Hard Rock Hallelujah

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Kinokie

Mitglied
Hard Rock Hallelujah

Ich schaue auf die Uhr im Cockpit. 10:30 Uhr! "Die perfekte Zeit zum Mittagessen", denke ich sarkastisch.
Ich gebe Gas, der Motor heult auf, denn ich habe wenig Zeit zu vertrödeln, der nächste "Gast" will schließlich pünktlich bedient werden.

Gerade war ich bei Herrn Meier. Vierter Stock Altbau, das heißt kein Aufzug. Anstrengend!
Herr Meier ist ein ruhiger Zeitgenosse, meistens schläft er noch wenn ich komme. Außer schlafen und Fernsehen gucken hat er vermutlich sowieso nicht viele Beschäftigungen, denn er ist an sein Bett gefesselt.

Nächster Gast, Frau Müller, Kategorie spendabel.
Frau Müller möchte reden, denn sie hat nicht viele Leute zum Reden. Generell ist die Kundschaft sehr einsam. Ich habe etwas Zeit, also rede ich mit Frau Müller. Eigentlich redet sie mit mir und ich höre zu. Das Wetter, das Fussballspiel von gestern und was sonst so anfällt. Meistens bekomme ich von Frau Müller etwas für mein offenes Ohr. Einen, manchmal sogar zwei Euro. Das macht bei drei Minuten zuhören, mehr ist meistens wegen des Zeitdruckes nicht drin, einen Stundenlohn von mindestens zwanzig Euro. Ich überlege meinen Job zu schmeißen und professioneller Zuhörer zu werden, werfe den Gedanken aber schnell beiseite, denn der nächste Kunde steht an.

Herr Hausner. Ein Neubau, bei dem ich fast bis in die Küche fahren kann. Naja, zumindest direkt vor die Haustüre. Das Haus ist von außen noch lange nicht fertig, überall sieht es nach Baustelle aus. Das scheint die beiden Kinder, die auf einem Erdhaufen spielen aber nicht zu interessieren. Sie grüßen mich freundlich, während ich aus dem Kofferraum den Behälter mit Menü zwei heraushole. Es ist Samstag, also keine Schule. Die Türe ist offen, das ist sie meistens. Der Sohn von Herrn Hausner arbeitet irgendwo auf der Baustelle. Seine Frau putzt gerade im Flur. Sie grüßt, ich grüße zurück. Herr Hausner hat im Haus seines Sohnes ein eigenes Zimmer, aber keine eigene Küche. Wozu auch, das Essen bekommt er ja von mir. Ich habe aufgehört mich zu fragen, warum er nicht zumindest am Wochenende mit seinem Sohn, seiner Frau und den Kindern isst. Herr Hausner ist etwas mürrig, aber das macht nichts, denn das ist er immer. Ich stelle ihm den Behälter mit seinem Essen hin und er verabschiedet mich mit einem unfreundlich klingenden Gemurmel, aber ich bin schon längst wieder draußen, auf zum nächsten Kunden.

Frau Frei wohnt in einem riesigen Einfamilienhaus, alleine. Zumindest glaube ich, dass sie alleine wohnt, denn ich habe noch nie jemand anderen hier gesehen. Außerdem glaube ich auch nicht, dass es in diesem Haus jemand länger als sechzig Sekunden aushalten kann, sechzig Sekunden sind nämlich die Zeit, die ich die Luft anhalten kann. Frau Frei sitzt in ihrem Wohnzimmer, in einem Toilettenstuhl, der meistens gut gefüllt ist. Dementsprechend riecht es in der Wohnung und heute morgen sind es bereits fünfundzwanzig Grad bei schönstem Sonnenschein. Egal, Kofferraumklappe auf, auf den Zettel geguckt. Aha, Menü eins. Ich schnappe mir den Behälter, krame den Schlüssel für das Haus heraus und schließe auf. Ein erster Hauch des Eau der Toilette weht mir entgegen. Ich nehme noch schnell einen tiefen Luftzug und stürme ins Haus. Den Flur entlang, in die Küche. Durch die zweite Küchentür kann ich einen kurzen Blick in das Wohnzimmer werfen, in dem Frau Frei vor dem Fernseher sitzt.
Ich rufe ein schnelles: "Hallo".
Sie hallot zurück.
Gut! Sie lebt noch, der Geruch kommt also nicht davon. Ich stürme wieder heraus. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, ich atme befreit auf. Wenigstens bekomme ich keinen Würgereiz mehr.

Ab ins Auto, bis zum nächsten Kunden dauert es etwas, also mache ich mir eine Zigarette an.
Im Radio läuft eine Reportage über den Eurovision Song Contest von gestern Abend, die Band Lordi aus Finnland hat gewonnen. Endlich mal vernünftige Musik!

Die nächste Kundin ist Frau Scholz. Frau Scholz hat Alzheimer oder so etwas. Jedenfalls habe ich keinen Schlüssel für ihr Haus und wo die Haustüre ist hat sie anscheinend vergessen, denn ich muss durch den Wintergarten hereinkommen, in dem sie sitzt und Fernsehen guckt. Ich klopfe an das Fenster, sie sieht mich, lächelt und öffnet die Türe. Ich grüße. Frau Scholz setzt sich wieder und beginnt ihre übliche Litanei. Sie erzählt immer das Gleiche, also höre ich ihr schon gar nicht mehr zu während ich ihr Essen schneide, denn den bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Messers hat sie scheinbar auch vergessen. Lecker! Heute gibt es etwas, das aussieht als hätte es ein Kleinkind aus dem Sandkasten zusammengematscht und mit Holzlasur überzogen. Ich schneide das Sand-Holzlasur-Steak klein und stelle ihr den Teller hin.
Als ich mich anschicke herauszugehen guckt mich Frau Scholz an und sagt: "Bis demnächst hier im Eckchen".
Ich verabschiede mich. Die gleichen Sprüche wie immer.

Zurück ins Auto. Das war die letzte Station für heute. Ich mache mich auf den Weg zurück ins Altersheim, für das ich "Essen auf Rädern" ausfahre, wo auf mich ein kostenloses Mittagessen wartet.
Übrigens das gleiche, das ich hier ausfahre.
Kostenlos deshalb, weil vermutlich niemand wirklich etwas dafür bezahlen würde. Im Radio läuft der Gewinnersong von gestern Abend, Lordi – Hard Rock Hallelujah. Ich summe mit und freue mich auf meinen Feierabend.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kinokie, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine Geschichte direkt aus dem Leben, schnörkellos, schwankend zwischen Tragik und Humor. Gefällt mir.


Viele Grüße von DocSchneider

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