Herbsttraum

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Vera-Lena

Mitglied
Herbsttraum

Der Baum steht da, tief in sich selbst versunken,
ein Abschiedsfest gibt er für jedes Blatt,
das gelblich-rot und sommersatt getrunken
sich leise von ihm abgewendet hat.

Mit Gleichmut trägt die Nacktheit seiner Zweige
er in den nächsten Jahresring hinein.
Der Sommer schwand, der Herbst mit letzter Neige
hüllt ihn in Silberfäden dunstig ein.

Er träumt sich fraglos durch die Widrigkeiten,
beschirmt fassadentreu mein kleines Haus.
Mit dem „Warum“ beklopft der Mensch die Zeiten,
wirft nach Erkenntnis seine Netze aus.

Dem Baume gleich, dem Erdreich fest verbunden
steht er, sein Scheitel rührt den Horizont,
er sucht, sich in sich selber abzurunden -
die Wurzeln kühl, die Blätter übersonnt,

so hofft er auf das Finden einer Milde,
die kalt und heiß geklärt in sich vereint,
er träumt sich selbst vollendet zu dem Bilde,
das durch sein Dunkles schimmernd ihm erscheint.
 

Nil

Mitglied
Dein Gedicht hat mich zum Träumen gebracht. Es ist wirklich schön...
Zum einen ist es für mich eine Würdigung der Schönheit des Herbstes, aber auch seiner melancholischen Art und zum Anderen scheint mir der Mensch den Herbst als Vorbild zu nehmen, als ein Sein zwischen Kälte und belasteneder Wärme, eine Mitte zwischen Unruhe und lähmender Letargie,
ganz so wie ein Gleichgewicht von Sommer und Winter, zu dem der Herbst durchaus fähig ist.
Von den "Bewertungsbalken" die unter jedem Werk eines Autors zur Verfügung stehen halte ich nichts. Deswegen will ich es bei dieser Antwort belassen.

Weiterhin viel Inspiration,

Nil
 
T

Thys

Gast
Vera-Lena,

das ist richtig gut!
Gut geschrieben und auch inhaltlich gut.
Auch der Vergleich zwischen Baum und Mensch ist gelungen.

Mit Gleichmut trägt die Nacktheit seiner Zweige
er in den nächsten Jahresring hinein.
:
:
:
Mit dem „Warum“ beklopft der Mensch die Zeiten,
wirft nach Erkenntnis seine Netze aus.


Sehr schön. Beide sind des gleichen Ursprungs, beide aus der gleichen Quelle. Der Eine ist "gleichmütig" der Andere "ungleichmütig", ruhelos.

Dem Baume gleich, dem Erdreich fest verbunden

Perfekt beschrieben!

steht er, sein Scheitel rührt den Horizont,
er sucht, sich in sich selber abzurunden -
die Wurzeln kühl, die Blätter übersonnt,


"rührt den Horizont" ja leider.. überschreitet den eigenen Horizont aber nicht.

so hofft er auf das Finden einer Milde,
die kalt und heiß geklärt in sich vereint,
er träumt sich selbst vollendet zu dem Bilde,


Ja, so ist er. Will sich einfach nicht einfügen in das Ganze, dessen Ursprung er ist. Er will herausragen, sich überhöhen und glorifizieren. Größenwahn! Niemand kann gegen seinen Ursprung leben... langfristig!

das durch sein Dunkles schimmernd ihm erscheint.

Ja, es erscheint ihm einiges. Nur hat dies oft nichts mit der Realität zu tun.

Vera-Lena, ich wiederhole mich eigentlich nur ungern; hier aber gerne. Wirklich GUT!

Gruß

Thys
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Thys,

(war eine Woche im Krankenhaus, erhole mich erst allmählich, kann deshalb erst jetzt antworten)

Danke für Deine ausführliche Interpretation und für Dein Lob, das mir natürlich gut tut.

Die Parallele Baum-Mensch war mir wichtig. Den Schluss kann man ganz sicher so lesen, wie Du es tust. Ich hatte dabei aber noch einen anderen Gedanken.

Da der Mensch über ein Bewusstsein und somit auch ein Bewusstsein über sein ganz persönliches Menschsein verfügt, hat er die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten. Er kann schauen, wo seine Extreme liegen im Handeln und auch im Fühlen, ja selbst im Denken. Er kann im Laufe seines Lebens (so alt wie ein Baum wird er ja meistens nicht) anstreben, die eine und andere Untugend abzulegen und sich Tugenden zu erwerben. Das ist durchaus möglich, wenn man seine Gedanken ständig unter Kontrolle hat und filtert, welchen Gedanken man weiter verfolgen will und welchen man besser beiseite tut. Eine mühselige Arbeit, die sich auch erst im Laufe mehrer Jahre beginnt auszuzahlen. (Wenn ich denke, wie geschwätzig ich als Kind gewesen bin, wieviel Disziplin mir auf diesem Sektor gefehlt hat!!!)

Was auch noch dabei helfen kann, ist die Vorstellung über sich selbst, dass man eines Tages bei diesem Bemühen schon weiter gekommen sein wird, also das Ganze nicht als Arroganz, sondern als eine Hoffnung auf ein Zukünftiges.

Niemand muss meinen Text in dieser Weise verstehen, warum auch? Aber ich wollte Dir doch gerne darlegen, was mir so durch den Kopf gegangen ist.

Noch einmal Danke!

Liebe Grüße von Vera-Lena
 
T

Thys

Gast
Hi Vera-Lena,

Den Schluss kann man ganz sicher so lesen, wie Du es tust. Ich hatte dabei aber noch einen anderen Gedanken.

Das ist ja schließlich das Prinzip bei der Art von Literatur, dass sich jeder mehr oder weniger darin wieder finden kann. Wenn man "eindeutige" Literatur lesen will, dann muss man sich über Berichte oder wissenschaftliche Texte hermachen.

Ich kann aber auch Deinen Gedanken nachvollziehen.

Ok, dann wünsche ich Dir noch gute Besserung. Hoffe es war nichts Schlimmes.

Gruß

Thys
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo, Thys,

das freut mich, dass Du auch meinen Gedanken nachvollziehen kannst. Dann weiß man ja, das die Botschaft imstande ist "anzukommen". Deshalb danke für Deine nochmalige Antwort!

(Heute geht es mir schon besser. Morgen wird dann der Arzt seine Strategie entwickeln. Es wird schon werden. Unkraut vergeht nicht.)

Liebe Grüße von Vera-Lena
 
T

Thys

Gast
Vera-Lena,

auch wenn ich Deine Weltbilder nicht immer teile, so kann ich trotzdem Deine Gedanken nachvollziehen, wenn ich von Deiner Basis ausgehe.

Ich drücke Dir beide Daumen! :)

LG

Matthias
 

Balu

Mitglied
mein absolutes Lieblingsthema

es gibt eine ganze Serie Eichentexte von Balu

Rythmisch und Inhaltlich sehr gelungen, finde ich

es wird zu meinen Lieblingstexten wandern

Grüße von balu
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Balu,

4 Monate lang war ich auch einmal Gärtnerlehrling und dann hat sich herausgestellt, dass mein physischer Körper für diese Arbeit( damals gab es noch Holzschubkarren und nur 2 freie Tage im Monat) ungeeignet war. Die Liebe zu den Pflanzen haben wir aber gemeinsam. Es freut mich, dass Dir mein Text gefällt.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 



 
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