Herdentrieb

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Unter ihm breiten sich Viehweiden aus, auf einer davon eine Rinderherde, fünfzig oder mehr rotbunte Kühe und Kälber. Vielleicht sind auch Stiere darunter - gut, dass die Weide eingezäunt ist. Die Tiere stehen grasend nahe beisammen, bilden eine große Formation. Auf einmal kommt Bewegung in diesen Organismus, seine äußere Gestalt beginnt sich zu verändern. Eine Kuh verlässt erst zögernd den Weideplatz, trottet dann zunehmend sicherer, zügiger davon und zieht andere hinter sich her, aus dem bisherigen Kreis heraus. Immer mehr Tiere schließen sich an, bilden eine lange Prozession. Die Leitkuh führt sie eine andere abgezäunte Wiese entlang, biegt um die Zaunecke und verschwindet hinter einer hohen Baumgruppe. Dann erscheint sie dem Blick wieder, zusammen mit denen, die sich ihr zuerst angeschlossen. Weiter, weiter … Das Ziel wird klar: das Wäldchen unten am Bach. Es ist Mittag und ein warmer, fast heißer Tag.

Gehen alle mit? Ja, ausnahmslos. Ihr schweigender Zug wirkt großartig, schicksalhaft. Einige Kälber haben Mühe mitzukommen. Sie fallen erst zurück und holen dann vorwärtsspringend auf. Nur eines bleibt zurück - es hinkt stark. Jetzt haben alle anderen Tiere die Wegbiegung passiert und das lahmende Kalb ist weit zurückgefallen, ohne Blickkontakt zu den übrigen. Es gibt nicht auf, strebt weiter sehr langsam jenem Wendepunkt zu. Zwischendurch beißt es hier und da ein Grasbüschel ab. Dann beginnt es zu blöken und bald darauf ertönt aus dem Wäldchen das Muhen einer Kuh.

Ein Tier, vermutlich die Mutter des Kalbs, verlässt den schattigen Platz am Bach, tritt langsam den umgekehrten Weg an. Man hört abwechselnd Muhen und Blöken. Kuh und Kalb verschwinden zur selben Zeit hinter den Bäumen an der Wegecke – und können danach nicht mehr ausgemacht werden. Denn inzwischen haben sich erst einige der anderen Tiere, dann immer mehr und schließlich auch der Rest auf den Rückweg gemacht. Nur wenige Minuten haben sie den Schatten genossen. Jetzt ist die Kraft der Bewegung aus so vielen massigen Leibern, angestoßen von nur einer Kuh auf der Suche nach dem verlorenen Kalb, stärker. Sie müssen ihr folgen, müssen zurück. Die Prozession, wiederum großartig, schicksalhaft, staut sich an der Wegbiegung hinter der Baumgruppe und formiert sich dann neu. Minuten später sind alle wieder vereint auf dem vorigen Weideplatz, eng beieinander grasend wie zuvor, ununterscheidbar, die alte Ordnung wiederhergestellt.

Der Beobachter erinnert sich an eine Lebensweisheit eines Urgroßvaters: Man bleibt immer bei der Herde, dann ergeht es einem wie der Herde … Nur, lieber Urahn, dass wir Menschen und keine Rinder oder Schafe sind - oder?
 
A

Alberta

Gast
Wie war das noch: Wer stets der Herde folgt, trabt immer nur den Arschlöchern hinterher ...?
Oder so.
 
Danke, Alberta, für deine Reaktion. Ist das, was du da mit deinen Worten zart andeutest, eine "Moral von der Geschicht"? Ja, auch. Aber der Text will in erster Linie ein Stück Tierbeobachtung sein. Den Schluss kann man ja auch umdrehen: Rinder sind keine Menschen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Kayl

Mitglied
Der Sinn der Geschichte ist eindeutig. Daher ist der letzte Absatz nicht nur überflüssig sondern störend.
 
Kayl, man kann das wohl so empfinden. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine "Geschichte" im strengen Sinn, sondern um eine tagebuchartige Impression. Insofern scheint es mir vertretbar, wenn der Beobachter am Schluss auch noch persönlich sichtbar wird und zu Wort kommt.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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