Herr Klemm

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joecec

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Herr Klemm


Wenn Walter Klemm schon um sieben seine Sendungen abholte, sah er zuerst nach, ob etwas für Roswitha Schubert dabei war. Falls ja, fuhr er schnell nach Hause, um nachzusehen, womit sie behelligt wurde. Walter Klemm war Briefträger. Seine tägliche Runde bereitete ihm solche Freude, dass der Sonntag gar nicht schnell genug herum sein konnte.

Es machte ihm nicht direkt Spaß, Roswithas Post zu lesen, er konnte auch gar nicht sagen, wann und warum er damit angefangen hatte. Und es war ja auch ein gewisser Aufwand mit der Sache verbunden, schließlich musste er die Briefe vorsichtig öffnen und wieder akkurat verschließen, damit er Roswitha nicht beunruhigte. Roswitha Schubert erhielt seit Monaten Rechnungen von drei Dating-Plattformen. Dabei war sie eine sehr ansehnliche Frau, wie Walter fand. Die anonymen Briefe, die er ihr zustellte, machten ihr die Komplimente, die Walter ihr gerne persönlich gemacht hätte, weil er glaubte, dass sie jedes davon verdient hatte. Er schrieb von dem atemberaubenden Duft, der sie umgab, von ihrem Lächeln, das einen sofort verzauberte und von allerlei Details, die er nur erraten konnte, weil er sie leider nie zu sehen bekam.

Jeden Sonntag schrieb er vorsorglich ein oder zwei Briefe für die Woche. Heute aber brannte seine Leidenschaft für die einsame Frau seiner Träume ganz besonders in ihm. Und so schrieb er ihr nur, sie möge eine rote Schleife an ihre Tür hängen, wenn sie ihn endlich kennen lernen wolle und sie könne ja auch eine Anstandsperson ihres Vertrauens hinzuziehen, wenn sie das beruhige, auch wenn sie ganz sicher nichts zu befürchten habe, denn er führe ja nur Gutes im Schilde.

Am Dienstag hatte Walter einen Katalog für sie dabei, der ihm dick genug erschien, bei ihr zu klingeln. Sie nahm den Brief an sich und riss ihn auf, ohne Walter von dem Katalog zu befreien. Er legte ihn ihr hin, machte kehrt und beeilte sich, in Richtung Haustür zu gehen.
„Herr Klemm?“ Er fuhr herum, fiel beinahe die Treppe herunter und hielt sich am Geländer fest.
„Ich habe leider keine rote Schleife zur Hand, aber vielleicht möchten Sie ja mal einen Kaffee mit mir trinken gehen?“
„Woher ...“
„So, wie Sie mich immer anlächeln, habe ich einfach gehofft … wer sollte sonst ...“
„Liebend gern! Gleich heute? Um drei?“
Sie nickte eifrig und schloss lächelnd die Tür.

Das Podest, auf das er die Schubert gehoben hatte, zerfiel binnen Tagen zu Staub, der zwischen Klemms Zähnen knirschte, wenn sie miteinander sprachen. Nicht alles, was sie sagte, klang verlockend und auch ihr Lächeln war nicht immer bezaubernd. An einem Samstag hielt Klemm ihr vor, wie wenig sie dem Eindruck entsprach, den sie vermittelt hatte. Er zählte ihr auf, wie viel Geld sie für Unnützes ausgab und womit sie ihre Zeit verschwendete. Sie schrie ihn an, nachdem ihr klar geworden war, woher er das alles wusste. Es dauerte Minuten, bis sie aufhörte, zu schreien und nach ihm zu schlagen und zu treten. Mit ihrem letzten Atemzug verdrängte sie alle Befangenheit, die noch in Walter Klemm verblieben war. Klemm blieb bis zum Sonntagabend in ihrer Wohnung, nahm die Handschuhe, die Schwämme und Putzlappen mit und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

Die Post stapelte sich zehn Tage lang in ihrem Briefkasten und vor ihrer Tür. Dann endlich rief jemand die Polizei. Es dauerte einige Wochen, bis die DNA-Proben aller Herren ausgewertet waren, mit denen sich die Schubert in den letzten Monaten getroffen hatte. Eine Übereinstimmung war nicht darunter.

Wenn Walter Klemm seine Sendungen abholte, sah er zuerst nach, ob etwas für Elke Westermann dabei war. Falls ja, fuhr er schnell nach Hause, um nachzusehen, womit sie behelligt wurde.
 



 
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