Hast du geweint am 9. November?

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Devika

Mitglied
Hast du geweint am 9. November?

40 Jahre getrenntes Deutschland
12 Jahre Mauerfall
11 Jahre vereintes Deutschland
Unterschiede gibt es nicht mehr?

Ich bin in einem Land geboren, das es auf der Karte nicht mehr gibt
Ich habe in einer Straße gewohnt, die heute nicht mehr so heißt
Weil heute niemand eine Karl-Marx-Allee mehr will
Ich war auf einer Schule, die heute nicht mehr so heißt
Weil heute Wilhelm Pieck kein Volksheld mehr ist

Meine Oma hat an einer der best bewachtesten Grenzen der Welt gewohnt
Nachts haben wir manchmal die Schüsse gehört
Menschen mussten sterben, weil sie ihr Land verlassen wollten
Menschen wurden schikaniert, weil sie gegen die Partei waren
Menschen wurden verhört, weil sie nicht für die Stasi arbeiten wollten

Heute ist alles anders, heute sind wir frei
Die Mauer durch Berlin gibt es nicht mehr
Dafür haben sie die Mauer mit Pflastersteinen nachgezogen
Für die Touristen zum photographieren
Für die Deutschen gegen das Vergessen

Wie kann man nur 40 Jahre vergessen?
40 Jahre Kultur
40 Jahre Musik
40 Jahre Theater
40 Jahre Mentalität
40 Jahre Lügen
40 Jahre Propaganda
40 Jahre Eingesperrt

Zu Silvester lachen wir über Helga Hahnemann
Auf einem Pudhys-Konzert waren wir fast alle schon einmal
Unsere Eltern waren nie BAP-Fans
Die Augsburger Puppenkiste kennen wir nicht
BE das ist für uns das Berliner Ensemble
Noch heute fahren wir lieber an die Ostsee, als an die Nordsee
Fahren ins Riesengebirge, nicht in die Alpen
Trinken Club-Cola, nicht Coca-Cola
Arbeiter wählen PDS, nicht SPD

Unsere Mütter waren nicht zu Hause
Unsere Mütter waren Bergbauingenieurinnen
Unsere Mütter haben nicht Geschnetzeltes gekocht
Unsere Mütter haben Stroganoff gekocht
Wir essen noch heute Broiler, nicht Grillhähnchen
Wir benutzen noch heute den Polylux, nicht den Overhead-Projektor

Kannst du ein Auto ohne Lenkhilfe und mit Lenkradschaltung fahren?
Kannst du einen Schrank selbst bauen?
Kannst du Russisch?
Kennst du Zwickau?
Kennst du Zeulenroda?
Kennst du Schrottgorod?
Warst du mal Pionier?

Hast du geweint, am 9. November?

Und du denkst es gibt keine Unterschiede mehr?
Wie kann ein Volk 40 Jahre vergessen?
Warum sollte ein Volk vergessen wollen?

(c) Devika 2001
 
B

bonanza

Gast
sehr schön. du bringst es auf den punkt.
die frage ist, wem bedeutet das was?
die halbwertzeit menschlicher anpassung ist ziemlich kurz.
ich meine, er hat sich ruckzuck neu aklimatisiert.
das empfinde ich gut wie schlecht.
es gibt wenig idealisten.
aber es gibt ein heer von mitläufern.

gefühle? gefühle werden der flut geopfert.
morgen kommt eine andere flut.
ein anderes vergessen.
in der primitiven hoffnung auf ein besseres überleben.

bon.
 
M

megan

Gast
stroganoff, boef .. ja, das kenne ich auch.
dein gedicht verliert gegen ende an schwung, dennoch fand ich es lesenswert.
m.
 

Mirko Kussin

Foren-Redakteur
Hallo Devika,
also bei mir kommt dein Text nicht so gut an. Ich überlege schon die ganze Zeit, woran es liegen könnte.
Zum einen wirkt er aufgebläht und künstlich in die Länge gezogen. Dass was der Text sagen will, könnte er (vielleicht sogar eindringlicher) mit deutlich weniger Worten erreichen. All die Wiederholungen, die wahrscheinlich so eine Eindringlichkeit erzeugen sollen, wirken auf mich eher langweilend und platt.
Speziell die zweite Strophe mit ihren "weil heute" Wiederholungen wirkt wie ein Holzhammer, mit dem der Leser die Intention um die Ohren gehauen bekommt.
Die Aufzählungs Strophe "40 Jahre" hat da schon eher etwas Eindringlicheres. Allerdings empfinde ich die einzelnen Begri´ffe als ziemlich wahllos aneinander gereiht. Sind Musik und Theater nicht Teil der Kultur? Warum erscheinen sie einzeln? In einer Reihe von Substantiven, wirkt dann die letzte Zeile "40 Jahre eingesperrt" auch nicht stimmig.
By the way, müsste eingesperrt nicht klein geschrieben werden?
Die Abgrenzungsstrophe direkt danach finde ich komplett überflüssig, weil sie ein Klischee konstruiert, dass vielleicht sogar wirklich existiert, dies aber mit soooo abgegriffenen Bildern tut (die Club-Cola und Puhdys usw.).
Das sind ja wenn überhaupt Trennungssymptome, nicht die Gründe von Abgrenzung. Die hier zu finde hätte ich spannender gefunden.
Gruß
Mirko
 

alfi

Mitglied
Ich kann Mirko da nur recht geben. Auf mich wirkt der Text auch nur platt. Ein Erklärungsversuch-es war alles garnicht so schlecht. Jaja das hörten wir auch in den 50-iger Jahren
als Kinder (bin 61).
Bin zwar selbst kein grosser Lyriker, was mir aber auffällt Du wirst nur von Ehemaligen beklatscht.
 
B

bonanza

Gast
alfi, ich bin kein "ehemaliger", und ich beklatsche nichts.
ich sagte, daß mir ehrliche meinungen als durchschnittliches
gedicht hundertmal lieber sind als verlogene gut
geschriebene.

punkt.
bon.
 

Devika

Mitglied
Vielleicht wollte ich mit dem Gedicht ja auch Ossis aus dem Herzen sprechen,wenn mir das gelungen ist, dann habe ich mein Ziel erreicht. Vielleicht wollte ich nicht pc sein.
Ich sehe es aber nicht als Erklährungsversuch. Wer das denkt hat es leider nicht verstanden und dass ist dann wirklich mir als Autorin zuzuschreiben. Es ist nichts weiter als die zweite Seite einer Medalie. Auf der anderen Seite stehen Bautzen II, Stasi, Einheitspartei und Hohenschönhausen. Ich bin mir der anderen Seite bewusst, aber das ist und war nicht Thema dieses Gedichts.

Interesant aber die sehr unterschiedlichen Meinungen. war ja auch nicht anders zu erwarten.
 
S

Sandra

Gast
Dein Gedicht ist gut. Du hast mir den Osten nähergebracht und ich habe gerne über ihn gelesen. Lang gezogen ist es, (40 Jahre sind auch lang) aber ich war nicht gewillt mich von dem Text zu entfernen.
Ich habe nicht geweint am 9. November, aber ich verstehe wohl jetzt die Tränen der anderen ein wenig.

LG
Sandra
 



 
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