Herr L. und das Wetter

5,00 Stern(e) 1 Stimme

ridding

Mitglied
Herr L. und das Wetter

Herr L. vermeidet Gespräche über das Wetter, weil er sie als niveaulose Zeitverschwendung ansieht. Auch als Herr L. seine erste und bislang einzige Seereise unternahm, blieb er diesem Prinzip treu.
So kam es zu folgender Situation. Das Kreuzfahrtschiff war in einen großen Tiefausläufer geraten, meterhoch rollten die Wellen an und der Sturm peitschte den wenigen Fahrgästen, die sich hinaus auf das Deck gewagt hatten, ins Gesicht. Zu denen gehörten auch Frau P und Herr L. Der Magen von Herr L. reagierte auf die entfesselten Naturgewalten ähnlich wie der von Frau P. und so übergaben sie beide in taktvollem Abstand voneinander entfernt ihr nur leicht anverdautes Mahl der tosenden See.
Nachdem dies erledigt war, näherten sie sich an die Reling geklammert einander, sozusagen als Bruder und Schwester im Leid.
„Hoffentlich hört dieser furchtbare Sturm bald auf“, rief Frau P. gegen eine Regenböe Herrn L. zu.
Der war trotz einer gewissen Sympathie für Frau P. unangenehm berührt, dass sie mit ihm, einem Mann von Geist und Kultur, eine banale Konversation über das Wetter beginnen wollte.
„Haben Sie schon die Neuinszenierung des ‚Faust’ am städtischen Theater gesehen“, versuchte er, in die tobenden Elemente hinein schreiend, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Ich finde, der Regisseur Klingenschups hat die Doppeldeutigkeit der Figur des Mephisto nicht richtig erfasst.“
„Was sagten Sie?“, schrie Frau P. zurück. „Bei diesem Sturm versteht man ja überhaupt nichts.“
Herr L. zuckte zusammen. Schon wieder versuchte sie, seinen eleganten Themenwechsel offenbar ignorierend, das Gespräch auf das Wetter zu lenken. „Faust, Mephisto!“, brüllte er durch die über sie hinwegsprühende Gischt. „Die Inszenierung war etwas flach.“
„Ja, ein furchtbarer Krach“, versuchte Frau P. den Sturm zu übertönen. „Bei diesem Wetter versteht man sein eigenes Wort nicht.“
Herr L. war pikiert über den erneuten Anlauf von Frau P., ihm eine Konversation über die triviale Offensichtlichkeit der meteorologischen Situation aufzuzwingen. Jetzt rückte sie an ihn heran und sprach direkt in sein Ohr hinein.
„Lassen Sie uns nach drinnen gehen, da kann man sich wenigstens unterhalten.“
Gerne ging Herr L. auf dieses Angebot ein, denn wie bereits erwähnt empfand er durchaus eine gewisse Sympathie für Frau P.
Im Salon des Schiffes angekommen, zog Frau P. ihren durchnässten Mantel aus und meinte: „Bei so einem Orkan hilft nur ein ordentlicher Tee mit Rum.“
Schon wieder fing sie vom Wetter an! Bedauernd schüttelte Herr L. den Kopf und zog sich in seine Kabine zurück.
 

atoun

Mitglied
Hallo ridding,

das ist genial geschrieben.

die Doppeldeutigkeit der Figur des Mephisto
findet sich auch sehr gut an dieser Stelle wieder:
...seinen eleganten Themenwechsel offenbar ignorierend, das Gespräch auf das Wetter zu lenken. „Faust, Mephisto!“, brüllte er durch die über sie hinwegsprühende Gischt. „Die Inszenierung war etwas flach.“
Im ersten Moment las ich wirklich "Frau Mephisto". :)
Aber nicht nur das, der ganze Text zieht in den Bann, als würde ich selbst mitten in diesem Sturm auf dem Schiff stehen. Ich kann ihn regelrecht hören, riechen, fühlen. Und dann das Ganze auch noch in eine (doppelseitige) Moral verpackt. Ausgezeichnet!

Wenn ich Wertungen vergeben würde, wäre es für mich eine 10 +.
 

ridding

Mitglied
Hallo atoun,
vielen Dank für deine freundlichen Worte, es freut mich, dass dir die kleine Gesichte gefallen hat.
Es war mir gar nicht aufgefallen, dass sie auch eine Moral hat, eine doppelseitige sogar – außer vielleicht, dass Misantrophen nicht nur anderen, sondern auch sich selbst das Leben schwer machen. Aber dazu wird bluefin sich sicher noch näher äußern.
Gruß, ridding
 
S

Sabine.K

Gast
Gefällt mir auch wieder sehr gut. Vor Vergleichen werde ich mich hüten, bis ich mich mal eingehend mit Carl Valentin beschäftigt habe. ;-) Auf jeden Fall ein Text, der mich heute zum Lachen gebracht hat.
Liebe Grüße
Sabine
 



 
Oben Unten