Herzmuschel (Text zum Einstand)

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Epistula

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Sie war an den Strand gefahren.
Nachdem sie eine Weile in die eine Richtung gelaufen war, lief sie in die andere, hob Muscheln auf und ließ sie wieder fallen. Dann nahm sie eine Handvoll Sand, ließ ihn durch die Finger rieseln, schaute den Sandkörnern hinterher, wie sie in ihrer Einförmigkeit unter ihresgleichen verschwanden - so wie ein jeder Tag in ihrem Leben. Sie atmete tief ein und wieder aus.
Und traf eine Entscheidung.
Etwas von dem Sand füllte sie in die Tasche ihres Mantels und schlenderte weiter. Muschelsplitter knirschten unter ihren Schuhsohlen. Eine ungebrochene Hälfte hob sie auf, eine Herzmuschel, befühlte die harte, geriffelte Schale. Hannes kam ihr in den Sinn und sie umschloss die Muschel fest mit den Fingern, immer fester, bis eine scharfe Kante sich in das Fleisch ihrer Hand bohrte.
Sie warf die Muschel weg.
Und starrte zum Horizont.
Später hockte sie sich hin, malte mit dem Zeigefinger in dem Sand, malte ein Herz, schrieb Buchstaben hinein, schrieb: „Luise“, und: „Anton“.
Luise und Anton waren sich bei einem Spaziergang im Park begegnet. Er war ihr entgegengekommen und hatte den Blick nicht von ihr gelassen. Dabei hielt er die Hand über die Augen, als wäre sie die Sonne, die ihn blenden würde. Obwohl der Himmel voller Wolken war. Sie blieb einfach stehen und wartete, bis er sie erreichte. Seit diesem Tag verabredeten sie sich, um gemeinsam spazieren zu gehen. Luise dachte an die Treffen auf einsamen Feldwegen und daran, wie sie dicht nebeneinander liefen, die Köpfe gesenkt, als würden sie auf dem Boden nach einer Lösung suchen.
Anton erzählte von Büchern, die er gelesen, und von Gemälden, die er gesehen hatte, er berichtete von fernen Ländern und deren Kulturen. Und mit seiner leisen Stimme trug er Luise in Welten, die ihr bisher verborgen geblieben waren.
Oft las Anton ihr seine Gedichte vor, die sie nicht verstand. Aber sie glaubte, dass sie von Liebe handelten, und Leid, von Leben und Tod. Luise fühlte seine Hand, die ab und zu die ihre suchte, manchmal sah er ihr tief in die Augen, selten gab er ihr einen Kuss auf die Wange.
Mehr nicht.
Und doch so viel.
Sie setzte sich neben das Herz im Sand, betrachtete die Worte, die Namen, und lächelte und eine Träne rann über ihre Wange. Während sie die Konturen immer tiefer in den feuchten Sand grub, dachte sie an Anton und seine Gedichte, dachte an dies und das, schließlich erinnerte sie sich an längst vergangene Zeiten mit Hannes, als sie frisch verheiratet und die Kinder noch klein waren.
Gemeinsam hatten sie sich auf den Weg gemacht, ihre Träume zu verwirklichen. Sie hatten von einer Familie geträumt und von einem Haus aus roten Backsteinen. Inzwischen begannen die Fugen zwischen den Backsteinen zu bröckeln. Die Kinder waren bald erwachsen.
Sie hatten alles erreicht.
Glückseligkeit nicht.
An irgendeinem Punkt musste sich der Weg gegabelt haben und es schien, als wären sie in verschiedene Richtungen gewandert, ohne es zu bemerken.
Luise hob den Kopf und betrachtete die Sonne, wie sich diese zum Abend senkte, wie sie Stück für Stück vom Horizont verschluckt wurde.
Und sie überlegte, wann Hannes und sie sich das letzte Mal unterhalten, wann sie das letzte mal gelacht hatten.
Es war lange her.
Nur die Erinnerungen waren geblieben.
Die Gegenwart schmerzte.
In die Zukunft schauen funktionierte nicht.
Und so malte Luise Herzen im Sand und träumte ihr Leben.
Ihr wurde kalt.

Sie erhob sich und ging zum Wagen, der inzwischen mit einer Schicht aus feinem Sand bedeckt war. Mit einem Taschentuch wischte sie die Windschutzscheibe frei, bis sie sich darin spiegeln konnte. Ihre Züge wurden durch das dicke Glas zu einer Maske verzerrt, hinter die sie selbst nicht zu schauen vermochte. Abrupt wandte sie sich ab.
Sie stieg ein.
Hannes würde bereits warten.
Im Auto öffnete sie das Handschuhfach, suchte nach der Kassette, spulte das Lied ein, von Elvis, das er seit einigen Wochen nur für sie zu singen schien: „Release me“.
Sie startete den Wagen.
Hannes hörte gerne Liebeslieder, verehrte Elvis, liebte sie.
Irgendwie.
Dennoch würde sie es ihm sagen, sagen, dass sie fort ginge. Zuerst würde er ihr nicht glauben und zum Kühlschrank gehen, eine Bierflasche herausnehmen, sie öffnen und zum Herd schauen. Seine Augen würden den dampfenden Kochtopf suchen.
Der aber stand im Schrank und dampfte nicht.
Dann würde Hannes seine kräftigen Augenbrauen hochziehen, sie ansehen und sie würde ihre Worte wiederholen, so lange, bis er verstand und er würde den Kopf schütteln, traurig werden, später schweigen, heimlich weinen.
Vielleicht.
Sie parkte den Wagen vor der Garage und betrat das Haus. Langsam schlüpfte sie aus den Halbschuhen und stellte sie in den Schuhschrank. Sie tupfte mit ihrem Mittelfinger ein Sandkorn vom Fliesenboden und ließ ihre Hand in die Manteltasche gleiten, um den Sand darin zu fühlen. Dann zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe. Noch einmal überlegte sie ihre Worte, wollte hören, wie sie es ihm sagen würde, sehen, was passieren würde, fühlen, was sie fühlen würde. Was Hannes fühlen würde.
Das Blut rauschte in ihren Ohren.
Meeresrauschen, dachte sie, und straffte ihr Rückgrat. Luise bewegte sich in Richtung Küche, Schritt für Schritt. Sie blieb stehen und sie ging weiter, strich sich energisch das Haar aus dem Gesicht, rief sich fremde Welten, Antons leises Lachen ins Gedächtnis;
sah Hannes.
Wie er vor dem Kühlschrank gerade eine Bierflasche öffnete.
Wie er auf den Herd schaute, auf dem nichts stand. Wie er die Augenbrauen hochzog. Wie sein Haar ergraut und sein Rücken krumm geworden war, die Hände zerschunden von harter Arbeit.
Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. Auf einmal erinnerte sie sich an seinen Gesichtsausdruck, als er sie das erste Mal angesehen hatte. In dem Moment, als er sie erblickte, weiteten sich seine Augen, er blieb reglos stehen und starrte sie an. Luise hatte zurück gestarrt. Nach unendlichen Sekunden hatte Hannes den Blick abgewendet und er war rot geworden.
Er fragte:
„Was gibt es zu essen?“
Luise zuckte zusammen, wurde von Gedanken überrollt, Gedanken an Feldwege und Backsteinhäuser, fremde Welten und Weggabelungen. Sie blickte auf den Herd, etwas länger aus dem Fenster, dann wieder auf ihn.
Und antwortete: „Pfannkuchen mit Speck.“
„Schön“, sagte er, nahm einen Schluck Bier und stellte die Flasche auf die Arbeitsfläche neben dem Herd.
„Ich werde inzwischen das Auto waschen.“
Beim Hinausgehen nickte Hannes ihr zu.
Luise nickte zurück, dachte an das Herz im Sand, dessen Konturen von der Zeit abgetragen würden, und bereitete den Teig.
 



 
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