Hermann wußte Bescheid

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Bogart

Mitglied
"Ja,gut geht es mir, wirklich gut! Einfach wundervoll ist es hier. Ich kann mir gar kein schöneres Leben vorstellen. Herrlich! Das Leben kann ja so schön sein. Am Morgen geweckt werden, Frühstück liegt bereit! Ein Glückstreffer! Verwöhnt zu werden, von früh bis spät. Und wenn man einmal zu nichts Lust hat, dann einfach nichts machen, wirklich nichts! Nur faulenzen oder baden, etwas für die Haut, für die Gesundheit tun, oder einige Zigaretten rauchen. Ein Paradies! Der Kampf ums tägliche Brot fällt völlig weg. Jeder ist glücklich. Überall, wo man hinsieht, Zufriedenheit. Kein Streit! Hier sind alle gleich. Wir werden alle gleich gut behandelt.
Zuerst wollten wir ja gar nicht hier her, meine Frau und ich. Doch als unsere Kinder erwachsen waren und für sich selber sorgen konnten, haben wir es riskiert. Und der Weg, den wir eingeschlagen haben, war richtig. Nur Hermann war dagegen. Er war ja schon immer ein wenig komisch. Aber man muss mit der Zeit gehen. Habe übrigens schon lange nichts mehr von ihm gehört. Na, vielleicht schaut er mal vorbei. Man fühlt sich um etliche Jahre jünger hier. Glaube, das ist das Klima und die Betreuung. Ja, sie haben viel Aufwand wegen uns. Und das alles kostet uns nichts. Ja, wirklich nichts. Alles gratis! Es muss eine gemeinnützige Vereinigung sein. Gott sei Dank, denn leisten könnten wir uns das nie. Jetzt müsste Hermann doch endlich einsehen, dass wir richtig gewählt haben. Noch nie ist es uns so gut gegangen. Dieser Duft! Es riecht nach Tannen, nach dem Meer, einfach herrlich! Wenn wir uns nicht jeden Tag eincremen würden, wir hätten doch glatt einen Sonnenbrand, so heiß ist es hier.
Zwei Monate später: traurige Nachricht. Meine Lotte ist gestern gestorben. Zuerst hatte sie keinen Appetit mehr. Sie aß nicht mehr und schlief kaum noch. Ständig klagte sie über Kopfschmerzen und ein komisches Stechen in der Brust. Ich dachte, ja das Alter, sie ist auch nicht mehr die Jüngste. Man brachte sie weg von mir. Spezialbehandlung! Vorgestern habe ich sie wieder gesehen. Sie blickte nur mehr ängstlich umher. Jedesmal, wenn ich sie berührte, zuckte sie zusammen. Ihr ganzer Körper war zerstochen von den vielen Spritzen - und das Schrecklichste, sie kannte mich nicht mehr, ihren eigenen Mann, der sie liebt. Ich blickte in ihre traurigen roten Augen, die mir sagten: 'Ich habe Angst!', aber sie selbst sagte kein einziges Wort. Sie zitterte, als ich sie in meine Arme nahm, und kurze Zeit später starb sie. Ja, das Leben kann grausam sein, aber es muß auch weitergehen.
Zwei Wochen später: Jetzt ist auch Hermann hier bei uns. Der Ärmste muß völlig verrückt geworden sein. Er sitzt nur dumm und stumm da. Ja, das einzige was er sagt, was er immer wiederholt, ist: 'Ich habe es ja kommen sehen, ich habe es kommen sehen.' Er war schon immer ein wenig komisch. In unseren Jugendjahren, wenn wir herumjagten und nach den schönsten Mädchen Ausschau hielten, uns amüsierten, lag er zu Hause im Bau und las. Einfach verrückt! Aber es scheint ihm auch sonst nicht sehr gut zu gehen. Sein Fell ist ihm ausgegangen, und aus seinen kurzen zerfransten Lappohren rinnt sogar manchmal Blut. Er scheint wirklich sehr krank zu sein, aber auf jeden Fall ist er verrückt. Aber er ist ja auch nur ein Kaninchen und kein Feldhase.
Zwei Monate später: Mir geht es nicht besonders. Die vielen Zigaretten! Ich brauche viele Spritzen. Sie bemühen sich rührend um mich. Ja, das Alter. Übrigens, morgen kommen die Neuen.
Einen Tag später: Weiß nicht, die Neuen sehen so komisch aus. Sie sind viel größer und haben gar kein Fell. Die undankbaren Dinger haben sich noch gewehrt. Eigentlich sehen sie wie unsere Pfleger aus, nur schwarz. Übrigens, Hermann ist tot."
 

Zefira

Mitglied
Hallo bogart,
ich habe mich sehr gefreut, diese schön-schmerzliche Geschichte hier wiederzusehen.

Einstweilen will ich mich noch zurückhalten und Dir nur hallo sagen; ich bin zu neugierig, wie der Text hier so aufgenommen wird.

Im Augenblick nur dazu:
Mir fällt es hier zum erstenmal auf, daß die Geschichte wie eine durchgehende Rede von Anfang bis Ende in Anführungszeichen gesetzt ist. Das scheint mir ein bißchen widersprüchlich, denn zwischen dem Optimismus des Beginns und dem pechschwarzen Ende liegt doch ein langer Zeitraum der Entwicklung. Warum eigentlich überhaupt die Anführungszeichen? Denkst Du Dir den Text als Brief oder Ansprache? Ich würde die Anführungszeichen wegassen und größere Absätze machen - nur so als Gedanke.

Hast Du übrigens von den Büchern von Richard Adams eines auftreiben können? Ich schätze ihn sehr; man kann ihn wirklich in (fast) jedem Lebensalter mit viel Gewinn lesen.

herzliche Grüße
Zefira
 

Bogart

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Antwort

Nachdem ich diesen Text schon vor vielen Jahren geschrieben habe, kann ich dir leider heute gar nicht mehr sagen, warum ich diese Anführungszeichen verwendet habe, muß mal drüber nachdenken!

Ein Buch von Richard Adams habe ich noch nicht in die Hand bekommen. Habe erst letzte Woche meine Amazon-Bestellung bekommen (Faserland, Terrordrom, Der Rumpf, McCarthys Bar), und da mich meine drei Kinder sehr in Anspruch nehmen, komme ich leider nicht so oft dazu, mich mit einem Buch zurückzuziehen. Herr Adams muß also noch ein wenig warten, ich werde ihn aber nicht vergessen!

Übrigens bin ich auch sehr neugierig ob und wie meine kleine Geschichte aufgenommen wird!

Tschau

Bogart
 

Rainer

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hallo bogart,

hat mir sehr gut gefallen, deine (klassische) kurzgeschichte. zwei anmerkungen:
1. um den spannungsbogen noch länger aufrecht zu erhalten, würde ich den satz mit dem kaninchen/feldhasen nicht so zeitig bringen, sondern erst am schluß. ungefähr so: übrigens, hermann, der ja nur ein kaninchen und kein feldhase war, ist tot.
auch würde ich das fell durch haare und die lappohren einfach durch ohren ersetzen.
2.irgendwie passt es nicht in mein verständnis, daß kaninchen (und auch feldhasen?) für versuche mit zigaretten genommen werden. am anfang nimmst du ja schon mal kurz das thema hautverträglichkeitstests auf, deshalb würde ich die zigaretten weglassen (obwohl sie so schön in die irre führen), und vielleicht durch ein multivitaminpräparat ersetzen. (es gibt untersuchungen über die wechselwirkung von beta-carotin-haltigen multivitaminpräparaten und uv-strahlung)
aber, mal abgesehen von diesen persönlich als fehlerchen/mankoleinchen empfundenen punkten, ist es eine ausgezeichnete geschichte; bravo.

gruß

rainer
 

Zefira

Mitglied
Hm.
Ich bin anderer Meinung...
Die eigentliche Pointe der Geschichte ist für mich nicht, daß es sich um Kaninchen bzw. Hasen handelt, sondern diese Stelle:

>Weiß nicht, die Neuen sehen so komisch aus. Sie sind viel größer und haben gar kein Fell. Die undankbaren Dinger haben sich noch gewehrt. Eigentlich sehen sie wie unsere Pfleger aus, nur schwarz<

Kommt nun die "Erklärung", daß Hermann kein Feldhase, sondern ein Kaninchen war, noch nach dieser Stelle, so hätte sie auf mich keine Wirkung mehr. So wie es jetzt ist, kommt erst eine Pointe - Hermanns Ohren, er ist verrückt, aber törööö - er ist ja auch nur ein Kaninchen. Und wenn man das im Weiterlesen gerade mühsam zu verdauen beginnt, kommt der oben zitierte Satz hinterher und legt noch einen drauf.

So empfinde ich es.
Übrigens, fällt mir gerade auf, ist dieser Gegensatz Kaninchen-Feldhase nicht schlüssig. Es wird vorher (Hermann saß im Bau und las Bücher) der Eindruck erweckt, als ob zwischen dem Erzähler und Hermann irgendwelche sozialen Beziehungen bestanden hätten. Das ist aber zwischen Kaninchen und Feldhasen ausgeschlossen. Oder ist auch der Erzähler ein Kaninchen und kein Feldhase? Dann dürfte er sich aber über Hermann nicht so äußern....

In der Geschichte überlagern sich zwar zwei Bezugssysteme - der Erzähler ist offenbar (Versuchs-)Tier und Mensch zugleich -, aber ein weiteres Spannungsfeld, die Überlagerung von Kaninchen- und Feldhasenrealität, finde ich ein bißchen too much. Zumal es auch unnötig ist und nur verwirrt. Ließe sich das nicht anders lösen - daß Hermann z.B. ja nur ein Zwergkaninchen, der Erzähler dagegen ein original Stallkaninchen ist, oder so ähnlich?

Ach ja, die armen Karnickel. Ich verweise auf http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=31809

*wehmütig seufzend*
Zefira
 

Rainer

Mitglied
konfusionen

@zefira,

ich gebe dir in dem punkt völlig recht, daß die unterscheidung feldhase/kaninchen der sache nicht zuträglich ist, genau so wie, entschuldigung, zwergkaninchen/stallhase.
inzwischen denke ich sogar, daß man vielleicht die lappohren und das fell doch drinlassen sollte, dann aber ohne den zaunspfahlwink mit den hoppeltieren an sich.
mir ist die gewollte aussage des textes klar, nur stimmt etwas an der konstellation versuchskaninchen/zigaretten/versuche am menschen in der vorliegenden form für mich nicht.
sicher bin ich einfach nur zu blöd, den text beim ersten lesen vollständig zu verstehen, aber so wie er jetzt ist, mußte ich den pointensatz mit den menschlichen versuchskaninchen zweimal lesen.
ich verstehe auch nicht, wieso der erzähler gleichzeitig versuchstier und mensch sein soll; wegen der zigaretten?

verwirrte grüße

rainer
 

Zefira

Mitglied
Nun, ich sehe das so; vor allem wegen Wendungen wie "als ich sie in meine Arme nahm" oder "Hermann saß im Bau und las".

Man kann das alles herausbügeln und damit Einheitlichkeit erzielen, aber mir gefällt an sich diese Überlagerung. Nur, mit dieser Hoppeltier-Unterscheidung, da hast Du recht, sie stiftet Verwirrung.
 

Bogart

Mitglied
Fabelhaft!

Eigentlich will ich ja, daß meine Geschichte "genau" gelesen wird, aber so viele Fehler, daß tut weh. Der Feldhase gefällt mir auch nicht mehr (Soziale Kontakte, da habe ich mir wohl zu wenig Gedanken gemacht). Aber den Hinweis für die spätere Pointe (Schwarz/Weiß) möchte ich schon vorher einmal bringen (Zwerg- und Stallkaninchen?, ja vielleicht). Die Zigarettentierversuche gab (gibt) es wirklich, leider! Und zu meiner Geschichte kann ich nur sagen, guten und aufmerksamen Lesern kann man halt nichts vormachen, aber nachdem euch die Story doch auch ein wenig gefallen hat, fühle ich mich nicht als aufgedeckter ?????? sondern bin für eure Hinweise dankbar und werde sie mir durch den Kopf gehen lassen!

Tschau

Bogart
 

Zefira

Mitglied
Ich finde nicht, daß die Geschichte "so viele Fehler" hat.

Im Gegenteil, es ist nicht leicht, zu diesem klassischen Betroffenheitsthema noch etwas Neues, Nachdenkenswertes und Originelles zu bringen, und das ist Dir wirklich geglückt.

Eine Parallele zwischen Schwarz-Weiß und Feldhasen-Kaninchen wäre wirklich verfehlt, denn ein Gespräch zwischen Hasen und Kaninchen, egal ob Wild oder Stall (bei Hasen gibt es keine domestizierte Form) ist undenkbar. Das sind zwei völlig unterschiedliche Tierarten, da gibt es keine vorurteilsbelastete Rassen"konkurrenz" wie beim Menschen.

Bei Richard Adams, dem Guten, gibt es eine vorsichtige Annäherung zwischen Wild- und Stallkaninchen (in "Unten am Fluß"). Vielleicht wäre das die richtige Paarung für Dich. Ich kann mir ohnehin kaum vorstellen, daß jemals richtige Hasen zu Tierversuchen hergenommen wurden.

Adams beschreibt in seinem Roman "Die Hunde des schwarzen Todes" eine ganze Latte unglaublicher Tierversuche, die alle irgendwann irgendwo einmal durchgeführt worden sind und z.T. noch durchgeführt werden. Von allen seinen Romangestalten (ich las das Buch vor ca. 20 Jahren) sind mir die Hunde Snitter und Wuff weit deutlicher in Erinnerung geblieben als die menschlichen Versuchsdurchführer. Wahrscheinlich ist das Buch in seiner Bitterkeit stilistisch heute nicht mehr zeitgemäß; es ist zwar voll Galle, aber weit weniger humorvoll als Dein Text, Bogart. Das Thema ist so alt, daß man jeden begrüßen muß, der überhaupt noch neue Worte dafür findet. Ich habe mich über diese Geschichte gefreut.
 



 
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