Heidelberg, Flußufer, gelb

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Torquato

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Heidelberg, - Flußufer, gelb (www.litfink.com)

Der Weg ließ hier das erste Mal zu, die Böschung zum Fluß hinunter zu gehen. Vorher war durch das Gelände der alten Ziegelei alles versperrt. Baukräne standen dort. Auf der dicht an den Berg gedrückten Schnellstraße donnerten die Wagen. Ein auf Sicht, zwecks knalliger Reklame, weit hoch- und vorgeschobenes Schild pries 112 Eigentumswohnungen an.

Die bebüschte Böschung zum Fluß hinab war steil. Der Maler nahm sie wie nichts. Er kannte, täglicher Rückmarsch vom Atelier, die ins Erdreich gekehlten Stufen, auf denen voll und satt jetzt die Blätter lagen, Herbstlaub am letzten Oktobertag.

Er sah knabenhaft aus. Oder doch ein Jüngling als junger Mann. So schritt er, schneller als der andere, und nicht nur schlanker. Nicht nur im Schritt, in ganzer Gestalt geschmeidiger griff er in die Landschaft am Fluß. In die Büsche gar drang er vor, zwei Hunde, herrische Rassegeschöpfe, fast stieß er sie zur Seite. Der andere sah erst die Hunde, sah die Augen, deren Iris fehlerfrei gesprenkelt war, gerade setzte der schmalere Dobermann zum Fassen an, - doch jetzt hielt er den vollen Blick auf das Mädchen, 18, das die Leinen straffte und ihm, dem breiten Poeten, der nun den Abhang anging, unsicher die Tiefe suchend, Raum bot.

Der eine, er war schon unten, hatte sie also nicht erkannt. Früh am Morgen, in "Sissis Horse Shop", wo in der Tiefe die Bilder des Künstlers im Magazin lagen, zur Miete, - dort hatte das Mädchen Reitstiefel gekauft. In der Freude hatter sie gleich anbehalten, war in den Wagen gestiegen, voller Eifer, gestern der Führerschein, heute Gas geben, gestiefelt und gespornt.

Der andere hatte sich schnell noch vor dem Schaufenster des Pferde-Shops aufgebaut. Er sah das startende Mädchen durch die Windschutzscheibe: - wie wach die dunklen Augen im hellen Gesicht. Wie voll und weich das "gewisse etwas" im Haar: keine aufgeföhnte, - nein, eine junge Frische, urtümlich wie das Flußufer, gemsenfarben, gelb-bräunlich, chamois.

Der Maler hob nur die Hand mit der Zigarette gegen die Sonne. Aus dem Pferde-Zubehör-Laden kam ein Schwall von Leder- und Beizgeruch, die Nasenschleimhäute gerbend. Der Poet, mit dem Maler aufs Taxi wartend, sprach vor dem Sissi-Shop von der Kaiserin, Sissi von Österreich, von ihrem Ende am Genfer See, noch 100 Meter ging sie den Weg von der Anlegebrücke, die Feile spitz in der Kaiserinnen-Brust. Der Attentäter hatte Rebellion oder Ruhm gewollt. Was war es noch? Sissi kam ihm nur recht, aber eigentlich wollte er einen erzdummen General töten, in dessen Nähe ihn aber keiner ließ, während Elisabeth, einst kur-bayerisch, nun Habsburgerin, so mir nichts dir nichts den Lac-Leman-Dampfer ohne weiteren Schutz verließ.

Und was hat das mit dem Reitsportladen zu tun? Der Künstler war schon müde. "Wußtest du, daß Sissi zehn Jahre lang jeden Sommer nach Irland fuhr, um dort zu reiten?"

Die Frage blieb hängen, denn nun kam das Taxi, das sie zur alten Aula der Universität fuhr. Am Steuer saß ein Landsmann des Künstlers, ein Quedlinburger, der ihm von der Harzbahn erzählte, die mit Kohle den Bäumen den Schwefel (und so ein näheres Aus und Ende bringt), Tausende Turisten schwärmen zwischen den Stümpfen und schwarz-rindigen Riesen im Brockenwald, der schon zuviel weiß von Hexenstock, vom Schwefelloch und von der garstiger Widernatur im Goethe-Ton.

Flußufer, gelb ( 2)
Noch längst waren die Bäume nicht gänzlich entlaubt. In der Residenz, im Windfang der Mauern, hatten er und der andere sogar ein Prachtstück gesehen.

Um mich dem Erzählfluß zu überlassen, ging ich ich dichter an die Böschung heran. Die Graskante brach jäh ab. Ich sah, wie die Kante unterschiedlich angefressen war. Unter den Büschen lag eine Plastiktüte.

Immer, wenn das Blut in den Ohren klopft, in meinem Kopf auf dem Kissen, weiß ich, daß sich etwas nähert. Es ist die Erinnerung. Es sind die kleinen Bestandteile, die vorwärts transportiert werden, in der Blutbahn, und gestern hat der Arzt sogar die Fließgeschwindigkeit gemessen, er sagte, es höre sich an, als ob die Abwässer einer ganzen Stadt vorbeischössen.

Das Gurgeln des Flusses ist unterschiedlich stark. Es gibt Tage, da ist alles träge. Die Oberfläche liegt unverändert da. Meine Hand liegt dann unbewegt auf der Eisenbank. Die Fahrradklingel blitzt in der Sonne. Ein Vogelruf, sonst nichts.

Ich habe unter Menschen gelebt. Ich habe alles kennengelernt, was ihre Nähe so bezaubernd macht. Im ersten Anflug heiratete ich. Heute sind die Töchter erwachsen. Und ich liege weiter unter dem Himmel der Erwartungen.

Wenn eine Frau sich nähert, einen Zufallshut auf dem Kopf, dann frage ich: Marita, dein Lebenserwartungs-Horizont, was sagst er dazu? Ich habe in den vielen Sätzen, die das Unsammelbare der Erwachsenenbildung in eine Vorratskammer pressen, einige ganz persönliche Marita-Sätze gefunden. Auf der Welt sein: wozu? Und am Ende seinen Beutel schultern und aufs blaue Nichts zuzumarschieren, das erst himmel-, dann wasser- und dann nebelgrau wird.

Ein Loch im Ich zu haben, durch das man hindurchblickt. Keine schöne Aussicht. Immer ist da noch die andere Stimme. Eine Dozentin oder ein weißes Kaninchen.
Ich sammle eifrig weitere Beispiele für geschlossene Systeme. Für Pomadigkeit, Desinteresse und Überlebenskunst.

Residenz
Sie saßen, 30 Schritte hinter der längsten Fußgängerzone, die der andere je gegangen war. Sie ruhten sich auf zwei Stühlen im Hof des kurpfälzischen Palais aus. Es waren zwei Eisenstühle, mit schmalen Brettchen aus Holz, die das Gewicht des Sitzenden aufnehmen und erst so Statik gewinnen: richtige Biergartenstühle.

Es war, wie er zuhause in Hamburg nachlas, wohl eine Stieleiche. Er und der andere blickten in die Höhe. Über ihnen fackelte voll Herbst und Stolz im Farbenrausch eine Pappel. Nein, es war eine ins Steile, ins aufstrebende Schmale hochgestutze Eiche, jedes im Umriß exakt gezackte Blatt zeigte seine Signalfläche wie eine leuchtende Innenhand (spanisch la palma) wie im Triumph, welch ein kurpfälzisch steifer Stolz: in voller Krone, putzig in tumber Kanzleranmut birnenförmig nach oben geschürzt: und noch kein Blatt gefallen.

Sie werden, sagte der andere, nicht säumig taumeln, Stiel und Stengel nicht zögernd lösen, sondern diese Tage werden sie gemeinsam fallen, in ein paar Stunden, und nicht taumeln, sondern geradeaus hinab zur Erde fallen wie Soldaten und abgezählt: nächsten Morgen haben die kurpfälzischen Gärtner zu tun.

Beide blickten noch lange hoch. Hier in der Stadt wird nicht gesiedelt, nicht gelebt und gewohnt, sondern residiert. Der ins Stolze und Hohe in Himmelsrichtung gestutzte Baum, der keine Pappel war, trug still sein Eichenlaub, dem er, man hörte fast das Saugen und Strömen, Blatt um Blatt Saft entzog, sich Kraft einverleibend für Wintertage.

Ratatoesk
Ob eine Esche oder Eibe, sagte der andere, immer schöpfe ich Glaube, Aberwitz, Heidenkult unter Bäumen. Bin dann wie Ratatoesk, der Bote mit dem Nußblick und dem buschigen Schwanz, der von Ast zu Ast in die Höhe eilt in der Weltesche Ygdrasil. Er sammelt Nüsse und Nachrichten ein, nie hält er stille, immer springt er oder klopft die Rinde als Späher und Horcher, der die Taten, Torheiten der Götter weiterträgt. Er weiß alles von Götter- und Menschenart. Skandale plaudert er aus und Mädchenraub.

So ein Eichhorn-Ratatösk hat starke Schneidezähne. Wie das Stachelschwein ist er ein Glied der Familie Rodentia. Anders als beim rabbit halten sich seine Zähne hübsch im Innenraum. Das Eichhorn "Schattenschwanz", es huscht und springt, wie alle Erscheinungen, Täuschungen, hin und her. Sind es Wahrheiten, Klatsch oder ein Skandalon? Dann zittert, kaum merkbar, der Weltenstamm.

So ein skandalon ist das dünne Holzbrettchen, nur ein zarter Steg, den der Fallensteller in der Fangvorrichtung auf subtile Spannung stellt, die schlimmen Klappen auseinanderhaltend, nur so lange, bis die kleinste Berührung den labilen Zustand zum Schnapp, zu Klapp und Fall zerreißt.

Es ist wie im Gebirg bei strengem Frost. Du denkst, die Kälte halte alles fest in Starre und Bewegungslosigkeit. Aber selbst das Eis hält sein Gleichgewicht nicht, wenn du ein Schneebrett lostrittst. So ein kleiner Schritt in die Seite der weißen Wand ist wie ein fauxpas ins lavabo der Mädchen hinein, einmal die verkehrte Tür, und plötzlich speit der Vulkan, das Feuer hat Füße, sie laufen dir als flinkflüssige Lava zwischen die Beine. Dieser Schrei aus sieben Mädchenkehlen, er ist wie ein Einziger. Wie der kalte Wasserstrahl auf weiße Brüste: die vor Schreck klein werden. So etwas kann dich aus dem Internat treiben, der Direx machte mir Flügel, ich flog, so wie auch jener irische Maler sprang, John Squirrel.

Das Widderfell
Auf der Malschule jener wimpernhelle Ire John Squirrel, nicht nur dem Namen nach war er ein Baumbewohner, der sich zur Bequemlichkeit den Schwanz auf den Rücken legt, zur familia scuridae zählend, welches Wort sich bildet aus SKIA (shade) plus OURA (tail). Mein Vater hat uns mit solchen Sachen bei der Suppenterrine traktiert, Altphilologe.

John Squirrel kam aus Kerry (meeting of the Waters). Er hatte in Gap of Dunloe diese keltische Druiden-Ecke gebaut, Mad Mans Seat. Jetzt war er der Irrwisch im Institut, unser Eich- und Einhorn, Mister Unicorn. Dabei ein Freibeuter und Undankbarer, völlig bedenken- und ziemlich ehrlos. Er, John Squirrel, ironhearted, kleiner Student, aber tief drinnen und überhaupt zur Gänze ein Eisenhans, setzte seinem Professors, Woldemar Blauheim, Hörner auf.

Prof. Blauheim, Hochschullehrer, als plein-air-Maler eine europäische Größe, war oft und an erträglichen Tagen geradezu immerfort draußen, die Kofferstaffelei vor den Stockenten aufgebaut: seinem Dauermotiv. Man belächelte diesen Tic, aber ein Entenbild brachte Elftausend Mark, das war dann freilich die Grenze, und das seit Jahren.

Blauheim malte seine drei Enten nicht etwa routiniert, sondern mit frischen, mit bündelndem Blick erfaßte der Maler in immer neuer jungfräulicher Wachheit das wie erstmals geschaute Federkind, besonders den Erpel. Der Stockenterich hat eine charakteristische Signalzeichnung als Halsring, oft zweifach. Immer wieder malte Blauheim aufs Feinste gerade diesen speziellen Ton so genau wie möglich. Seine Bilder zeigen immer wieder zwei Stockenten in freiem Gewässer, und als Krönung den Erpel.

Drei Wasservögel als Lebenswerk. Schauen wir genau hin: der Maler führt für jeden Strich ein anderes behaarten Stöckchen. Es ist der sogenannte petit-point-Pinsel, ein Ding mit winzigem spitz zulaufendem Schopf.

So weilt Blauheim auf seinen Malerstuhl gebannt am weihevollen Weiher weit vor der Stadt, und just, als er mit dem Endausläufer jenes Pinselschopfes spitz und exakt die zarte Halsringschattierung ins Bild setzt, Auge in Auge mit dem stehenden Gewässer, ist seine Frau in der Stadtvilla ihm untreu.

In der kurpfälzischen und Universitätsstadt ist es Student Squirrel, der das Liebeswerk tut. Es war genau zu der Zeit, als Blauheim die dritte, die männliche Stockente, abschloß, den Erpel prachtbunt und halskrausgenau ins Bild setzte. Wie stets leuchtete der Erpel unten halb rechts im Feld der penibel quadratischen Leinwand. Fast gleichzeitig ging sein Student Squirrel auf seine schon benannte Art vehement und bedenkenfrei über die Grenze.

Im von der Uni dem Entenmaler mietfrei überlassenen Haus war der Student John Squirrel der Ehefrau nah. Ach, nicht im Bauhausbett, nicht im Schlafzimmer der Dienstvilla. Nur das Widderfell, Prof. Blauheim von der Physis her ein eher fußkühler Typ, holte Squirrel von dort, auf dieser sinnlich-flauschigen Ehebettvorlage lag jetzt der Eisenhans.

Schildern wir es bündig wie ein Farbsignal am Erpelhals: Immer weiter zunehmend Druck gab Squirrel, ja: Druck, und seiner Liebe insoweit weniger seelisch, sondern ganz leiblich, ja gar knochig Sprache. Er war zusammen, schwedisch samlag, außerhalb des Hauses im Innenhof, unter dem ausgeschnittenen Himmelsquadrat des kargen, dafür windstillen Atriums, das dem Haus gärtlichen Charme nur durch einen knappen, schmal umlaufenden Streifen Rasens gab. Zwei Ziersträucher standen drauf, und im späten Duft der Rose centifolia und dem sich einmischenden, eigentümlichen Spermageruch des Mini-Rasens, frisch gemäht, preßte Student Squirrel die Zotteln des Widderfells flach, er liebte die Ehefrau weit über die Grenze bis ins Glück hinein.

John Squirrel hatte die Grenzen sprengende, durch Wände hindurchgehende Kraft. Als Ire war er voller Sehnsucht in ein äußerstes Drüben. Die Kunst hatte ihn in das Reich der Metalle, in das Biegen, Brennen und Schmieden geführt. Seine neuerdings nicht kunstmalende, sondern Gestalten in Metall treibende Arbeit steigerte seinen Formensinn in ungewöhnliche Sphären hinein.

Grenzüberschreitung nannte Squirrel das, wenn er im Glück nicht allein war. Die tuffblonde, schmale Ehefrau Eva Elena Blauheim war nun, als ihr Mann am Weiher den Staffeleikoffer schloß, bereits jenseits von Eden, außerhalb irdischer Gartenkunst.

Squirrel rief in Liebestaten nicht den Namen "Eva Elena!" aus. Sondern, sobald er an die Schildwache kam, und durch die Dornenhecke tief in den Schloßhof brach, rief er, ein befeuerter Sesam-ich-öffne-dich-Aladin, heftig einen andernen Namen aus: "Coeline!" Es es ist jenes Malerwort für die Farbe des Himmels, »coelinblau«.

Aber es blieb nicht dabei. Prof. Woldemar Blau hatte eine Tochter aus vorangegangener Ehe. Sie hieß Blandine. Dieses Schneeweißchen färbte Squirrel an einem Lenztag rot und freite sie am 13. März in Gretna Green, zwei eiserne Ringe auf schottischem Amboß. Ein Kuß in der Esse, Glück in den Augen und hellblaue Wicken im Haar, zwei Wochen, erst auf der Heide im Hochland, dann noch Dornkratzer in den Gebüschen über der Halbinsel Dingle, anschließend, Squirrel allein in die Residenz zurück, kellnerte Blandine auf Ibiza.

Ende des Textes. So fuhr er heim. Ankommen und fortfahren, jeder Schlaf, zu dem uns die Nacht empfängt, ist eine Einladung in den kleinen Tod.
 

itsme

Mitglied
.......

Dieser Text ist "anstößig" im Wortsinn, selbst wenn man ihn zum zehnten male liest.

Grandios!

Ich kann den Lesern nur raten, sich auch die HP des Autors anzusehen.


itsme
 



 
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