Herr Positiv.

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pleistoneun

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Herr Positiv machte heute einen Rundgang. Normalerweise schickte er seine Vertreter, aber diesmal wollte er sich selbst überzeugen, wie es passieren konnte, dass sein Betrieb rote Zahlen schrieb. Herr Positiv lebte von Arbeit, die er direkt von seinem Schöpfer erhielt. Es war keine Arbeit im herkömmlichen Sinne, nein, bei dieser Art von Arbeit handelte es sich um reine Gedanken, die sein Schöpfer erdachte. An guten und optimistischen Tagen, hatte Herr Positiv viel zu tun, und an weniger guten eben nicht so viel. Seine Aufgabe war, den Einfluss des Gedankenguts seines Schöpfers auszuweiten und seinen Mitstreiter, Herrn Negativ, der irgendwo auf der anderen Seite um dasselbe Ziel kämpfte, Raum abzugewinnen. Denn je mehr Anteil an Arbeitsfläche Herr Positiv auf seine Seite brachte, desto weniger Anteil hatte Herr Negativ und desto besser ging es dem Schöpfer, weil ja mehr positive Gedanken produziert wurden.

Bei diesem Rundgang bemerkte Herr Positiv ungewöhnlich viele Arbeitslose, die gelangweilt an ihren abgeschalteten Maschinen standen. Der typische Fabrikslärm fehlte und es war seltsam still in den Werkshallen, in denen man sonst das pulsierende Leben der Gedankenproduktion spüren konnte. Heute war das nicht so. Herr Positiv war besorgt, als er durch die Hallen ging. Der Betrieb schien an Unterbeschäftigung zu leiden. Wie konnte es soweit kommen? Er versorgte seinen Schöpfer doch schon so viele Jahre treu und gewissenhaft mit seinen Produkten. Die Erzeugung lief so gut, dass Herr Positiv dachte, er hätte für seinen Schöpfer ausgesorgt. Nie würde ein Tag kommen, an dem die positiven Gedanken ausgehen würden, aber dieses Schreckensszenario war heute real geworden. Je roter die Zahlen in seinem Betrieb, desto schwärzer die Tage für Herrn Positiv, dem armen Mann, der nur eines wollte, seinen Schöpfer mit positiven Gedanken zu versorgen.

Was Herr Positiv allerdings nicht wusste, war, dass sein Schöpfer vor einigen Tagen eine niederschmetternden Diagnose seines Arztes erhielt, woraufhin in den Fabrikshallen von Herrn Negativ schlagartig die Maschinen anliefen und sich die Arbeiter daran machten, negative Gedanken zu produzieren. Dieser Arztbefund erreichte eine massive Produktionssteigerung auf Seiten Herrn Negativs, wodurch Angst, Verzweiflung und Ungewissheit entstehen konnten. Hätte der Schöpfer die Produktionsmaschinerie von Herrn Positiv zur Bewältigung dieses Unglücks gewählt, wären ihm Hoffnung, Zuversicht und Optimismus zur Verfügung gestanden. Der Schöpfer kannte die Angebote seiner beiden Werksmeister mitsamt den Auswirkungen für ihn selbst; letztendlich wählte er aber die Produkte von Herrn Negativ, obwohl er wusste, sie würden ihn in dieser Zeit nicht unterstützen.

So stand ein trauriger Herr Positiv am Werksgelände und musste einsehen, dass nicht die Qualität, die Treupflicht oder das Ausmaß der produzierten Ware entscheidend wäre, sondern die nur die Wahl der richtigen Seite. Aber ein treuer Herr Positiv sucht schon in seinen Unterlagen nach Möglichkeiten zur Neuorientierung und Wiederherstellung der gewohnten Gedankenstärke seines Schöpfers. Die Welt wird für seinen Schöpfer nicht untergehen - solange es jemanden wie Herrn Positiv gibt.
 
R

Rote Socke

Gast
Interessante Geschichte, interessante Überlegungen. Gefällt mir!

Gruss
Socke
 



 
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