Herr Bieber, Herr Meyer und das Huhn

Leovinus

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Nötige Vorbemerkung: Falls Du das mit dem Bankräuber nicht verstehst, empfehle ich die erste Geschichte um Bieber&Meyer. (Siehe www.leovinus.de)

Herr Bieber, Herr Meyer und das Huhn

Der kleine rundliche Herr Bieber saß allein im Büro. Er tippte den Arbeitsbericht der letzten Woche in den Computer und griff von Zeit zu Zeit nach seiner Tasse Tee. Als er eben bei der Spalte Donnerstag, 15.48 Uhr angelangt war, öffnete sich die Tür und der lange dünne Herr Meyer trat ein.
»Guten Morgen, Herr Meyer«, sagte Herr Bieber.
»Guten Morgen«, erwiderte Herr Meyer. Er legte seinen Stoffbeutel aufs Fensterbrett neben den Schreibtisch und ging in die Küche. Mit einer Tasse Tee kehrte er zurück, schaltete seinen Computer ein und setzte sich.
»Wie war Ihr Wochenende, Herr Bieber?«
»Das Übliche. Am Sonnabend war ich im Kino und anschließend in meinem Stammlokal. Und bei Ihnen?«
»Auch nicht besonders aufregend. Meine Mutter war zu Besuch bei uns. Einmal im Jahr kommt sie vom Dorf die Großstadt bewundern. Dann wirbelt sie alles durcheinander und beschäftigt jeden. Am Sonntag rauscht sie schließlich wieder davon.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie vom Lande stammen. Aus welcher Gegend denn?«
»Aus dem Brandenburgischen, in der Nähe von ...«
In diesem Moment öffnete sich die Tür einen Spalt breit und in aller Seelenruhe kam ein Huhn herein spaziert.
Vor Verblüffung hätte sich Herr Bieber beinahe verschluckt. Er sah erst auf das Huhn, dann zu Herrn Meyer, um sich zu vergewissern, dass ihn seine Sinne nicht täuschten. Herr Meyer schaute aus dem selben Grund erst Herrn Bieber an und anschließend den Vogel. Dann stand er blitzschnell auf. Er stürmte zur Tür, an dem Huhn vorbei. Das flatterte erschrocken auf den Schreibtisch von Herrn Bieber, der entsetzt aufsprang und neben dem Aktenschrank Schutz suchte.
Herr Meyer schaute aus der Tür und konnte am Ende des Ganges noch jemand um die Ecke in den Fahrstuhl biegen sehen.
»Herr Meyer! Müssen Sie mich so erschrecken!«, blaffte Herr Bieber. »Warum scheuchen Sie denn das Tier auf?«
»Herr Bieber, ich weiß ja nicht, inwieweit Sie Hühner kennen. Mir ist noch keines begegnet, das Bürotüren öffnet.«
Der kleine rundliche Herr Bieber holte tief Luft und musste seinem Kollegen wohl oder übel Recht geben. »Haben Sie jemanden gesehen?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es war Wolfgang.«
»Wolfgang, der Bankräuber? Aber den haben Sie doch erschossen.«
»Nicht doch. Wolfgang Merkles, aus dem Einkauf.«
Inzwischen scharrte das Huhn auf Biebers Arbeitsbericht der vorvergangenen Woche.
»Wie sollte denn Merkles zu einem Huhn kommen?«
Vorsichtig näherte sich Bieber seiner Teetasse und konnte sie gerade noch vor dem pickenden Schnabel in Sicherheit bringen.
»Keine Ahnung. Vielleicht hatte der auch seine Mutter vom Lande zu Besuch.«
»Herr Meyer, ich bitte Sie. Was machen wir denn jetzt mit dem Tier? «
Vorsichtig führte er die Tasse zum Mund.
»Das Beste wird sein, Sie nehmen es mit nach Haus.«
Ein Hustenanfall erschütterte Herrn Bieber, sodass er Mühe hatte die Tasse festzuhalten. Damit erschreckte er das Huhn derart, dass es ziellos erst auf ihn zu flatterte, dann in einem für Hühner ungewohnt eleganten Bogen abdrehte und auf dem Papierkorb zu landen versuchte, der folgerichtig umkippte.
Herr Biebers Gesichtsfarbe wäre nun mit nahezu bordeauxrot korrekt beschrieben.
»Sind Sie noch bei Troste? Was soll ich denn mit einem Huhn?«
Währenddessen war Herr Meyer ungerührt an seinen Schreibtisch zurückgekehrt.
»Sie leben allein, das Huhn könnte Ihnen die Samstagabende verkürzen.«
Ruhig griff er nach seinem Stoffbeutel.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst! Ich kann doch nicht mit einem Huhn in der Wohnung leben!«
Herr Meyer holte eine kleine Plastiktüte aus dem Beutel.
»Hühner sind pflegeleicht. Ich habe Erfahrung damit. Wie gesagt, ich komme vom Land.«
Er machte Schnalzgeräusche und lockte damit das Huhn auf seine Schreibtischseite.
»Wenn Sie sich so gut damit auskennen, weshalb behalten Sie es dann nicht? Bei Ihnen ginge es dem Huhn viel besser.«
Herr Meyer krümelte kleine Bröckchen seiner Arbeitsbrote ab und warf sie dem Huhn hin. Herr Bieber schaute ihm mit offenen Mund zu.
»Aber Herr Bieber. Sie werden einsehen, dass ich das meiner Frau und den Kindern unmöglich zumuten kann.« Folgsam pickte das Huhn Krümel für Krümel auf.
»Ich wohne im dritten Stock, Herr Meyer. Ich habe nicht einmal einen Balkon, so ein Huhn braucht doch eine vernünftige Umgebung, frische Luft!«
»Dann gehen Sie mit ihm spazieren. Ein wenig Bewegung könnte Ihnen auch nicht schaden.«
Er rührte in seiner Teetasse, bis der ohnehin nicht mehr heiße Tee lauwarm war, und stellte sie dem Huhn auf den Boden.
»Herr Meyer, um es ein für alle mal klarzustellen: Ich brauche weder Bewegung, noch ein Huhn. Und hören Sie endlich auf, es zu füttern! Es fühlt sich hier schon fast heimisch!«
Sein Kollege stutzte und schaute Herrn Bieber an. Dann sagte er: »Sie haben recht! Das ist es.«
Herr Bieber starrte zurück. Wenn man fünf Jahre lang das Büro teilt, lernt man sich sehr gut kennen. Er konnte kaum glauben, was er in den Augen des anderen sah.
»Das meinen Sie nicht ernst!«
»Doch. Was hindert uns daran?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Meyer. Ich habe nichts gegen ein wenig Natur im Büro, Pflanzen, ein Aquarium, aber doch kein ... ich wage es kaum auszusprechen!«
»Ein Huhn! Herr Bieber, wieso nicht? Wir haben keinen Publikumsverkehr. Selbst wenn Gäste kommen, das Huhn tut niemandem etwas.«
»Kommt nicht in Frage! Solange ich an diesem Schreibtisch sitze, werde ich ihn nicht mit einem Huhn teilen!«
Traurig sah ihn Herr Meyer an. »Schade, Herr Bieber. Dann werde ich wohl zu härteren Maßnahmen greifen müssen.« Er seufzte. »Ich nehme das Huhn mit.«
»So ist es vernünftig. Schauen Sie doch einmal, wir können doch kein Huhn in der Firma halten. Was soll denn der Chef sagen?«
»Oder erst Wolfgang.«
An diesem Abend steckte Herr Meyer das Huhn in eine große Kiste, worin vor einer Woche sein Computer geliefert worden war, und nahm es mit nach Hause.
Am kommenden Tag kam er erst sehr spät ins Büro. Herr Bieber brütete gerade über einem Aktenstapel, als er sah, wie Herr Meyer wortlos in der Küche verschwand.
»Guten Morgen, Herr Meyer!«
Keine Antwort.
Irgendetwas duftete, aber Herr Bieber konnte nicht sogleich zuordnen, was das war.
Da trat der lange dünne Herr Meyer aus der Küche. In den Händen hielt er zwei Teller, auf denen jeweils ein halbes gebratenes Hühnchen lag.
»Schauen Sie nur«, sagte er.
Herr Bieber blieb der Atem stehen.
»Ist das das ...«
Stumm nickte Herr Meyer. Er setzte sich an den kleinen Kaffeetisch in der Ecke und stellte die Teller ab. Herr Bieber setzte sich neben ihn.
»Sie haben es ...«
»... geschlachtet, ja«, beendete Herr Meyer den Satz. »Ich sagte wohl schon, dass ich vom Lande käme.«
»Ja, das sagten Sie.« Herr Bieber griff nach dem Hühnerschenkel auf seinem Teller, doch dann zog er die Hand zurück. »Vielleicht ...«
»Ja, Herr Bieber?«
»Vielleicht hätte ich es doch behalten sollen. Immerhin, im Schlafzimmer ist es sehr sonnig. Und ich hätte auch auf der Couch im Wohnzimmer schlafen können.«
»Das wäre wohl gegangen.«
»Zumindest hätten wir es hier behalten können. Dann hätten wir nicht immer nur auf die blöden Monitore gestarrt.«
»Das sagen Sie jetzt nur so, Herr Bieber, wo sie wissen, dass es zu spät ist.«
»Nein. Das ist mein voller Ernst! Ich ...« Herr Bieber stockte. »Ich wünschte, es wäre hier.«
Herrn Meyers Gesicht hellte sich auf. »Ich wusste, dass sie ein guter Mensch sind Herr Bieber! Es tut mir leid!«
»Nein, mir tut es leid, hätte ich es nur gewollt, wäre das Huhn noch am Leben.«
»Herr Bieber, nein, ich muss mich entschuldigen.« Herr Meyer stand auf und ging zur Tür. »Weil ich Sie so hinters Licht geführt habe.« Er öffnete die Tür und herein spazierte das quicklebendige Huhn.
Herrn Biebers Augen wanderten vom Huhn zu den Tellern und zurück. Fragend sah er dann Herrn Meyer an. Dieser sagte nur: »Vom Imbiss, unten an der Ecke.«
Glücklich schauten Herr Bieber und Herr Meyer auf das Huhn, das auf dem Boden herumstolzierte.
Der kleine rundliche Herr Bieber packte seine Arbeitsbrote aus und warf ihm Krümel zu.
»Wir sollten es Wolfgang nennen.«


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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