Herbstlese (Versuch Nr.2 :-)

Agiulf

Mitglied
Herbstlese
Eine kurze Zeit ist’s her, da sog die Sonne noch vom Weinberg edle Tropfen und stieg mit roter Scheibe hinter ihm hinab. Und als erwachend sie an Bergesspitze den Hang hinunter lugte, da stand die Röte ihr noch immer zu Gesicht.
Ja, die Zeit des Herbstes hat vielerlei Gesichter und vielerlei Art bringt sie hervor. So schießt des Nachts noch aus des Waldes moos’gen Boden frisches Leben und mittags sieht der Sammler schon den prächt’gen Schirm des Parasols. Alles eilt sich seine Früchte darzureichen: Walnuß, Kürbis, Rübe und Kohl, ja all die köstlichen Geschenke dieser Erde erfreuen Aug und Mund zuhauf.
Es frißt jedoch alsbald der Herbstwind rasch die letzten Blätter von der Bäume Leib und wird nach diesem letzten Akt für lange Zeit der Welt entschlafen. Wenn dann die Luft ganz stille wird, kriecht unbemerkt der Frost in Baum und Fleisch und jeder weiß: nun wird der Winter der Natur zur Ruh gesetzt!
Und wenn der Frühling jährlings wieder lacht, so wird das neue Leben aus der feuchten Erde sprießen. So ist der Lauf gesetzt durch hoher Weisheit gültigen Beschluß.
Wir Menschen aber sollten die Natur betrachten und für uns dies erkennen: Die Früchte, die auch wir erbringen, sind die des Geistes und sind der Seele Schatz. Darum woll’n wir sie uns veredeln und achten nicht auf irdisch’ Übermaß. Denn die Bilanz von brav und bös sollt’ uns in Gunst bemessen sein.
Da wir uns einst an eines lieben Menschen Brust zur letzten Ruhe werden betten und unsres Lebens Tagwerk hat gute Frucht gebracht, so wird die Angst in unserm Herzen nicht die kleinste Kammer finden. Denn es ist sich gewiss: zu Gottes Füßen hin wird es entrückt und darf dort leben im neuen Frühling der sel’gen Ewigkeit.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe das Gedicht erst heute gelesen.
Es lehnt sich gegen die Gedichtform auf, insbesondere gegen fast alle formalen Kriterien.

1. Keine Vers- und Strophenform.
2. Keine gebundene Sprache.

Was vorhanden ist, sind eine Vielzahl vom Metaphern und bildhaft-poetische Sprache. Sie ist überhaupt nicht abstrakt.
Anstelle alltäglicher Wendungen tritt gehobene Sprache.

Eine kurze Zeit ist’s her, -> märchenhafter Stil

da sog die Sonne noch vom Weinberg edle Tropfen -> man spürt den Herbst und die bald reife Ernte

und stieg mit roter Scheibe hinter ihm hinab. -> Abendstimmung, es ist zugleich eine Stimmung der Änderung, des Abschieds, des Wechsels.

Und als erwachend sie an Bergesspitze den Hang hinunter lugte, da stand die Röte ihr noch immer zu Gesicht. -> Die Sonne geht auf, aber ist herbstlich rot, zugleich Symbol des Sterbens, des Todes, der in einer Wiedergeburt enden wird.

Das nur als Beispiel. Ein tief philosophisches Gedicht.
 
A

AchterZwerg

Gast
Hallo Agiulf,
leider muss ich Bernd vehement widersprechen: um Lyrik handelt es sich m. E. hier nicht.
Selbst bei sehr freizügiger Auslegung, die im experimentellen Bereich sicherlich noch größer ist als anderswo, gibt es doch ein paar Kriterien, die Lyrik gegenüber der Prosa abgrenzen. Als da sind:
- ein Gedicht ist ein Verstext
- ein Gedicht ist ein lyrisches Gebilde
- ein Gedicht besitzt eine poetische Sprache
Poetische Sprache zeigt dein Text; Punkt 1 und 2 treffen jedoch nicht zu.
Ich denke, wir sollten uns alle davor hüten, Lyrik der Beliebigkeit preiszugeben. Nicht ganz zu Unrecht wird sie als Königsdisziplin gehandelt und bedarf jahrelanger Übung und Beschäftigung mit dem Sujet, wenn sie halbwegs gelingen soll.
Gern räume ich ein, dass ich deinen Text als Prosa gelungen finde.
Der 8. Zwerg
 



 
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