreichte er einen Status, indem er mit privilegierten Aufgaben, wie dem Weihrauchfässchen schwingen, betraut wurde. Dementsprechend befand er sich zwei Besoldungsgruppen höher als der gemeine Kerzenträger. So war die Zeit nur eine kurze, bis er das nötige Geld beisammen hatte, um es im Sportgeschäft gegen einen schwarzlackierten Tennisschläger einzulösen. Dass er trotz des schnellen Aufstiegs während seiner Ministrantenzeit nebenbei auch viele Gemeinheiten begangen hatte – ganz im Sinne eines pre-pubertierenden Rockstars – daran erinnert sich heute kaum noch jemand. Längst vergessen sind die Geschichten, als er ins Weihwasserbecken pinkelte oder dem Geistlichen Urinade aus dem Messkelch trinken lies; und auch über die Geschichte mit dem gekreuzigten Rauhaardackel des Dorfpfarrer legen wir den Deckmantel des Schweigens. Mag ein jeder denken, was er will.

Auch etwas anderes war dieser Zeit eigen: die Erkenntnis über die enge Verwandtschaft des Tennissports zum Heavy Metal: Nicht nur die bis dahin aus dem Tennissport bekannten Schweißbänder fanden Einzug in die Heavy Metal Szene und werden noch heute im konzerttechnischem Schweiße manchen metallischen Angesichts gerne getragen, auch der Tennisschläger diente über Jahrzehnte hinweg als die erste Gitarre vieler Fingerakrobaten. Fälschlicherweise wird heute angenommen, die akustische Gitarre wäre der Vorläufer der elektrischen gewesen. Dies hat sich jedoch kulturhistorisch als Irrtum erwiesen: die E-Gitarre ist die logische Weiterentwicklung des Tennisschlägers. So manche Anekdote aus dem Werdegang gestandener Heavy Metal Gitarristen gibt dafür Beispiel.

Diesen Werdegängen nicht unähnlich war auch der von Harald Hutfeld, welcher im Anschluss an seine gottesfürchtigen Jahre sich der Armee der Pubertierenden anschloss.

Dort warteten bereits die ersten Pickel und das Frauenvolk auf ihn. Zu großen Teilen, so erkannte er erst jetzt, war genau dieses von ihm so abgöttisch verehrte Volk die eigentliche Motivation eines Tages Rockstar werden zu wollen. Jenes Rockstardasein schien ihm unzertrennlich mit dem Erfolg bei Frauen verbunden. In seinen täglichen Phantasien hatte er sich schon unzählige Male dazu hinreißen lassen, hochnäsig von der Bühne zu schreiten, um sich nach vollendetem Konzert die weiblichen Rosinen aus dem Publikum zu picken. Ja, bei all der Träumerei ging er sogar soweit, großspurig zu behaupten, er müsse ‚Ihn‘, aufgrund seines vom vollendeten Konzerte ausgemergelten Körpers, bei anschließenden Aftershow-Parties in den Hotelbetten dieser Welt beim Frauenvolke nur noch reinhängen lassen.

So schritt seine Jugend voran und hinterließ in Haralds‘ Leben nachhaltige Spuren. Harald war eifrig. Während seine Dorfkumpanen einen auf großen Max in den Diskotheken machten, saß er nächtelang strebsam in seiner Stube und übte an der Gitarre. Dieser Umstand war nur eine Ursache seines zunehmenden Frauenproblems. Ferner lag es an seiner Haarpracht, welche er der damaligen Zeit gemäß, vorne kurz und hinten lang trug. Seine Gitarrenkunst verfeinerte sich in des, soweit es seine vom bäuerlichen Lebensstil geprägten Wurstfinger zuließen. Lange war die Zeit vorbei, als er die musikalischen Nackenbrecher seiner Idole nachspielte. Er schrieb bereits an den ersten eigenen Songs. „My guitar is my bride“ und „as I was a trousershitterer“ stammen aus dieser Zeit. Jene ersten musikalischen Gehversuche wurden noch Jahre später auf der Bühne zum Besten gegeben, wenn die letzten Verbliebenen im Publikum sie lautstark und unter unfreiwilliger Abgabe von Speichelsaft einforderten. In diesen Augenblicken würde Harald Hutfeld an seine Ursprünge zurückdenken, an die vielen einsamen Nächte mit seiner Gitarre unter Spermaüberdruck.

Bis zu jenen Augenblicken sollten jedoch noch viele einsame Nächte, viele Solokonzerte vor dem häuslichen Spiegel vergehen: rhythmisches Haare schütteln, grimmige Gesichtsausdrücke und mitreißendes Stage-Posing muss vor dem erstem Zutritt der Öffentlichkeit ausgiebig einstudiert sein. In diesen Belangen hatte Harald Hutfeld durchaus Potential. Mit der Suche nach musikalischen Mitstreitern wagte er den ersten Schritt in die Öffentlichkeit. Dies gestaltete sich, im Verhältnis zu seiner musikalischen Eingeschränktheit, als äußerst einfach. In seinem und in einem nachbarlichen Dorf fanden sich schnell aufblühende Mofarocker, die ähnliche Lebensgeschichten vorzuweisen hatten. Dann kam alles, wie es kommen musste und wie man es aus so vielen großen Bandhistorien kennt: Mühevolles Proben unter schwierigen Verhältnissen in herabgekommenen Garagen und allseitiges belächelt werden. Doch Harald und seine Mitstreiter hatten ihr großes Ziel fest im Visier: der Tag des unsterblichen musikalischen Paukenschlags, der erste Auftritt!

...es war an einem Tag im ausklingenden Sommer. Harald hatte die Nacht zuvor schlaflos verbracht. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf: Was, wenn dies alles nur ein Gespinst seines Geistes und ihm das Frauenvolk nach seinem großen Auftritt weiterhin nicht zugetan war? Was, wenn diese jahrelangen Mühen alle vergebens und die Kräfte des Heavy Metals nicht stark genug waren, um die Frauenherzen zu brechen? Bis in die frühen Morgenstunden quälte er sich mit derlei Gedanken.

In der Folge gedachte er, die Zeit bis zum Auftritt so zu verbringen, wie er jeden anderen Tag auch verbrachte; er wollte es tun, wie ein Rockstar. Er wusch sich die Haare schon um die Mittagszeit, damit sie bis zum Entern der Bühne das richtige Aussehen hatten: nicht zu fluffig, wie nach dem Waschen üblich, jedoch noch im zeitlichen Rahmen, bevor die Verfettung gnadenlos um sich greift. Zu Mittag gab es, als Beilage zum Reisfleisch, welches seine Mutter ihm vorsetzte, einen ersten Schluck aus der Bierflasche. Neben seiner Haarpracht musste nicht zuletzt auch ein angemessener Alkoholpegel zu Auftrittsbeginn erreicht werden. Zuweilen griff er voller Ehrfurcht zur Gitarre, als wäre sie der Schlüssel, das Allheilmittel, die Wunderwaffe, die es ihm ermöglichte einen Weg in die Herzen der Frauen zu finden. Stunden später sah man Harald Hutfeld mit seinen Mannen seitlich der Bühne stehen, die bereits in Kunstnebel gehüllt war, während ein infernalisches Intro die Ankunft der musikalischen Dorfelite und zukünftigen Frauenverzauberer ankündigte.

Schon mit dem ersten Griff in die Saiten zog Harald Hutfeld alle Blicke auf sich. Der stählerne Ausdruck seiner Augen, als sprächen sie vom jahrelangen Kampf und der Rebellion, die bedeutungsschwangeren Armverrenkungen und nicht zuletzt die imposante Gestalt, als eine Mischung aus Neandertaler und James Hetfield mit Haarausfall, verfehlten seine Wirkung im Publikum nicht. Einen metallischen Leckerbissen nach dem anderen schleuderte er in die Meute. Und die Meute fraß. Sie fraß bis zuletzt.

Einer von diesen 200 Metalhungrigen war damals ich. Ich hatte großen Respekt vor Harald Hutfeld, als meine Metalwelt noch klein war; als ich mit ihm im Publikum mitfühlte und mir wünschte, in diesem Augenblick doch er sein zu dürfen; als es noch dieses erste unvergessliche Konzert war und mehr noch das Publikum als die Band begeistert war; als sich alles noch so neu und unverbraucht anfühlte; als Harald Hutfeld dieses verdammte eine Mal der Rockstar war, der ich immer sein wollte. Zu fortgeschrittener Stunde sah man Harald Hutfeld mit einem Groupie das Weite suchen. Was dann geschah, ob er ihn durch sein „Reinhängen lassen“ beglückte oder ob er gar nicht der stramme Max werden wollte, darüber weiß ich nichts mitzuteilen. Freilich, würde man Harald Hutfeld heute auf jenen Umstand ansprechen, sei es, wie es war, er würde uns die Geschichte von der wilden Liebesnacht aufzutischen versuchen. Die, man weiß es nicht, trotz der vielen „aber“ sich doch hätte zugetragen haben können.

Von diesem Tage an begann der Ruhm von Harald Hutfeld bereits wieder zu schwinden. Es war etwas Gleiches mit Harald Hutfeld und so vielen Dingen dieser Welt, die einmalig sind und dann nur Wiederholung, die erst entzücken und begeistern und späterhin ermüden. Sie laufen unweigerlich und oft unmerklich ihrem Ende entgegen. Es gab noch viele Konzerte; anfangs ein Lichtblick im steten Grau des Alltags, später dann zu etwas Alltäglichem verkommend und so prickelnd wie eine Flasche abgestandenes Mineralwasser. So rutschte Harald Hutfeld mit den Jahren in meiner Gunst stetig ab, bis er letztendlich in der Bedeutungslosigkeit verschwand.

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Ein Jahrzehnt hatte ich nichts mehr von Harald Hutfeld gehört. Dann erfuhr ich, dass er noch einige Jahre mit seinen Rohrkrepierern über die Dörfer geeiert sein soll, bis allerorten nur noch die faulen Tomaten flogen. Danach zog er sich langsam auf das musikalische Altenteil zurück und führte fortan im Elternhause das stille und erfüllte Leben eines Jedermann. Ob er es jemals zu Söhnen brachte, die in seine kleinen Fußstapfen hätten treten können, darüber konnte ich nichts mehr in Erfahrung bringen. Über eines wusste ich jedoch auch ohne weitere Erkundigung Bescheid: der Name Harald Hutfeld fand in der Chroniken des Heavy Metals keinerlei Erwähnung. Doch im Kopfe so manchen Dorfmetallers, scheint es, ist bis heute ein Stück Harald Hutfeld lebendig geblieben.
 



 
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