Hat Boccia etwas mit Bocaccio zu tun?

minitaurus

Mitglied
Hat Boccia etwas mit Bocaccio zu tun?

Wer weiß das; vielleicht kannte er das Spiel schon. Jedenfalls spielten es oft die Feriengäste, was im allgemeinen ziemlich langweilig war. Nicht so jedoch, wenn es sich um Jörg und Petra handelte. Das lag daran, dass Petra gerne weit ausgeschnittene Dirndl trug, was ihm von seinem Dachfenster aus wunderbare Einblicke erlaubte, die ihre Krönung fanden, wenn sie am Ende des Spiels die Kugeln aufhob. Stundenlang hätte er zusehen mögen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass er nicht unsichtbar war. Er hätte hineinfallen mögen in dieses Dekolletee, aber was, wenn man ihn auf seinem Aussichtsposten entdeckt hätte? Keine Frage, er hätte sich zu Tode geschämt.
Warum war dies so wunderschön und gleichzeitig so verboten, dass man es nicht einmal erzählen konnte…
In seinem Geschichtsbuch gab es ein Photo des Erechtheions mit den Karyatiden, aus dem ihm die gleiche Schönheit entgegen sprang, auch wenn die kein Dekolletee trugen. Die verhüllende Kleidung enthüllte aber mehr als sie verbarg. War das genauso verboten? Warum war es dann gedruckt, in einem Schulbuch?
Keine Antworten; nicht einmal fragen durfte man danach…
Er fand ein sogenanntes „Aufklärungsbuch“ in seinem Nachtkästchen, und wunderte sich: wo kam das denn jetzt her, wie kam das dahin? Mit einigem Nachdenken zeigte ihm das, dass man ihn offenbar durchschaute, von seinen Nöten etwas wusste, aber eben auch, dass man nicht reden wollte.
Und später gab es da noch dieses Mädchen in seiner Klasse, das gerne die Knie an der Tischplatte abstützte. Da sie meist einen Rock trug, gab das einen sonst nie zu sehenden Blick auf ihre Beine frei, und weckte den Wunsch, Augen am Hinterkopf zu haben, denn sie saß in der letzten Reihe und er musste sich ziemlich verrenken, wenn er etwas sehen wollte. Was wiederum jedem auffallen musste, der zufällig gerade in seine Richtung schaute. Peinlich, aber auch ein nahezu unwiderstehlicher Reiz, dem er oft genug erlag. Dieses Bewegungsmuster, den Kopf so unauffällig wie möglich zu drehen, sozusagen unter der Achsel durch zu schauen, hat sich in sein Körpergedächtnis so eingegraben, dass er es heute noch zu spüren glaubt, und das fühlt sich heute noch genauso unangenehm wie damals an.
Dabei stimmt „sonst nie zu sehender Blick“ eigentlich gar nicht, denn soviel anders war es ja im Schwimmbad auch nicht...
Eines Tages bemerkte sie seinen Blick, und zog mit einem mokanten Lächeln den Rock noch höher. Faktisch kam sie ihm damit entgegen, aber in Wirklichkeit war es das Ende des Spiels, denn damit war es ihm zu peinlich geworden. Nochmals so erwischt zu werden war eine unerträgliche Vorstellung, denn, auch wenn er sie kaum kannte, er liebte sie, und wollte um keinen Preis verachtet werden.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo minitaurus, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 

Willibald

Mitglied
Das große Spiel

Der Frage-Titel und der Ersteindruck

Tja, das ist nicht eine normale, gängige, konventionelle Erzählstruktur mit einer Ereigniskette und einem klaren Profil.

Es beginnt in der Überschrift mit einer Frage. Der gutwillige Leser, der sich drauf einlässt, wird das Spiel mit den Kugeln assoziieren und das Erzählspiel erotischer Art im Decamerone von Boccaccio. Ein Buch, das in gutbürgerlichen Haushaltender fünfziger Jahre vorhanden war, als akzeptabel-erotisch galt und dennoch oder deswegen im Bücherschrank versteckt wurde. Die Kinder könnten dadurch ja erregt werden, wenn sie es denn läsen?

Dann gleich eine Frage, noch eine: Wer weiß das? Eine Quizfrage aus einem gängigen Gesellschaftsspiel? Referenz auf die Verwandtschaftfrage von Boccia und Boccacio? Nicht ganz zu klären. So liest man neugierig weiter oder frustriert nicht mehr weiter.

Das Erzähler-Spiel

Mit „vielleicht kannte er das Spiel schon“ wird geschickt ein verdeckter Erzähler eingeführt, welcher über ein fremdes Ich erzählt oder über sich selbst, aber als Er verfremdet. Es gibt die Erzähldistanz des Imperfekts und damit die Garantie einer gewissen Überschau und des Wissens ums die Geschichte, die da wohl erzählt wird. Gleichzeitig aber mit „vielleicht“ ein Signal der fehlenden Allwissenheit, ein vorsichtiges Sondieren, genauso gut aber auch, dass der verfremdende Erzähler nicht mehr so genau weiß, was in dem Kind, das (er) einmal war, alles vorgegangen ist und gespeichert. Auf jeden Fall aber und ohne Zweifel nun der Rekurs auf ein kindlich-jugendliches Bewusstsein mit seinen Erlebnissen, seinem familiären und schulischen Biotop, den Normen und Widersprüchen, die in der Adoleszenz, im coming-of-age ihre schimmernde Präsenz und Macht präsentieren.

Der Erzähler ist latent vorhanden, wir sagten es schon. Die Überschau, die erwachsene Reflexionsfähigkeit zeigt sich schon in der kindfernen Überschrift, sie zeigt sich im verdeckten Kondizionalsatz ohne „wenn“ und im Potentialis von „mögen“, dann Irrealis:
Stundenlang hätte er zusehen mögen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass er nicht unsichtbar war.
Da ist das reflektierte Wortspiel von „verhüllen“ und „enthüllen“. Da ist die Referenz auf die latente Struktur der Fragen mit „Keine Frage. Er hätte sich …“. Da ist die Opposition von „faktisch..aber in Wirklichkeit“, da ist der Blick für das seltsam widersprüchliche Doppelspiel von eigentlich Attraktivem und Geschätzten, das verboten wird, mit Tabu belegt wird, worüber nicht gesprochen wird, Und da ist schließlich der letzte temporale Standort, das Hier-Jetzt-Ich des Erzählers und dem plötzlich auftauchenden Präsens:
Dieses Bewegungsmuster, den Kopf so unauffällig wie möglich zu drehen, sozusagen unter der Achsel durch zu schauen, hat sich in sein Körpergedächtnis so eingegraben, dass er es heute noch zu spüren glaubt, und das fühlt sich heute noch genauso unangenehm wie damals an.
Der Blick auf Kultur

Ein Blick auf die Kultur von Erotik, Erotik-Versagen, Scham und Begehren. Auf die Widersprüchlichkeit, die darin liegt, auch wenn sie in der heutigen Zeit andere Bezirke in Beschlag genommen hat. Und da ist eine andere Triebfeder menschlichen Verhaltens: Die Angst vor dem Image- und Reputationsverlust: „er wollte um keinen Preis verachtet werden“. Eine Analyse durch den Erzähler , sehr indirekt, eine Entdeckungsfahrt in das jugendliche Bewusstsein, der Fänger im Roggen ist noch nicht da, aber nicht mehr weit.

Etwas Seltsames ist bewusst oder unbewusst im Erzählvorgang passiert. Die eigentümliche Verwendung von „Blick“. Das Lexem bezeichnet einen Wahrnehmungsvorgang, das Richten der Augen auf etwas. Das Erblickte ist in der deutschen Sprache nicht weit: Es ist der Anblick oder die Aussicht. Das Blickobjekt. Sozusagen das Patiens.

Was im Text passiert: Das Patiens des Erblickten wird aufgelöst: Der „sonst nie zu sehende Blick“, das Angebot des Mädchens und seiner Attraktivität, ist mindestens genauso Agens, eher sogar stärker als der Blick des jugendlichen Subjekts. Und in der Erweiterung des „Blickes“ durch das Mädchen wird die Macht der Anschauung und Erotik , die Macht über das erotisch attrahierte Subjekt mehr als deutlich.

Verfremdung und viermal "c"

Natürlich keine neue Erkenntnis. Aber ein Frame, das in dieser leichten Verfremdung des Normalgebrauches von Blick für einen Moment und in raffinerter, kunstvoller Weise aufscheint. Nebenbei, da sind wir bei der Etymologie: „blicken“ hat etwas zu tun mit dem „Strahl“, einem schnell aufscheinenden Glanzlicht, die kurze Zeitspanne des Augenblickes, der uns lebendig macht.

Auf jeden Fall das, was Boccaccio mit vier c in zehn Tagen der Pestangst verhandelt. Mit großem Ernst im großen Spiel.

p.s.

Vielleicht die etwas gängelnden, leicht aufdringlichen Punkte, Punkte, Punkte... in einer neuen Fassung revi/reduzieren?
 

minitaurus

Mitglied
Hat Boccia etwas mit Boccaccio zu tun?

Wer weiß das; vielleicht kannte er das Spiel schon. Jedenfalls spielten es oft die Feriengäste, was im allgemeinen ziemlich langweilig war. Nicht so jedoch, wenn es sich um Jörg und Petra handelte. Das lag daran, dass Petra gerne weit ausgeschnittene Dirndl trug, was ihm von seinem Dachfenster aus wunderbare Einblicke erlaubte, die ihre Krönung fanden, wenn sie am Ende des Spiels die Kugeln aufhob. Stundenlang hätte er zusehen mögen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass er nicht unsichtbar war. Er hätte hineinfallen mögen in dieses Dekolletee, aber was, wenn man ihn auf seinem Aussichtsposten entdeckt hätte? Keine Frage, er hätte sich zu Tode geschämt.
Warum war dies so wunderschön und gleichzeitig so verboten, dass man es nicht einmal erzählen konnte…
In seinem Geschichtsbuch gab es ein Photo des Erechtheions mit den Karyatiden, aus dem ihm die gleiche Schönheit entgegen sprang, auch wenn die kein Dekolletee trugen. Die verhüllende Kleidung enthüllte aber mehr als sie verbarg. War das genauso verboten? Warum war es dann gedruckt, in einem Schulbuch?
Keine Antworten; nicht einmal fragen durfte man danach…
Er fand ein sogenanntes „Aufklärungsbuch“ in seinem Nachtkästchen, und wunderte sich: wo kam das denn jetzt her, wie kam das dahin? Mit einigem Nachdenken zeigte ihm das, dass man ihn offenbar durchschaute, von seinen Nöten etwas wusste, aber eben auch, dass man nicht reden wollte.
Und später gab es da noch dieses Mädchen in seiner Klasse, das gerne die Knie an der Tischplatte abstützte. Da sie meist einen Rock trug, gab das einen sonst nie zu sehenden Anblick auf ihre Beine frei, und weckte den Wunsch, Augen am Hinterkopf zu haben, denn sie saß in der letzten Reihe und er musste sich ziemlich verrenken, wenn er etwas sehen wollte. Was wiederum jedem auffallen musste, der zufällig gerade in seine Richtung schaute. Peinlich, aber auch ein nahezu unwiderstehlicher Reiz, dem er oft genug erlag. Dieses Bewegungsmuster, den Kopf so unauffällig wie möglich zu drehen, sozusagen unter der Achsel durch zu schauen, hat sich in sein Körpergedächtnis so eingegraben, dass er es heute noch zu spüren glaubt, und das fühlt sich heute noch genauso unangenehm wie damals an.
Dabei stimmt „sonst nie zu sehender Anblick“ eigentlich gar nicht, denn soviel anders war es ja im Schwimmbad auch nicht...
Eines Tages bemerkte sie seinen Blick, und zog mit einem mokanten Lächeln den Rock noch höher. Faktisch kam sie ihm damit entgegen, aber in Wirklichkeit war es das Ende des Spiels, denn damit war es ihm zu peinlich geworden. Nochmals so erwischt zu werden war eine unerträgliche Vorstellung, denn, auch wenn er sie kaum kannte, er liebte sie, und wollte um keinen Preis verachtet werden.
 

minitaurus

Mitglied
Lieber Willibald
Es ist – jedenfalls für einen Hobbydichter - schon recht verblüffend, was ein geschulter Blick so alles sehen kann. Sei also herzlich bedankt für dieses Füllhorn an (gar nicht gängelnden) Hinweisen. Wo Du recht hast, hast Du recht.
Der Künstler, sagt man, muss sein Werk nicht erklären können, aber wenn er gute Erklärungen bekommt, ist das schon hochinteressant.
Deshalb noch mal Danke
Hermann
 



 
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