Heimkehr

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Lord Nelson

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Heimkehr

Erich verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, etwas Merkwürdiges. Er blieb stehen und bog einige Fächer der Zimmerpalme mit den Händen zur Seite, so dass er freie Sicht hatte. Dann starrte er mit offenem Mund. Was sich in nächster Nähe vor ihm abspielte erschien ihm völlig unerklärlich. Erich wandte den Blick nicht von dem Rücken der Frau, die soeben im Bücherregal verschwand. Ohne Eile schlurfte er hin zu der Stelle zwischen Bücherregalen und Wand, an der sich ein schmaler Spalt soeben sachte schloss. Erich merkte verwundert, dass es sich gar nicht um Regale handelte, sondern um eine mit täuschend echt wirkenden Bücherreihen bemalte Tür. Jetzt entdeckte er auch eine Türklinke. Die Tür ging ganz leicht auf. Erich spähte vorsichtig durch den Spalt. Drüben sah es genau so aus wie hier. Derselbe dezente, pflegeleicht gemusterte Teppichboden. Dieselben unübersichtlich verzweigten Gänge, in einem freundlichen Apricotrosa gestrichen und in gewissen Abständen durch bodentiefe Fenster belichtet. Dieselben großen, in fröhlichen Farben gemalten Blumenbilder, die großen Kübel mit buschigen Grünpflanzen. Erich schlüpfte durch den Türspalt, wendete sich um und sah zu, wie die Tür langsam zufiel. Es war eine ganz normale Tür mit Milchglasfüllung. Von dieser Seite aus sah er die aufgemalten Regalreihen nur noch schwach durchschimmern.

Erich hätte ob der erstaunlichen Entdeckung aufgeregt sein können, doch er war es nicht. Ohne groß zu überlegen folgte er wie selbstverständlich dem Verlauf des Hauptganges. Die Gestalten, die dort vereinzelt herumspazierten, beachteten ihn ebenso wenig wie er sie. Am Ende gabelte sich der Gang. Nach links ging ein schmaler Seitengang ab, der anscheinend in eine Küche mündete. Nach einem verstohlenen Blick auf das hektischen Treiben wandte sich Erich dem nüchternen, mit grauem PVC belegten Gang gegenüber zu. Hier gab es viele Türen, doch es war kein Mensch zu sehen. Am Ende dieses Ganges hörte er Stimmen. Er glaubte Geplauder und Lachen zu vernehmen. Erwartungsvoll beschleunigte er seine Schritte. Als er das lichtdurchflutete Foyer erblickte, in dem Senioren in lockeren Runden Brettspiele spielten, andere beisammen saßen, wieder andere einfach so herumstanden und guckten, da brach die Erinnerung mit unbarmherziger Wucht über ihn herein. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.

Es war ein Heim! Er befand sich in einem Seniorenheim. Erich erinnerte sich ungewohnt klar an den Tag, als er zusammen mit Marthe hier im Foyer angekommen war. Er wusste, dass es schon eine Ewigkeit her war. Aber wo war Marthe nur? Er vermisste sie so. Er hatte sie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Waren es Wochen, oder gar Monate? Wie konnte sie ihm das antun, ihn alleine in so einem Heim zu lassen? Der Gedanke schmerzte. Erich spürte eine Träne seine zerknitterte Wange hinunterlaufen. Kurz ließ er sich auf einem Holzbänkchen am Rande des Foyers nieder und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nein, das konnte nicht sein. Das würde Marthe niemals tun. War sie etwa tot? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber bei dem Gedanken verriet ihm ein dumpfer Schmerz tief im Inneren zweifelsfrei, dass es sich so verhielt. Marthe war nicht mehr. Was sollte er ohne sie noch hier, in dieser fremden Umgebung? Er wollte heim. “Heim” dachte er sehnsüchtig.
Doch das war nicht möglich. Man hielt ihn hier fest. Tag um Tag pflegte er durch diese apricotfarbenen Gänge zu wandeln, die einander aufs i-Tüpfelchen glichen, stets unbeirrt auf der Suche nach einem Ausgang. Blitzartig schoss ihm die Erinnerung in den Kopf, wie er einmal sogar versucht hatte, über die Terrasse nach draußen zu entkommen. Wie er an dem hohen Drahtzaun emporgeklettert war, den Passanten auf der Straße dabei verzweifelt “Hilfe, Hilfe!” entgegengerufen hatte. Doch niemand half ihm. Binnen weniger Sekunden holten ihn die entsetzten Pfleger mit Gewalt in sein Zimmer zurück. Nicht dass sie grob gewesen wären. Das tat gar nicht not. Sein gebrechlicher Körper hatte gegen zwei kräftige junge Männer nicht die geringste Chance. Und so brachte man ihn gegen seinen Willen zurück. Behutsam zwar, auch freundlich, aber doch mit Gewalt. Bei der Erinnerung schnürte ihm das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit die Kehle zu. Dass ihm diese Episode jetzt so plötzlich wieder einfiel! Er hatte wohl einen seiner hellen Momente. Sie waren selten geworden, die hellen Momente in seinem Leben. In einem anderen hellen Moment hatte er am Esstisch den Stationschef direkt hinter seinem Rücken reden hören. Über ihn, ganz unverhohlen, geradezu schamlos. “Wir geben ihm jetzt stärkere Psychopharmaka”. Erich hatte sich diese Information fest eingeprägt. Es bedeutete, dass sie ihn mit Medikamenten ruhigstellten. War das der Grund, weshalb er sich meistens so benebelt fühlte? Und sie hielten ihn gefangen. Nicht mit roher Gewalt, das nicht. Sondern einfach durch das Fehlen eines Ausgangs, durch den er hätte davonspazieren können. Dies alles durchschaute er in seinen hellen Momenten glasklar.

Erich blickte verstört über das Foyer hinweg und entdeckte auf einmal die breiten Glastüren gegenüber, die auf die Straße führten. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Ein Ausgang! Da war sie, seine lang ersehnte Chance, auf die er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. In seinen stumpfen Augen regte sich ein lebendiges Funkeln. Jetzt würde er also endlich heimgehen. Erich lächelte breit und erhob sich mühsam. “Heim” murmelte er glücklich. Wie dieses “heim” aussah, davon hatte er keine rechte Vorstellung. Mit seinem alten Zuhause verband ihn nicht die Spur einer Erinnerung. Jetzt jedenfalls war er sich absolut sicher, dass er sich, wäre er erst daheim, dort so richtig wohlfühlen und nie wieder weg wollen würde.

Erich blinzelte. Draußen schien die Sonne und der Himmel strahlte in einem fantastischen Blau, doch es war bitter kalt. Auf den Pflastersteinen klebten hartgefrorene Reste von Schnee. Entschlossen wandte er sich nach rechts und schritt aus, so rasch es seine steifen Beine erlaubten. Schon nach wenigen Minuten begann er in seinen dünnen Sachen und den Hausschuhen jämmerlich zu frieren. Von hinten hörte er eilige Schritte. “Da sind Sie ja, Herr Lohse” rief eine weibliche Stimme außer Atem “was machen Sie denn bei der Kälte da draußen?” Die Stimme klang aufrichtig besorgt. Ein wärmender Arm legte sich fürsorglich um Erichs in der Eiseskälte schlotternden Leib und stützte ihn. Freundliche Augen lächelten ihn an. Eine zarte Hand ergriff die seine. ”Kommen Sie, wir gehen wieder zurück ins Warme. Draußen können Sie sich ja sonstwas holen. ”

Beim Abendbrot ordnete Erich mit seinen knochigen Fingern die mundgerecht vorgeschnittenen belegten Broten auf seinem Teller um. Er war hochkonzentriert. Vorsichtig packte er die Wurst- und Käsescheibchen und schichtete sie gewissenhaft übereinander. Wohin nun mit den klebrigen Brotstücken? Er wusste es nicht, kam einfach nicht darauf. Denk nach, dachte er, während seine innere Unruhe wuchs. Das Denken fiel ihm schwer. Erich überließ sich seinen Empfindungen. Er fühlte sich unsäglich fremd. Nichts war ihm hier vertraut. Mit allen Fasern seines Herzens wünschte er sich heim. Doch ehe er in tiefe Verzweiflung versank, regte sich sein ureigener Kampfgeist. Er durfte nicht aufgeben. Er nahm sich vor, gleich morgen nach einem Ausgang zu suchen. Es musste doch einen Ausgang geben, herrgottnochmal. Den müsste er nur finden. Dann würde er heimkehren, und alles würde gut.
 

Lord Nelson

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Sodele,

ich setze hier noch einmal mit der Ursprungsversion der Kurzgeschichte auf.

In der ersten Neuversion greife ich die Korrekturen von Val Sidal und auch die hervorragenden dramaturgischen Tipps von James Blond dankbar auf.

Obwohl ich mit Argusaugen nach weiteren Fehlern suchte, fielen mir keine mehr auf. Trotz der vielen Wochen Abstand sind mir die eigenen Worte halt immer noch zu vertraut ...

Falls einer der Leser die Berechtigung dazu haben sollte, so würde es mich freuen, wenn er den Thread in “Heimkehr” umbenennen könnte - vielen Dank.
 

Lord Nelson

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Heimkehr

Erich reckte neugierig den Hals. Er bog einige Fächer der Zimmerpalme zur Seite und starrte mit offenem Mund. Was er sah erschien ihm völlig unerklärlich. Erich wandte den Blick nicht vom Rücken der Frau, die soeben im Bücherregal verschwand. Verwirrt schlurfte er zu der Stelle zwischen Bücherregalen und Wand, an der sich ein schmaler Spalt soeben sachte schloss. Erich erkannte mit Staunen, dass es sich gar nicht um Regale handelte, sondern um eine mit täuschend echt wirkenden Bücherreihen bemalte Tür. Jetzt entdeckte er auch eine Türklinke. Die Tür ging ganz leicht auf. Erich spähte vorsichtig durch den Spalt. Drüben sah es genau so aus wie hier. Derselbe dezente, pflegeleicht gemusterte Teppichboden. Dieselben unübersichtlich verzweigten Gänge, in einem freundlichen Apricotrosa gestrichen und in gewissen Abständen durch Fenster und Terrassentüren erhellt. Dieselben großen, in fröhlichen Farben gemalten Blumenbilder, die stattlichen Kübel mit buschigen Grünpflanzen. Erich schlüpfte durch den Türspalt, wandte sich um und sah zu, wie die Tür langsam zufiel. Es war eine ganz normale Tür mit Milchglasfüllung. Von dieser Seite aus sah er die aufgemalten Regalreihen nur noch schwach durchschimmern.

Erich nahm die erstaunliche Entdeckung wie selbstverständlich hin. Ohne groß zu überlegen folgte er dem Verlauf des Hauptganges. Die Gestalten, die dort vereinzelt herumspazierten, beachteten ihn ebenso wenig wie er sie. Dieses allgegenwärtige und doch so fremde Apricotrosa verursachte ihm Unbehagen. Er wäre so gerne wieder daheim. Er blickte durch eine der Terrassentüren hinaus. Die gepflegte Grünanlage führte ums Haus herum bis zur Straße, wo sie durch einen hohen Zaun von einem belebten Gehweg getrennt war. Aber wieso wusste er das? Blitzartig schoss ihm die Erinnerung in den Kopf: Wie er einmal versucht hatte, über die Terrasse nach draußen zu entkommen. Wie er an dem hohen Drahtzaun emporgeklettert war, den Passanten auf der Straße dabei verzweifelt “Hilfe, Hilfe!” entgegengerufen hatte. Es hatte nichts genutzt. Man hatte ihn gegen seinen Protest in sein Zimmer zurückgebracht. Dass ihm diese Episode jetzt so plötzlich wieder einfiel! Die hellen Momente waren selten geworden in seinem Leben. Meistens fühlte er sich ziemlich benebelt. Ob das an den Medikamenten lag? Einmal hatte er den Stationschef direkt hinter seinem Rücken darüber reden hören. Unverhohlen, geradezu schamlos. “Wir geben ihm jetzt stärkere Psychopharmaka”. Erich hatte sich diese Information so fest er konnte eingeprägt.

Am Ende gabelte sich der Gang. Nach links ging ein schmaler Seitengang ab, der offenbar in eine Küche mündete. Nach einem verstohlenen Blick auf das hektischen Treiben wandte sich Erich dem nüchternen, mit grauem PVC belegten Gang gegenüber zu. Hier gab es viele Türen, doch es war kein Mensch zu sehen. Am Ende dieses Ganges hörte er Stimmen. Er glaubte Geplauder und Lachen zu vernehmen. Erwartungsvoll beschleunigte er seine Schritte. Als er das lichtdurchflutete Foyer erblickte, in dem Senioren in lockeren Runden Brettspiele spielten, andere beisammen saßen, wieder andere einfach so herumstanden und guckten, da brach die Erinnerung plötzlich über ihn herein.

Glasklar hatte er den Tag vor Augen, als er zusammen mit Marthe hier im Foyer angekommen war. Aber wo war Marthe nur? Er vermisste sie so. Erich spürte eine Träne seine zerknitterte Wange hinunterlaufen. Kurz ließ er sich auf einem Holzbänkchen am Rande des Foyers nieder und bemühte sich, den Gedanken fortzuführen. Marthe würde ihn niemals allein lassen. War sie etwa tot? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber ein dumpfer Schmerz tief im Inneren verriet ihm zweifelsfrei, dass es sich so verhielt. Marthe war nicht mehr. Was sollte er ohne sie noch hier, wo ihm alles fremd war? Er wollte fort. “Heim” dachte er sehnsüchtig. Doch das war nicht möglich. Er wusste genau, dass es hier keinen Weg hinaus gab. Tag um Tag pflegte er unbeirrt durch diese apricotfarbenen Gänge zu schlurfen, die einander aufs i-Tüpfelchen glichen, stets auf der vergeblichen Suche nach einem Ausgang - auch daran erinnerte er sich jetzt.

Erich blickte verloren über das Foyer hinweg und entdeckte auf einmal die breiten Glastüren gegenüber, die auf die Straße führten. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Ein Ausgang! Da war sie, seine lang ersehnte Chance, auf die er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. In seinen stumpfen Augen regte sich ein lebendiges Funkeln. Jetzt würde er also doch noch heimkommen. Erich lächelte und erhob sich mühsam. “Heim” murmelte er glücklich. Wie dieses “heim” aussehen sollte, davon hatte er keine rechte Vorstellung. Doch darauf kam es nicht an. “Daheim”, das war der Ort, von dem er nie wieder weg wollen würde.

Erich blinzelte. Die Sonne schien hell und der Himmel strahlte in einem fantastischen Blau, doch es war bitter kalt. Auf den Pflastersteinen klebten hartgefrorene Reste von Schnee. Entschlossen wandte er sich nach rechts und schritt aus, so rasch es seine steifen Beine zuließen. Schon nach wenigen Minuten begann er in seiner dünnen Kleidung und den Hausschuhen jämmerlich zu frieren. Von hinten hörte er eilige Schritte. “Da sind Sie ja, Herr Lohse”, rief eine weibliche Stimme außer Atem “was machen Sie denn bei der Kälte da draußen?” Die Stimme klang aufrichtig besorgt. Ein wärmender Arm legte sich fürsorglich um Erichs in der Eiseskälte schlotternden Leib und stützte ihn. Freundliche Augen lächelten ihn an. Eine zarte Hand ergriff die seine. ”Kommen Sie, wir gehen wieder zurück ins Warme. Draußen können Sie sich ja sonstwas holen. ”

Zum Abendbrot führte man ihn in den kleinen Speisesaal. “Hier, Ihre Schmerzmittel”. Erich nahm die bunten, mit einem Esslöffel gereichten Pillen in den Mund und schluckte dazu gehorsam Wasser aus dem Becher, den man ihm an die Lippen hielt. Mit seinen knochigen Fingern ordnete er die mundgerecht vorgeschnittenen belegten Brote auf seinem Teller um. Er war hochkonzentriert. Vorsichtig packte er die Wurst- und Käsescheibchen und schichtete sie gewissenhaft übereinander. Wohin nun mit den klebrigen Brotstücken? Er wusste es nicht, kam einfach nicht darauf. Denk nach, dachte er, während seine innere Unruhe wuchs. Das Denken fiel ihm schwer. Verzweifelt wischte er alles vom Teller. Er fühlte sich unsäglich fremd. Nichts war ihm hier vertraut. Mit allen Fasern seines Herzens wünschte er sich heim. Er durfte nicht aufgeben. Gleich morgen würde er nach einem Ausgang suchen. Es musste doch einen Ausgang geben, herrgottnochmal. Den müsste er nur finden. Dann würde er heimkehren, und alles würde gut.
 

Silbenstaub

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Hi Lord Nelson,
bevor der Text wegrutscht, noch ein Leseeindruck von mir. Die Vorgängerversion kenne ich nicht, von daher gehe ich ganz unvoreingenommen daran.
Ab dem „Marthe-Absatz“ habe ich die Geschichte als emotionaler wahrgenommen, und das fand ich gut, und spätestens ab da war ich zu hundert Prozent dabei.
Den letzten Absatz halte ich für sehr gelungen, das Bild mit dem „Sortieren“ des Brotes finde ich richtig gut.
Trotz des bedrückenden Themas gern gelesen.
Silbenstaub

Ein paar Flusen:
Was er sah, erschien ihm völlig unerklärlich.

Ohne groß zu überlegen, folgte er dem Verlauf des Hauptganges.

“Wir geben ihm jetzt stärkere Psychopharmaka.“ (Das ist witzig, dieser Fehler schleicht sich bei mir auch oft ein, das Gänsefüßchen-Teufelchen?)

Nach einem verstohlenen Blick auf das hektische Treiben, wandte sich Erich dem nüchternen, mit grauem PVC belegten Gang gegenüber zu.

“Heim”, murmelte er glücklich.

“Da sind Sie ja, Herr Lohse”, rief eine weibliche Stimme außer Atem, “was machen Sie denn bei der Kälte da draußen?”
 

Lord Nelson

Mitglied
Heimkehr

Erich reckte neugierig den Hals. Er bog einige Fächer der Zimmerpalme zur Seite und starrte mit offenem Mund. Was er sah, erschien ihm völlig unerklärlich. Erich wandte den Blick nicht vom Rücken der Frau, die soeben im Bücherregal verschwand. Verwirrt schlurfte er zu der Stelle zwischen Bücherregalen und Wand, an der sich ein schmaler Spalt soeben sachte schloss. Erich erkannte mit Staunen, dass es sich gar nicht um Regale handelte, sondern um eine mit täuschend echt wirkenden Bücherreihen bemalte Tür. Jetzt entdeckte er auch eine Türklinke. Die Tür ging ganz leicht auf. Erich spähte vorsichtig durch den Spalt. Drüben sah es genau so aus wie hier. Derselbe dezente, pflegeleicht gemusterte Teppichboden. Dieselben unübersichtlich verzweigten Gänge, in einem freundlichen Apricotrosa gestrichen und in gewissen Abständen durch Fenster und Terrassentüren erhellt. Dieselben großen, in fröhlichen Farben gemalten Blumenbilder, die stattlichen Kübel mit buschigen Grünpflanzen. Erich schlüpfte durch den Türspalt, wandte sich um und sah zu, wie die Tür langsam zufiel. Es war eine ganz normale Tür mit Milchglasfüllung. Von dieser Seite aus sah er die aufgemalten Regalreihen nur noch schwach durchschimmern.

Erich nahm die erstaunliche Entdeckung wie selbstverständlich hin. Ohne groß zu überlegen, folgte er dem Verlauf des Hauptganges. Die Gestalten, die dort vereinzelt herumspazierten, beachteten ihn ebenso wenig wie er sie. Dieses allgegenwärtige und doch so fremde Apricotrosa verursachte ihm Unbehagen. Er wäre so gerne wieder daheim. Er blickte durch eine der Terrassentüren hinaus. Die gepflegte Grünanlage führte ums Haus herum bis zur Straße, wo sie durch einen hohen Zaun von einem belebten Gehweg getrennt war. Aber wieso wusste er das? Blitzartig schoss ihm die Erinnerung in den Kopf: Wie er einmal versucht hatte, über die Terrasse nach draußen zu entkommen. Wie er an dem hohen Drahtzaun emporgeklettert war, den Passanten auf der Straße dabei verzweifelt “Hilfe, Hilfe!” entgegengerufen hatte. Es hatte nichts genutzt. Man hatte ihn trotz heftiger Gegenwehr in sein Zimmer zurückgebracht. Dass ihm diese Episode jetzt so plötzlich wieder einfiel! Die hellen Momente waren selten geworden in seinem Leben. Meistens fühlte er sich ziemlich benebelt. Ob das an den Medikamenten lag? Einmal hatte er den Stationschef direkt hinter seinem Rücken darüber reden hören. Unverhohlen, geradezu schamlos. “Wir geben ihm jetzt stärkere Psychopharmaka.” Erich hatte sich diese Information so fest er konnte eingeprägt.

Am Ende gabelte sich der Gang. Nach links ging ein schmaler Seitengang ab, der offenbar in eine Küche mündete. Nach einem verstohlenen Blick auf das hektische Treiben wandte sich Erich dem nüchternen, mit grauem PVC belegten Gang gegenüber zu. Hier gab es viele Türen, doch es war kein Mensch zu sehen. Am Ende dieses Ganges hörte er Stimmen. Er glaubte Geplauder und Lachen zu vernehmen. Erwartungsvoll beschleunigte er seine Schritte. Als er das lichtdurchflutete Foyer erblickte, in dem Senioren in lockeren Runden Brettspiele spielten, andere beisammen saßen, wieder andere einfach so herumstanden und guckten, da brach die Erinnerung plötzlich über ihn herein.

Glasklar hatte er den Tag vor Augen, als er zusammen mit Marthe hier im Foyer angekommen war. Aber wo war Marthe nur? Er vermisste sie so. Erich spürte eine Träne seine zerknitterte Wange hinunterlaufen. Kurz ließ er sich auf einem Holzbänkchen am Rande des Foyers nieder und bemühte sich, den Gedanken fortzuführen. Marthe würde ihn niemals allein lassen. War sie etwa tot? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber ein dumpfer Schmerz tief im Inneren verriet ihm zweifelsfrei, dass es sich so verhielt. Marthe war nicht mehr. Was sollte er ohne sie noch hier, wo ihm alles fremd war? Er wollte fort. “Heim”, dachte er sehnsüchtig. Doch das war nicht möglich. Er wusste genau, dass es hier keinen Weg hinaus gab. Tag um Tag pflegte er unbeirrt durch diese apricotfarbenen Gänge zu schlurfen, die einander aufs i-Tüpfelchen glichen, stets auf der vergeblichen Suche nach einem Ausgang - auch daran erinnerte er sich jetzt.

Erich blickte verloren über das Foyer hinweg und entdeckte auf einmal die breiten Glastüren gegenüber, die auf die Straße führten. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Ein Ausgang! Da war sie, seine lang ersehnte Chance, auf die er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. In seinen stumpfen Augen regte sich ein lebendiges Funkeln. Jetzt würde er also doch noch heimkommen. Erich lächelte und erhob sich mühsam. “Heim”, murmelte er glücklich. Wie dieses “heim” aussehen sollte, davon hatte er keine rechte Vorstellung. Doch darauf kam es nicht an. “Daheim”, das war der Ort, von dem er nie wieder weg wollen würde.

Erich blinzelte. Die Sonne schien hell und der Himmel strahlte in einem fantastischen Blau, doch es war bitter kalt. Auf den Pflastersteinen klebten hartgefrorene Reste von Schnee. Entschlossen wandte er sich nach rechts und schritt aus, so rasch es seine steifen Beine zuließen. Schon nach wenigen Minuten begann er in seiner dünnen Kleidung und den Hausschuhen jämmerlich zu frieren. Von hinten hörte er eilige Schritte. “Da sind Sie ja, Herr Lohse”, rief eine weibliche Stimme außer Atem, “was machen Sie denn bei der Kälte da draußen?” Die Stimme klang aufrichtig besorgt. Ein wärmender Arm legte sich fürsorglich um Erichs in der Eiseskälte schlotternden Leib und stützte ihn. Freundliche Augen lächelten ihn an. Eine zarte Hand ergriff die seine. ”Kommen Sie, wir gehen wieder zurück ins Warme. Draußen können Sie sich ja sonstwas holen. ”

Zum Abendbrot führte man ihn in den kleinen Speisesaal. “Hier, Ihre Schmerzmittel”. Erich nahm die bunten, mit einem Esslöffel gereichten Pillen in den Mund und schluckte dazu gehorsam Wasser aus dem Becher, den man ihm an die Lippen hielt. Mit seinen knochigen Fingern ordnete er die mundgerecht vorgeschnittenen belegten Brote auf seinem Teller um. Er war hochkonzentriert. Vorsichtig packte er die Wurst- und Käsescheibchen und schichtete sie gewissenhaft übereinander. Wohin nun mit den klebrigen Brotstücken? Er wusste es nicht, kam einfach nicht darauf. Denk nach, dachte er, während seine innere Unruhe wuchs. Das Denken fiel ihm schwer. Verzweifelt wischte er alles vom Teller. Er fühlte sich unsäglich fremd. Nichts war ihm hier vertraut. Mit allen Fasern seines Herzens wünschte er sich heim. Er durfte nicht aufgeben. Gleich morgen würde er nach einem Ausgang suchen. Es musste doch einen Ausgang geben, herrgottnochmal. Den müsste er nur finden. Dann würde er heimkehren, und alles würde gut.
 

Lord Nelson

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Hallo Silbenstaub,

vielen lieben Dank für deine Anmerkungen. Hab soeben die Interpunktionsfehler bereinigt, die du mit Argusaugen noch gefunden hast. Kommasetzung bei direkter Rede ist für mich die Hölle, aber ich beginne mich daran zu gewöhnen. :)

Die Vorgängerversionen findest du übrigens als Link mit dem jeweiligen Datum direkt unterhalb des Textes angelistet. Sobald es zu einem Text mindestens eine Antwort gibt, wird jede ab da gemachte Änderung mit Änderungsdatum mitprotokolliert. Da ich den Beitrag schon vor Längerem eingestellt und gelöscht hatte, habe ich hier korrekterweise mit dem Originalbeitrag aufgesetzt - obwohl sich imho kein Mensch die Mühe machen wird, noch die alten Versionen in Augenschein zu nehmen.

LG Lord Nelson
 

MicM

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Hallo Lord Nelson,
mir gefällt der Text, finde aber (so wie Silbenstaub, wenn ich die Anmerkung richtig verstehe), dass es besser wäre, früher im Text offenzulegen, dass Erich ein alter, seniler, kranker (?) Mann ist. Dann wäre ich (auch) von Beginn an emotional dabei und würde sein verwirrtes Schlurfen durch die Räumlichkeiten besser verstehen. Der Anfang wirkte für auf mich eher nach Spannungsaufbau; die zweite Hälfte ist dann "schön" melancholisch.

Die stärkste Passage aus meiner Sicht (schon kurz vorm Ende):

Mit seinen knochigen Fingern ordnete er die mundgerecht vorgeschnittenen belegten Brote auf seinem Teller um. Er war hochkonzentriert. Vorsichtig packte er die Wurst- und Käsescheibchen und schichtete sie gewissenhaft übereinander. Wohin nun mit den klebrigen Brotstücken? Er wusste es nicht, kam einfach nicht darauf. Denk nach, dachte er, während seine innere Unruhe wuchs. Das Denken fiel ihm schwer.
Seine Hilflosigkeit und Verwirrtheit wird hier gut spürbar.

Nur eine Anmerkung zum Satzbau - ein paar viele Sätze beginnen mit "Erich".

[red]Erich reckte[/red] neugierig den Hals. Er bog einige Fächer der Zimmerpalme zur Seite und starrte mit offenem Mund. Was er sah, erschien ihm völlig unerklärlich. [red]Erich wandte[/red] den Blick nicht vom Rücken der Frau, die soeben im Bücherregal verschwand. Verwirrt schlurfte er zu der Stelle zwischen Bücherregalen und Wand, an der sich ein schmaler Spalt soeben sachte schloss. [red]Erich erkannte[/red] mit Staunen, dass es sich gar nicht um Regale handelte, sondern um eine mit täuschend echt wirkenden Bücherreihen bemalte Tür. Jetzt entdeckte er auch eine Türklinke. Die Tür ging ganz leicht auf. [red]Erich spähte [/red]vorsichtig durch den Spalt.
Einfachste "Aufhübschung" aus meiner Sicht wäre, das Adverb nach vorne zu ziehen:
- Neugierig reckte Erich …
- Mit Staunen erkannte Erich …
- Vorsichtig spähte Erich …

Wann kommt die nächste Kurzgeschichte?

Auf bald
MicM
 



 
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