Herzstein

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Araluen

Mitglied
Seit die Wölfe zurückdenken konnten, wachten sie über den Herzstein. Der Wald und alles Leben in ihm würden verwelken wie eine ausgerissene Blüte, sollte ihm ein Leid geschehen. Auch Karan wusste dies und trabte stolz hinter seiner Mutter her. Heute war der Tag seiner ersten Wache. Er war nun endlich kein Welpe mehr und würde das auch beweisen. Dennoch kroch ein Winseln seiner Kehle und geduckt klemmte er seine Rute zwischen die Hinterläufe, als sie ihr Ziel erreichten. Drohend erhob sich der gezackte Fels zwischen den Bäumen, als wollte er mit seinem dunklen Schlund jeden verschlingen, der sich ihm näherte. Erst durch das geringschätzige Schnauben der Alpha bemerkte Karan, dass er seine Mutter warten ließ. Eilig folgte er ihr mitten hinein in die Finsternis.

Schnell gab er es auf, die Schritte in der allumfassenden Dunkelheit zu zählen und bemühte sich lediglich den Kontakt zu seiner Mutter nicht zu verlieren, bis er unvermittelt mit ihr zusammenstieß. Vorsichtig lugte Karan an der Wölfin vorbei. Auf einem Fels ruhte ein glutroter Stein, so groß wie ein Fasanenei, und glühte sanft pulsierend in der Dunkelheit. Neugierig schob sich Karan an der Wölfin vorbei, um den Stein mit der Nase zu berühren. Kaum tat er dies, raste ein warmer Puls durch seinen ganzen Körper. Für einen kurzen Augenblick glaubte Karan überall gleichzeitig im Wald zu sein und ihm wurde schwindlig. Er bemerkte kaum, wie ihn die graue Wölfin wieder nach draußen führte und am Eingang der Höhle auf seinem Wachtposten zurück ließ. Schon bald wich der Rausch jedoch gähnender Langeweile. Die Sonne war schon weit gewandert, aber es würde noch eine Ewigkeit dauern, ehe ein Jäger ihm Beute bringen würde. Dabei hatte er solchen Hunger. Frustriert bettete Karan seinen Kopf auf die Vorderpfoten und versuchte an etwas anderes zu denken. Plötzlich raschelte es im Gebüsch. Sofort spitzte Karan die Ohren. Kaninchenwitterung stieg ihm verführerisch in die Nase. Natürlich wusste er, dass er seinen Platz nicht verlassen durfte. Doch der Hunger war stärker. Nach kurzer Hatz musste Karan allerdings aufgeben. Das Kaninchen war in einem Erdloch verschwunden. Missmutig trabte er zum Höhleneingang zurück und sah einen Schatten im Unterholz verschwinden.
Karan erstarrte.
Dann rannte er los. Er durfte die Fährte nicht verlieren.

Dornige Ranken verfingen sich immer wieder in seinem Fell, während er dem Dieb hinterher hetzte, dessen buschige, rote Rute immer wieder schadenfroh durch das Unterholz blitzte. Knurrend verlängerte Karan seine Schritte und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Fuchs zu. Sie überschlugen sich gemeinsam. Mit einem dumpfen Geräusch prallte der Herzstein auf den Boden und hüpfte in einen Graben hinab. Überrascht konnte Karan nur noch aufjaulen, als er mit dem Fuchs zusammen den gleichen Weg hinab in den Nebel nahm, der am Grund des Grabens waberte.

Als Karan wieder zu sich kam, war er allein und konnte kaum seine Pfoten sehen. Es schien, als würde der Nebel alles um ihn herum mit seiner klammen Umarmung ersticken. Karan spürte, dass ihn etwas beobachtete. Leise knurrend und mit gesträubtem Fell erhob er sich und schritt tiefer in den Nebel hinein. Es war ganz nahe. Mit jedem Schritt überkam Karan mehr das Gefühl vom Jäger zur Beute zu werden. Kurz blitzte etwas vor ihm auf. Sofort schoss Karan darauf zu, musste aber feststellen, dass es der Nebel gewesen war, der ihm aufgelauert hatte. Eisige Finger packten den Wolf und grauer Dunst kroch ihm in den Rachen, wirbelte vor seinen Augen. Heißkalter Schmerz waberte durch Karans ganzen Körper und ließ sein klägliches Jaulen in einen erstickten Schrei münden. Das sanfte Glühen des Herzsteins war das letzte, was er sah, ehe seine Welt im Nebel versank.

Es war sicher noch zu früh, um aufzuwachen. Karan drehte sich auf die Seite und bedeckte seine Augen, damit das Licht ihn nicht weiter blenden konnte. Spitze Steine bohrten sich zum Ausgleich in seine Rippen. Stöhnend gab Karan schließlich nach und rappelte sich schwerfällig auf. Sofort schüttelte krampfhafter Husten seinen Körper und er würgte wabernde Nebelfetzen hervor, die langsam zwischen den Kieselsteinen versickerten. Doch Karan starrte nur gebannt auf seine Pfoten und stellte verwirrt fest, dass die seltsam langen, nackten Zehen mit den kurzen Krallen tatsächlich ihm gehören mussten. Endlich bemerkte Karan auch den furchtbaren Gestank – schlimmer als Aas in der Sonne.
Er befand sich am Ufer eines Sees. Das Wasser schillerte in bunten Farben und kränkliche Pflanzen krallten sich an das steinige und verdreckte Ufer. Um Nichts in der Welt hätte Karan auch nur einen Schluck getrunken. Trotzdem kroch er auf das Wasser zu, um sein Spiegelbild zu betrachten. Nicht nur seine Pfoten hatten sich verändert. Fassungslos tastete er sein haarloses Gesicht mit der viel zu flachen Schnauze ab, das von einer dichten, braunen Mähne umrahmt wurde. Immerhin seine Wolfsohren waren so geblieben, wie sie sein sollten. Dafür war auch der wärmende Pelz verschwunden und er fröstelte in der leichten Brise. Stattdessen war ihm ein feines, dünnes Fell umgelegt worden, das um seinen nackten Körper lose schlackerte.
Karan, der einst ein Wolf war, verstand seine Welt nicht mehr.
Wohin hatte der Nebel ihn gebracht und was für ein Tier war aus ihm geworden und warum?
Er lauschte, doch den Gesang der Vögel suchte er vergebens. Ihn umgab eine gespenstische Stille, die plötzlich unterbrochen wurde, als ein Donnern den Geröll bedeckten Boden erzittern ließ. Kaum hatte Karan sich von dem Schreck erholt, geschah es erneut und endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Es dauerte einen Moment, ehe er es wagte, sich vom stinkenden Ufer zu entfernen. Schnell fand er heraus, dass es auf zwei Beinen für ihn angenehmer war zu gehen, auch wenn er sich unbeholfen vorkam.
Unvermittelt nahm er einen vertrauten Geruch war.
Der Dieb war hier gewesen.

Er fand eine seltsame Landschaft vor, als er den See hinter sich ließ. Monster aus Blech rasten schneller, als ein Hase laufen konnte, über breite, graue und stinkende Flüsse. Karan entdeckte noch mehr Zweibeiner wie ihn. Überall strömten sie aus großen, gleichförmigen Felsen oder schauten aus den Bäuchen der rasenden Monster. Alles war schnell und laut. In der Luft lag ein Gestank, der Karan den Atem raubte und kein einziger Baum breitete sein dichtes Blätterdach über ihm aus. Nur dichte, graue Wolken verdeckten trostlos den Himmel und begruben jede Hoffnung auf einen Sonnenstrahl.
Karan fühlte sich völlig verloren. Lediglich die schwache Fährte des Fuchses trieb ihn an, dennoch weiter zu gehen und führte ihn einem Abgrund entgegen, zu dem zahlreiche Zweibeiner strömten. Wieder einmal bebte die Erde, diesmal direkt unter Karan, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donnern, das langsam verebbte.
»S-Bahnhof Heerstraße. Übergang zum Bus. Bitte Einsteigen!«
In das laute, monotone Gebell mischte sich ein ohrenbetäubendes Quäken und orientierungslos wurde Karan von den hektischen Zweibeiner einfach mitgerissen.
»Oh, Vorsicht!«
Ehe Karan reagieren konnte, stolperte er gegen ein Weibchen. Mehrere seltsame Dinge purzelten scheppernd zu Boden. »Tut mir leid«, stammelte Karan.
»Halb so wild. Das kann man aufheben«, was das Weibchen auch sofort tat, »Ist bei dir alles in Ordnung?«
Statt zu antworten, beeilte sich Karan beim Aufheben behilflich zu sein, aus Angst noch einmal seine eigene so fremd klingende Stimme zu hören.
»Sehr gesprächig bist du nicht gerade«, meinte das Weibchen amüsiert und deutete vollgepackt auf etwas, das ganz unten am Fuß des Abgrunds lag. Eilig brachte Karan ihr das bunte Klimperding.
»Danke. Ida.«
Sie hielt ihm ihre Pfote hin. Doch Karan reagierte nicht. Deshalb beugte sie sich verschwörerisch zu ihm vor und flüsterte: »Also normalerweise würdest du mir jetzt die Hand geben und dich auch vorstellen. Aber wenn du nicht magst, ist das auch in Ordnung.«
Es dauerte ein paar Atemzüge, ehe er verlegen die dargebotene Hand ergriff. Diese Geste war so seltsam wie alles hier.
»Karan.«
Er beugte sich vor, um ihr über die Lefzen zu lecken, wie er es aus dem Rudel kannte, aber Ida legte ihm die Hand auf die Nase und schob ihn sacht fort.
»Ich bin dir zwar dankbar, Karan, aber so sehr nun auch wieder nicht.«
Karan ließ verlegen die Ohren hängen.
»Soll ich dir helfen, die Beute zum Bau zu bringen?«
»Du bist wirklich nicht von hier, oder? Wenn du mir erzählst, wo jemand wie du herkommt, gern.«
Einen Moment blickten sie einander an und Idas Augen, die die Farbe von Abendhimmel hatten, wurden zu Karans ganzer Welt.
»Aus dem Wald. Ich suche einen Fuchs. Er hat etwas, das mir gehört.«
Ida sah Karan lange an, ehe sie ihm von ihren Sachen abgab und den Weg zu ihrem Bau einschlug.
»Ich mag übrigens deine Ohren«, erklärte Ida im Gehen und warf Karan einen frechen Seitenblick zu.
»Ich mag deinen Geruch.«
»Ach, wie rieche ich denn?«
»Wie ein Sommertag im Wald nach einem Gewitter.«
Ida legte den Kopf schief und lächelte warm.
»So, wie du das sagst, muss das sehr schön sein.«
Jeder Wolf hat einen Seelengefährten. Er erkennt ihn an seinen Augen und seinem Geruch. Nun wusste Karan, dass dies stimmte.

Auf dem Weg fragte Ida den Wolf aus. Vor allem der Wald interessierte sie und Karan musste ihr alles erzählen, was ihm dazu einfiel. Auch vom Rudel, dem Herzstein und wie er gestohlen wurde, berichtete er. So langsam gewöhnte er sich sogar an den Klang seiner Stimme und die seltsamen Bewegungen seiner Lefzen und Zunge dabei.
»Deine Geschichte klingt ziemlich verrückt«, beschloss Ida. Karan widersprach dem nicht.
»Warum gibt es hier keine Bäume?«, fragte er stattdessen, als er Idas Beute in ihrem Bau ablegte. Ida wohnte in einem kleineren Wohnfelsen unweit des Bahnhofs. Ihre Bau war klein aber sehr gemütlich und genauso bunt wie ihr Fell, unter dem sie zu Karans Erstaunen ein weiteres trug.
»Irgendwann haben sie ihre Wurzeln gepackt und sind woanders hingegangen. Wilde Natur gibt es auf der ganzen Welt schon lange nicht mehr. Nun müssen wir eben ohne zurecht kommen. Omama könnte dir eine Menge dazu erzählen. Magst du einen Tee?«
Karan wusste zwar nicht, was Tee war, aber er blieb und verbrannte sich direkt die Zunge an dem heißen Wasser. Um seine Zunge zu kühlen, bot Ida ihm einen Schluck Milch an. Der Wolf war beleidigt. Nur Welpen tranken Milch.
»Du weißt schon, dass du ziemlich schräg drauf bist? Aber irgendwie ist das auch süß«, meinte Ida lächelnd dazu und sprang dann auf, als ihr etwas einfiel, »Du solltest etwas anderes anziehen. Bei deinem Aufzug kommen die Leute nur auf dumme Gedanken.«
Ida fand ein paar Sachen, die ihr letzter Freund wohl vergessen hatte und Karan nun gegen seine Tunika tauschte.
»Wieso glaubst du mir eigentlich?«, wollte er wissen, als sie es sich auf dem Sofa, wie Ida das weiche Ding nannte, bequem machten.
Ida zuckte nur mit den Schultern.
»Es gibt die verrücktesten Dinge. Du solltest wirklich mit Omama sprechen. Vielleicht kann sie dir sogar helfen. Aber sie kommt erst am Wochenende wieder. Weißt du, wo du bis dahin bleibst?«
Karan schüttelte den Kopf, bis ihm der See einfiel.
»Du meinst aber nicht den Teufelssee oder? Diese stinkende Schutthalde?«, als Karan aber doch unsicher bejahte, schüttelte Ida den Kopf, »Kommt nicht in Frage! Dann schläfst du hier auf dem Sofa.«
Damit war es beschlossen.

In den folgenden Tagen versuchten Karan und Ida, den Fuchs zu finden. Schnell mussten sie jedoch feststellen, dass sie damit nicht so leicht Erfolg haben würden, wie gedacht. Berlin, wie Ida diesen gewaltigen Ort aus Stein und Metall genannt hatte, war scheinbar noch riesiger als der große Wald. Außerdem schienen die rasenden Monster und donnernden Schlangen jeden samt seiner Fährte zu verschlucken, vielleicht sogar für immer. Ida bemühte sich, Karans zunehmende Frustration zu zerstreuen und zeigte ihm die Stadt - das Brandenburger Tor, den Potsdamer Platz. Sie flanierten durch Einkaufspassagen und aßen Eis am großen Wasserklops. Karan war überwältigt von dieser neuen Welt, obwohl sie dreckig und laut war. Fast jeden Tag heulten Sirenen ihre Smogwarnung und forderten damit die Bewohner auf, einen Mundschutz zu tragen. Ida erklärte Karan all dies. Anfangs verwirrten ihn die vielen neuen Worte. Doch langsam gewöhnte er sich daran und auch an Idas Gegenwart. Für ihn war es, als hätte sie schon immer zu seinem Rudel gehört, wenn sie ihn mit diesem offenen Lächeln ansah. Ihre Art bezauberte ihn auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte, und Ida erging es ähnlich.

So verging die Zeit wie im Flug. Der Herzstein war vergessen und auch der Besuch bei Omama. Ohne wirklich darüber zu sprechen, stellten die beiden ihre Suche ein und genossen einfach das Glück, sich gefunden zu haben.
An einem Nachmittag entdeckte Karan ein riesiges Gebilde aus Glas, Metall und Solarpaneelen, das ihn auf seltsame Art an einen Baum erinnerte. Es handelte sich um einen Sky Tree. Wie früher die Bäume sollten sie aus Sonnenlicht Energie gewinnen und vor allem die Luft reinigen. Richtig stolz klang Ida bei der Erklärung. Immerhin hatte ihr Vater damals an dem Projekt mitgearbeitet, bevor er bei einem Unfall mit seiner Frau ums Leben kam.
»Richtige Bäume sehen anders aus«, befand Karan.
»Irgendwann musst du mir mal welche zeigen und Waldtiere. Ich würde gerne einmal ein wildes Tier in Freiheit sehen. Hier gibt es sie nur noch im Zoo.«
»Können wir dorthin gehen?«

Am nächsten Tag betraten Ida und Karan den Berliner Zoo durch das Löwentor. Elefanten zur Rechten und Nashörner zur Linken empfingen sie in kargen Gehegen. Neugierig betrachtete Karan die seltsamen Tiere, wie Giraffen, Robben und Tapire. Beim Anblick der Steinböcke lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Ihre Mittagspause verbrachten sie in der Zooschenke und beobachteten bei Pommes und Chicken Nuggets die spielenden Kinder. Plötzlich hörte er ein vertrautes Geräusch.
Wölfe.
Ida kam kaum hinterher, als er los rannte.
»Hier bist du«, keuchte Ida, als sie ihn eingeholt hatte, »Du hast die Wölfe gefunden.«
Da waren sie. Fünf große, weiße Wölfe. Ein Tierpfleger warf den bettelnden Tieren gerade große Fleischbrocken zu. Karan nickte nur und trat an die Verglasung heran, die eine Ecke der Umfriedung einnahm. Dort stand eine Wölfin, blickte stolz und wachsam auf ihr Rudel. Er spürte, dass sie anders als die anderen war, ungezähmt. Sie wandte sich ihm zu und ihre Blicke verhakten sich.
Verächtlich kräuselte die Wölfin die Lefzen, nahm ihre Ration und schritt elegant davon.
»Ich bin kein Wolf mehr«, unterbrach Karan endlich die Stille.
»Wie meinst du das? Natürlich bist du ein Wolf.«
Karan schüttelte den Kopf.
»Ich habe mein Rudel im Stich gelassen. Ich habe vergessen, warum ich hier bin.«
»Das ist nicht wahr.« Das schlechte Gewissen nagte mit einem Mal an Ida.
»Gehen wir zu Omama. Sie weiß Rat.«

Zum ersten Mal, seit er durch den Nebel gegangen war, hatte Karan das Gefühl, frei durchatmen zu können, als er Ida in den Blumenladen folgte. Überall grünte und blühte es. Dennoch stimmte etwas nicht. Die Pflanzen wirkten leblos. Ihnen fehlten die Wurzeln. Karan wies Ida darauf hin.
»Das sind Schnittblumen. Natürlich haben sie keine Wurzeln«, erklärte Ida verwundert.
Ehe sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, betrat ein sehr altes Weibchen den Laden durch eine hintere Tür. Es erinnerte Karan sofort an Ida, denn trotz der Zeichen des Alters war die Ähnlichkeit nicht zu leugnen.
»Wen hast du denn hier mitgebracht, Ida?“, fragte es direkt und umarmte Ida herzlich, »Schön, dass du da bist, Kind.«
»Hallo, Omama. Das ist Karan. Wir sind vor ein paar Tagen an der S-Bahn zusammen gestoßen und«, unterbrach sich Ida und atmete einmal tief durch, »Omama, ich glaube, ich habe Mist gebaut. Wir hätten schon vor Tagen hierher kommen sollen.«
Nun betrachtete Omama die beiden mit wachsender Neugier. Karan beschlich das Gefühl, dass Omama direkt in ihn hinein sehen und den Wolf im Fell eines Zweibeiners erkennen konnte.
»Das ist doch nicht möglich«, hauchte Omama tatsächlich. Sie trat näher und strich Karans Haar etwas zur Seite, sodass seine Wolfsohren auffällig hervor blitzten. »Was tust du hier?«
»Kennt ihr euch etwa?«, wollte Ida wissen, doch beide schüttelten den Kopf.
»Ich suche einen Fuchs. Er hat den Herzstein gestohlen. Ich habe ihn durch den Wald gejagt. Aber dann kam der Nebel und ich bin vor acht Tagen an einem stinkenden See so aufgewacht«, antwortete Karan endlich auf Omamas Frage und blickte an sich hinab, ehe er fortfuhr, »Dann habe ich Ida getroffen.«
Nun war es raus. Einen Moment herrschte Schweigen.
»Sei so gut, Ida, und schließe den Laden für einen Moment! Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen und manche Dinge lassen sich besser bei einer Tasse Tee erzählen.«

Omama bewohnte eine gemütliche Wohnhöhle über dem Laden. Karan und Ida versanken nebeneinander in einem alten Sofa, während Omama Tee und Gebäck auf den Tisch stellte.
»Du bist also ein Wolf. Wer hätte das gedacht?«, eröffnete Omama und sah beide streng an, »Ihr hättet wirklich früher herkommen sollen. Du hättest es besser wissen müssen, Ida.«
Ida nickte reumütig.
»Was hätte Ida wissen müssen?«, fragte Karan.
Omama ging nicht auf die Frage ein.
»Nun hör mir erst einmal gut zu! Danach kannst du mich mit Fragen löchern. Wo fange ich nur an? Wisst ihr? Berlin sah nicht immer so kalt und grau aus. Als ich ein kleines Mädchen war, erstreckte sich ein Wald über die halbe Stadt, der Grunewald. Nicht weit von hier ging ich unter seinen Bäumen zur Schule. Überall in Deutschland und der ganzen Welt war die Natur zu finden. Denkt nur an riesige Urwälder am Amazonas, wilde Tiere in der afrikanischen Savanne und riesige Fischschwärme im Atlantik.«
»Aber wo ist der Wald? Ich habe noch keinen Baum gesehen«, fiel ihr Karan ins Wort.
»Er ging fort und mit ihm die ganze Natur. Denn Menschen sind nun einmal Menschen. Ohne Rücksicht beuteten sie die Natur aus. Schon als ich ein kleines Mädchen war, waren die Meere völlig überfischt und bedeckt mit Ölteppichen. Jeden Tag verbrannten ganze Fußballfelder Urwald und kaum ein Tier stand nicht auf der Liste der bedrohten Arten. Also brach Mutter Erde ihr eigenes Herz entzwei und damit die Welt. Eine Hälfte ließ sie hier verwahren, von Frauen, denen sie vertraute. Die andere gab sie den Wölfen und führte den Wald weit fort von den Menschen. Danach war ihre Kraft erschöpft und sie wurde zu Nebel, der seither die beiden Welten voneinander trennt. Genauso ist es geschehen. Ich war dabei. Du hättest den Herzstein nicht verlieren dürfen, junger Wolf. Er ist das kostbarste, was deine Welt noch besitzt. Und ihr hättet schon viel eher zu mir kommen müssen.«
»Er wurde gestohlen«, stellte Karan klar, »Und ich bringe ihn wieder zurück, auch wenn ich nicht weiß wie.«
»Da kann ich dir vielleicht helfen. Ida, sei so gut und hole bitte mein Schmuckkästchen«, bat Omama.
Verwundert betrachtete Karan das Kästchen, das Ida brachte, und den Stein, den Omama daraus hervor holte. Er war von nahezu schwarzer Farbe, in die das Licht einen sanften Rotschimmer zauberte. Ida sprach die Frage aus, die Karan bereits auf der Zunge lag, und Omama nickte.
»Das ist der zweite Herzstein.«
Karan musste einfach protestieren: »Aber er ist schwarz und nicht rot.«
»Aber er war es einmal. Leider lernen die Menschen selten aus ihren Fehlern«, erklärte Omama betrübt.
»Wie kann der Stein uns helfen, Omama?«
»Sie sind beide Teil eines Herzens und gehören zusammen. Es wird die Nähe des anderen spüren und wieder zu schlagen beginnen.«

Wieder zurück in der Wohnung rückte Ida alle Möbel zur Seite und breitete einen Stadtplan aus.
»Wir pendeln!«, verkündete sie und erklärte es dem Wolf.
»Aber das ist doch nur ein Stück Papier.«
»Es funktioniert. Vertrau mir!« Natürlich tat er das. Er war ein Wolf.
Gemeinsam ließen sie den Herzstein an einer Schnur über den Stadtplan gleiten.
Ein Flackern.
Nur kurz, aber es war da. Ida lächelte. Karan bleckte triumphierend die Zähne. Sofort machten sie sich auf den Weg nach Berlin-Kreuzberg.

Es war keine gute Gegend, in der sie sich befanden. Selbst die beschmierten Hauswände strahlten Bedrohung aus. Unvermittelt stieg Karan ein vertrauter Geruch in die Nase. Er knurrte tief und schüttelte Idas Hand ab, um sich an einen Hauseingang heran zu pirschen. Da saß er. Das rote Haar stand ihm in wirren Strähnen von dem fein geschnittenen Gesicht ab. Er trug zerschlissene Kleidung, die roch, als wäre sie aus dem Müll gefischt worden, und nuckelte an einer Bierflasche. Träge blickte er auf, als Karans Schatten auf ihn fiel. Ihm blieb keine Zeit zu reagieren, als der ihn packte und hart gegen die Hauswand drückte.
»Wo ist er, Fuchs? Rede! Oder ich beiße dir die Kehle durch«, knurrte Karan. Doch der Fuchs lachte nur. Ida zog Karan zurück, damit er den Fuchs frei gab.
»Erzähle uns bitte, was du über den Herzstein weißt«, bat sie.
»Mehr als dein Schoßhund«, spottete der Fuchs.
Der Clan der Füchse wusste schon lange, dass der Herzstein der Schlüssel zu einer anderen Welt war. Immer wieder nutzten sie den Stein, um Schätze des Waldes gegen Fleisch und andere Annehmlichkeiten der Menschenwelt zu tauschen. Es waren die Wölfe, die heraus fanden, dass der Nebel Jungtiere von der Verwandlung verschonte. Die Gier der Menschen kannte keine Grenzen und für einen süßen Welpen zahlten sie einen guten Preis. Die wilden Augen der Wölfin fielen Karan wieder ein und auf einmal machten viele Dingen einen Sinn. Kalte Wut kroch in sein Herz.
»Aber diesmal bist du nicht zurück gekehrt«, schloss Ida und hockte sich neben den Fuchs.
»Ich habe hier alles, was ich brauche. Was kümmern mich die anderen?«, erwiderte er.
»Wo ist der Stein jetzt?«, fragte Ida unbeirrt freundlich nach. Der Fuchs zuckte mit den Achseln und warf Ida einen zerknüllten Zettel zu.
»Verkauft.« Grinsend hob er seine Bierflasche etwas an und trank einen Schluck. Karan spürte, wie er eine halbe, herumliegende Flasche aufhob und warf, als würde jemand anderes ihn führen. Er war so voller Zorn. Das Geschoss krachte in das Gesicht des Fuchses und schlug eine blutige Wunde.
»Warum?« Idas Stimme war nur ein entsetztes Flüstern.
»Er hat es verdient.« Karans Stimme war kalt wie die Dunkelheit in seinem Herzen. Ida schüttelte den Kopf und wich zurück.
»Ida.«
»Geh!« Tränen rannen über Idas Gesicht und sie wandte sich ab.
Er sah noch, wie sie nach ihrem Handy griff, als sie ging, und hektisch telefonierte. Verlassen lag der Fuchs in dem Hauseingang und sein Blut malte verwaschene Tränen in den Beton. Karan spürte, dass er nun in Gefahr war, und ergriff die Flucht. Stundenlang irrte er durch Berlins Straßen. Es hatte zu regnen begonnen. Selbst die glänzenden Sky Trees wirkten wie düstere Skelette. Doch es kümmerte ihn nicht. In ihm war nur Leere und die brennende Frage, wie es so weit hatte kommen können. Er ging immer weiter, vorbei an Menschen, die genauso leer und trostlos aussahen, wie er sich fühlte. Schließlich fand er sich an dem einzigen Ort wieder, der noch Bedeutung für ihn hatte.

Der Teufelssee lag ebenso verlassen da, wie bei Karans Ankunft vor so vielen Tagen. Trotz des Regens trieben Nebelfetzen wie vergessene Träume über den See. Der Nebel beobachtete Karan.
Er spürte es.
Ergeben sank Karan am Ufer auf die Knie.
»Komm und hol mich!«, forderte er matt. Doch diesen Gefallen tat ihm der Nebel nicht, auch wenn er näher kroch und Karan in eine feuchte, undurchdringliche Decke hüllte.
Wie lange er dort saß, wusste Karan nicht. Die Kälte in seinem Herzen spürte er schon lange nicht mehr.
»Karan?«
Seine Ohren zuckten und drehten sich in Richtung der Stimme, die jede Faser seines Körpers direkt zum Klingen brachte.
Knirschende Schritte näherten sich durch das alles verschleiernde Grau.
»Ida.« Tatsächlich stand sie dort. Sie wirkte so zerbrechlich.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus und hüllte ein, was sie nicht zu sagen wagten, während ihre Blicke einander gefangen hielten.
»Kannst du mir verzeihen?«
Ida schüttelte den Kopf.
»Omama hat mir den Kopf gewaschen. Ich habe etwas für dich.«
Die Herzsteine.
Der eine war schwarz und flackerte leicht, während der andere, glutrote Stein sanft pulsierte. Auch in ihm hatte sich Dunkelheit eingenistet.
Der Nebel kroch näher, lauernd und wispernd.
»Ich habe ihn aus dem Pfandhaus. Der Fuchs hatte ihn dort versetzt und mir den Pfandschein gegeben. Er gehört dir.«
Karans Finger schlossen sich um den Stein. Er spürte seine Kraft, wie etwas lang Verlorenes. Dann war da noch etwas. Beide Steine begannen zu glühen und pulsierten im gleichen Takt.
Ein Vogel zwitscherte. Verwirrt blickte Karan auf, als Ida verzückt lachte. Bäume schimmerten durch den dichten Nebel, deren Wurzeln sich in den Schutt zu graben schienen.
»Das ist der Wald?«
Karan brachte nur ein Nicken zustande.
»Er ist wunderschön.«
»Es ist unmöglich. Wir sind doch noch immer am See. Was tun wir jetzt?« Seine Frage war nur ein Flüstern.
»Wir tun das Richtige.«
Ida schmiegte sich in Karans Arme und er vergrub noch einmal seine Nase in ihrem Haar. Tief atmete er ihren vertrauten Duft ein.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Araluen, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Du hast eine spannende Geschichte mit einem ungewöhnlichen Thema geschrieben. Ich gebe zu, ich musste wissen, wie es weiterging. Außerdem gibt es eine Menge Verbindungen zu unserer modernen Welt, über die sich nachzudenken lohnt.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Araluen,

auch von mir ein herzliches Willkommen. Der erste Eindruck den dein Text macht ist wirklich gut, ich freue mich darauf den Rest in den nächsten Tagen lesen. Ich hab beim Antworten vorhin nicht darauf geachtet, dass ich meinen Text an deinem vorbeischiebe, daher gehts zunächst darum dich wieder zurück an die Spitze zu setzen.

Beste Grüße, wir lesen uns!

Blumenberg
 

Araluen

Mitglied
Seit die Wölfe zurückdenken konnten, wachten sie über den Herzstein. Der Wald und alles Leben in ihm würden verwelken wie eine ausgerissene Blüte, sollte ihm ein Leid geschehen. Auch Karan wusste dies und trabte stolz hinter seiner Mutter her. Heute war der Tag seiner ersten Wache. Er war nun endlich kein Welpe mehr und würde das auch beweisen. Dennoch kroch ein Winseln aus seiner Kehle und geduckt klemmte er seine Rute zwischen die Hinterläufe, als sie ihr Ziel erreichten. Drohend erhob sich der gezackte Fels zwischen den Bäumen, als wollte er mit seinem dunklen Schlund jeden verschlingen, der sich ihm näherte. Erst durch das geringschätzige Schnauben der Alpha bemerkte Karan, dass er seine Mutter warten ließ. Eilig folgte er ihr mitten hinein in die Finsternis.

Schnell gab er es auf, die Schritte in der allumfassenden Dunkelheit zu zählen und bemühte sich lediglich den Kontakt zu seiner Mutter nicht zu verlieren, bis er unvermittelt mit ihr zusammenstieß. Vorsichtig lugte Karan an der Wölfin vorbei. Auf einem Fels ruhte ein glutroter Stein, so groß wie ein Fasanenei, und glühte sanft pulsierend in der Dunkelheit. Neugierig schob sich Karan an der Wölfin vorbei, um den Stein mit der Nase zu berühren. Kaum tat er dies, raste ein warmer Puls durch seinen ganzen Körper. Für einen kurzen Augenblick glaubte Karan überall gleichzeitig im Wald zu sein und ihm wurde schwindlig. Er bemerkte kaum, wie ihn die graue Wölfin wieder nach draußen führte und am Eingang der Höhle auf seinem Wachtposten zurück ließ. Schon bald wich der Rausch jedoch gähnender Langeweile. Die Sonne war schon weit gewandert, aber es würde noch eine Ewigkeit dauern, ehe ein Jäger ihm Beute bringen würde. Dabei hatte er solchen Hunger. Frustriert bettete Karan seinen Kopf auf die Vorderpfoten und versuchte an etwas anderes zu denken. Plötzlich raschelte es im Gebüsch. Sofort spitzte Karan die Ohren. Kaninchenwitterung stieg ihm verführerisch in die Nase. Natürlich wusste er, dass er seinen Platz nicht verlassen durfte. Doch der Hunger war stärker. Nach kurzer Hatz musste Karan allerdings aufgeben. Das Kaninchen war in einem Erdloch verschwunden. Missmutig trabte er zum Höhleneingang zurück und sah einen Schatten im Unterholz verschwinden.
Karan erstarrte.
Dann rannte er los. Er durfte die Fährte nicht verlieren.

Dornige Ranken verfingen sich immer wieder in seinem Fell, während er dem Dieb hinterher hetzte, dessen buschige, rote Rute immer wieder schadenfroh durch das Unterholz blitzte. Knurrend verlängerte Karan seine Schritte und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Fuchs zu. Sie überschlugen sich gemeinsam. Mit einem dumpfen Geräusch prallte der Herzstein auf den Boden und hüpfte in einen Graben hinab. Überrascht konnte Karan nur noch aufjaulen, als er mit dem Fuchs zusammen den gleichen Weg hinab in den Nebel nahm, der am Grund des Grabens waberte.

Als Karan wieder zu sich kam, war er allein und konnte kaum seine Pfoten sehen. Es schien, als würde der Nebel alles um ihn herum mit seiner klammen Umarmung ersticken. Karan spürte, dass ihn etwas beobachtete. Leise knurrend und mit gesträubtem Fell erhob er sich und schritt tiefer in den Nebel hinein. Es war ganz nahe. Mit jedem Schritt überkam Karan mehr das Gefühl vom Jäger zur Beute zu werden. Kurz blitzte etwas vor ihm auf. Sofort schoss Karan darauf zu, musste aber feststellen, dass es der Nebel gewesen war, der ihm aufgelauert hatte. Eisige Finger packten den Wolf und grauer Dunst kroch ihm in den Rachen, wirbelte vor seinen Augen. Heißkalter Schmerz waberte durch Karans ganzen Körper und ließ sein klägliches Jaulen in einen erstickten Schrei münden. Das sanfte Glühen des Herzsteins war das letzte, was er sah, ehe seine Welt im Nebel versank.

Es war sicher noch zu früh, um aufzuwachen. Karan drehte sich auf die Seite und bedeckte seine Augen, damit das Licht ihn nicht weiter blenden konnte. Spitze Steine bohrten sich zum Ausgleich in seine Rippen. Stöhnend gab Karan schließlich nach und rappelte sich schwerfällig auf. Sofort schüttelte krampfhafter Husten seinen Körper und er würgte wabernde Nebelfetzen hervor, die langsam zwischen den Kieselsteinen versickerten. Doch Karan starrte nur gebannt auf seine Pfoten und stellte verwirrt fest, dass die seltsam langen, nackten Zehen mit den kurzen Krallen tatsächlich ihm gehören mussten. Endlich bemerkte Karan auch den furchtbaren Gestank – schlimmer als Aas in der Sonne.
Er befand sich am Ufer eines Sees. Das Wasser schillerte in bunten Farben und kränkliche Pflanzen krallten sich an das steinige und verdreckte Ufer. Um Nichts in der Welt hätte Karan auch nur einen Schluck getrunken. Trotzdem kroch er auf das Wasser zu, um sein Spiegelbild zu betrachten. Nicht nur seine Pfoten hatten sich verändert. Fassungslos tastete er sein haarloses Gesicht mit der viel zu flachen Schnauze ab, das von einer dichten, braunen Mähne umrahmt wurde. Immerhin seine Wolfsohren waren so geblieben, wie sie sein sollten. Dafür war auch der wärmende Pelz verschwunden und er fröstelte in der leichten Brise. Stattdessen war ihm ein feines, dünnes Fell umgelegt worden, das um seinen nackten Körper lose schlackerte.
Karan, der einst ein Wolf war, verstand seine Welt nicht mehr.
Wohin hatte der Nebel ihn gebracht und was für ein Tier war aus ihm geworden und warum?
Er lauschte, doch den Gesang der Vögel suchte er vergebens. Ihn umgab eine gespenstische Stille, die plötzlich unterbrochen wurde, als ein Donnern den Geröll bedeckten Boden erzittern ließ. Kaum hatte Karan sich von dem Schreck erholt, geschah es erneut und endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Es dauerte einen Moment, ehe er es wagte, sich vom stinkenden Ufer zu entfernen. Schnell fand er heraus, dass es auf zwei Beinen für ihn angenehmer war zu gehen, auch wenn er sich unbeholfen vorkam.
Unvermittelt nahm er einen vertrauten Geruch war.
Der Dieb war hier gewesen.

Er fand eine seltsame Landschaft vor, als er den See hinter sich ließ. Monster aus Blech rasten schneller, als ein Hase laufen konnte, über breite, graue und stinkende Flüsse. Karan entdeckte noch mehr Zweibeiner wie ihn. Überall strömten sie aus großen, gleichförmigen Felsen oder schauten aus den Bäuchen der rasenden Monster. Alles war schnell und laut. In der Luft lag ein Gestank, der Karan den Atem raubte und kein einziger Baum breitete sein dichtes Blätterdach über ihm aus. Nur dichte, graue Wolken verdeckten trostlos den Himmel und begruben jede Hoffnung auf einen Sonnenstrahl.
Karan fühlte sich völlig verloren. Lediglich die schwache Fährte des Fuchses trieb ihn an, dennoch weiter zu gehen und führte ihn einem Abgrund entgegen, zu dem zahlreiche Zweibeiner strömten. Wieder einmal bebte die Erde, diesmal direkt unter Karan, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donnern, das langsam verebbte.
»S-Bahnhof Heerstraße. Übergang zum Bus. Bitte Einsteigen!«
In das laute, monotone Gebell mischte sich ein ohrenbetäubendes Quäken und orientierungslos wurde Karan von den hektischen Zweibeiner einfach mitgerissen.
»Oh, Vorsicht!«
Ehe Karan reagieren konnte, stolperte er gegen ein Weibchen. Mehrere seltsame Dinge purzelten scheppernd zu Boden. »Tut mir leid«, stammelte Karan.
»Halb so wild. Das kann man aufheben«, was das Weibchen auch sofort tat, »Ist bei dir alles in Ordnung?«
Statt zu antworten, beeilte sich Karan beim Aufheben behilflich zu sein, aus Angst noch einmal seine eigene so fremd klingende Stimme zu hören.
»Sehr gesprächig bist du nicht gerade«, meinte das Weibchen amüsiert und deutete vollgepackt auf etwas, das ganz unten am Fuß des Abgrunds lag. Eilig brachte Karan ihr das bunte Klimperding.
»Danke. Ida.«
Sie hielt ihm ihre Pfote hin. Doch Karan reagierte nicht. Deshalb beugte sie sich verschwörerisch zu ihm vor und flüsterte: »Also normalerweise würdest du mir jetzt die Hand geben und dich auch vorstellen. Aber wenn du nicht magst, ist das auch in Ordnung.«
Es dauerte ein paar Atemzüge, ehe er verlegen die dargebotene Hand ergriff. Diese Geste war so seltsam wie alles hier.
»Karan.«
Er beugte sich vor, um ihr über die Lefzen zu lecken, wie er es aus dem Rudel kannte, aber Ida legte ihm die Hand auf die Nase und schob ihn sacht fort.
»Ich bin dir zwar dankbar, Karan, aber so sehr nun auch wieder nicht.«
Karan ließ verlegen die Ohren hängen.
»Soll ich dir helfen, die Beute zum Bau zu bringen?«
»Du bist wirklich nicht von hier, oder? Wenn du mir erzählst, wo jemand wie du herkommt, gern.«
Einen Moment blickten sie einander an und Idas Augen, die die Farbe von Abendhimmel hatten, wurden zu Karans ganzer Welt.
»Aus dem Wald. Ich suche einen Fuchs. Er hat etwas, das mir gehört.«
Ida sah Karan lange an, ehe sie ihm von ihren Sachen abgab und den Weg zu ihrem Bau einschlug.
»Ich mag übrigens deine Ohren«, erklärte Ida im Gehen und warf Karan einen frechen Seitenblick zu.
»Ich mag deinen Geruch.«
»Ach, wie rieche ich denn?«
»Wie ein Sommertag im Wald nach einem Gewitter.«
Ida legte den Kopf schief und lächelte warm.
»So, wie du das sagst, muss das sehr schön sein.«
Jeder Wolf hat einen Seelengefährten. Er erkennt ihn an seinen Augen und seinem Geruch. Nun wusste Karan, dass dies stimmte.

Auf dem Weg fragte Ida den Wolf aus. Vor allem der Wald interessierte sie und Karan musste ihr alles erzählen, was ihm dazu einfiel. Auch vom Rudel, dem Herzstein und wie er gestohlen wurde, berichtete er. So langsam gewöhnte er sich sogar an den Klang seiner Stimme und die seltsamen Bewegungen seiner Lefzen und Zunge dabei.
»Deine Geschichte klingt ziemlich verrückt«, beschloss Ida. Karan widersprach dem nicht.
»Warum gibt es hier keine Bäume?«, fragte er stattdessen, als er Idas Beute in ihrem Bau ablegte. Ida wohnte in einem kleineren Wohnfelsen unweit des Bahnhofs. Ihre Bau war klein aber sehr gemütlich und genauso bunt wie ihr Fell, unter dem sie zu Karans Erstaunen ein weiteres trug.
»Irgendwann haben sie ihre Wurzeln gepackt und sind woanders hingegangen. Wilde Natur gibt es auf der ganzen Welt schon lange nicht mehr. Nun müssen wir eben ohne zurecht kommen. Omama könnte dir eine Menge dazu erzählen. Magst du einen Tee?«
Karan wusste zwar nicht, was Tee war, aber er blieb und verbrannte sich direkt die Zunge an dem heißen Wasser. Um seine Zunge zu kühlen, bot Ida ihm einen Schluck Milch an. Der Wolf war beleidigt. Nur Welpen tranken Milch.
»Du weißt schon, dass du ziemlich schräg drauf bist? Aber irgendwie ist das auch süß«, meinte Ida lächelnd dazu und sprang dann auf, als ihr etwas einfiel, »Du solltest etwas anderes anziehen. Bei deinem Aufzug kommen die Leute nur auf dumme Gedanken.«
Ida fand ein paar Sachen, die ihr letzter Freund wohl vergessen hatte und Karan nun gegen seine Tunika tauschte.
»Wieso glaubst du mir eigentlich?«, wollte er wissen, als sie es sich auf dem Sofa, wie Ida das weiche Ding nannte, bequem machten.
Ida zuckte nur mit den Schultern.
»Es gibt die verrücktesten Dinge. Du solltest wirklich mit Omama sprechen. Vielleicht kann sie dir sogar helfen. Aber sie kommt erst am Wochenende wieder. Weißt du, wo du bis dahin bleibst?«
Karan schüttelte den Kopf, bis ihm der See einfiel.
»Du meinst aber nicht den Teufelssee oder? Diese stinkende Schutthalde?«, als Karan aber doch unsicher bejahte, schüttelte Ida den Kopf, »Kommt nicht in Frage! Dann schläfst du hier auf dem Sofa.«
Damit war es beschlossen.

In den folgenden Tagen versuchten Karan und Ida, den Fuchs zu finden. Schnell mussten sie jedoch feststellen, dass sie damit nicht so leicht Erfolg haben würden, wie gedacht. Berlin, wie Ida diesen gewaltigen Ort aus Stein und Metall genannt hatte, war scheinbar noch riesiger als der große Wald. Außerdem schienen die rasenden Monster und donnernden Schlangen jeden samt seiner Fährte zu verschlucken, vielleicht sogar für immer. Ida bemühte sich, Karans zunehmende Frustration zu zerstreuen und zeigte ihm die Stadt - das Brandenburger Tor, den Potsdamer Platz. Sie flanierten durch Einkaufspassagen und aßen Eis am großen Wasserklops. Karan war überwältigt von dieser neuen Welt, obwohl sie dreckig und laut war. Fast jeden Tag heulten Sirenen ihre Smogwarnung und forderten damit die Bewohner auf, einen Mundschutz zu tragen. Ida erklärte Karan all dies. Anfangs verwirrten ihn die vielen neuen Worte. Doch langsam gewöhnte er sich daran und auch an Idas Gegenwart. Für ihn war es, als hätte sie schon immer zu seinem Rudel gehört, wenn sie ihn mit diesem offenen Lächeln ansah. Ihre Art bezauberte ihn auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte, und Ida erging es ähnlich.

So verging die Zeit wie im Flug. Der Herzstein war vergessen und auch der Besuch bei Omama. Ohne wirklich darüber zu sprechen, stellten die beiden ihre Suche ein und genossen einfach das Glück, sich gefunden zu haben.
An einem Nachmittag entdeckte Karan ein riesiges Gebilde aus Glas, Metall und Solarpaneelen, das ihn auf seltsame Art an einen Baum erinnerte. Es handelte sich um einen Sky Tree. Wie früher die Bäume sollten sie aus Sonnenlicht Energie gewinnen und vor allem die Luft reinigen. Richtig stolz klang Ida bei der Erklärung. Immerhin hatte ihr Vater damals an dem Projekt mitgearbeitet, bevor er bei einem Unfall mit seiner Frau ums Leben kam.
»Richtige Bäume sehen anders aus«, befand Karan.
»Irgendwann musst du mir mal welche zeigen und Waldtiere. Ich würde gerne einmal ein wildes Tier in Freiheit sehen. Hier gibt es sie nur noch im Zoo.«
»Können wir dorthin gehen?«

Am nächsten Tag betraten Ida und Karan den Berliner Zoo durch das Löwentor. Elefanten zur Rechten und Nashörner zur Linken empfingen sie in kargen Gehegen. Neugierig betrachtete Karan die seltsamen Tiere, wie Giraffen, Robben und Tapire. Beim Anblick der Steinböcke lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Ihre Mittagspause verbrachten sie in der Zooschenke und beobachteten bei Pommes und Chicken Nuggets die spielenden Kinder. Plötzlich hörte er ein vertrautes Geräusch.
Wölfe.
Ida kam kaum hinterher, als er los rannte.
»Hier bist du«, keuchte Ida, als sie ihn eingeholt hatte, »Du hast die Wölfe gefunden.«
Da waren sie. Fünf große, weiße Wölfe. Ein Tierpfleger warf den bettelnden Tieren gerade große Fleischbrocken zu. Karan nickte nur und trat an die Verglasung heran, die eine Ecke der Umfriedung einnahm. Dort stand eine Wölfin, blickte stolz und wachsam auf ihr Rudel. Er spürte, dass sie anders als die anderen war, ungezähmt. Sie wandte sich ihm zu und ihre Blicke verhakten sich.
Verächtlich kräuselte die Wölfin die Lefzen, nahm ihre Ration und schritt elegant davon.
»Ich bin kein Wolf mehr«, unterbrach Karan endlich die Stille.
»Wie meinst du das? Natürlich bist du ein Wolf.«
Karan schüttelte den Kopf.
»Ich habe mein Rudel im Stich gelassen. Ich habe vergessen, warum ich hier bin.«
»Das ist nicht wahr.« Das schlechte Gewissen nagte mit einem Mal an Ida.
»Gehen wir zu Omama. Sie weiß Rat.«

Zum ersten Mal, seit er durch den Nebel gegangen war, hatte Karan das Gefühl, frei durchatmen zu können, als er Ida in den Blumenladen folgte. Überall grünte und blühte es. Dennoch stimmte etwas nicht. Die Pflanzen wirkten leblos. Ihnen fehlten die Wurzeln. Karan wies Ida darauf hin.
»Das sind Schnittblumen. Natürlich haben sie keine Wurzeln«, erklärte Ida verwundert.
Ehe sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, betrat ein sehr altes Weibchen den Laden durch eine hintere Tür. Es erinnerte Karan sofort an Ida, denn trotz der Zeichen des Alters war die Ähnlichkeit nicht zu leugnen.
»Wen hast du denn hier mitgebracht, Ida?“, fragte es direkt und umarmte Ida herzlich, »Schön, dass du da bist, Kind.«
»Hallo, Omama. Das ist Karan. Wir sind vor ein paar Tagen an der S-Bahn zusammen gestoßen und«, unterbrach sich Ida und atmete einmal tief durch, »Omama, ich glaube, ich habe Mist gebaut. Wir hätten schon vor Tagen hierher kommen sollen.«
Nun betrachtete Omama die beiden mit wachsender Neugier. Karan beschlich das Gefühl, dass Omama direkt in ihn hinein sehen und den Wolf im Fell eines Zweibeiners erkennen konnte.
»Das ist doch nicht möglich«, hauchte Omama tatsächlich. Sie trat näher und strich Karans Haar etwas zur Seite, sodass seine Wolfsohren auffällig hervor blitzten. »Was tust du hier?«
»Kennt ihr euch etwa?«, wollte Ida wissen, doch beide schüttelten den Kopf.
»Ich suche einen Fuchs. Er hat den Herzstein gestohlen. Ich habe ihn durch den Wald gejagt. Aber dann kam der Nebel und ich bin vor acht Tagen an einem stinkenden See so aufgewacht«, antwortete Karan endlich auf Omamas Frage und blickte an sich hinab, ehe er fortfuhr, »Dann habe ich Ida getroffen.«
Nun war es raus. Einen Moment herrschte Schweigen.
»Sei so gut, Ida, und schließe den Laden für einen Moment! Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen und manche Dinge lassen sich besser bei einer Tasse Tee erzählen.«

Omama bewohnte eine gemütliche Wohnhöhle über dem Laden. Karan und Ida versanken nebeneinander in einem alten Sofa, während Omama Tee und Gebäck auf den Tisch stellte.
»Du bist also ein Wolf. Wer hätte das gedacht?«, eröffnete Omama und sah beide streng an, »Ihr hättet wirklich früher herkommen sollen. Du hättest es besser wissen müssen, Ida.«
Ida nickte reumütig.
»Was hätte Ida wissen müssen?«, fragte Karan.
Omama ging nicht auf die Frage ein.
»Nun hör mir erst einmal gut zu! Danach kannst du mich mit Fragen löchern. Wo fange ich nur an? Wisst ihr? Berlin sah nicht immer so kalt und grau aus. Als ich ein kleines Mädchen war, erstreckte sich ein Wald über die halbe Stadt, der Grunewald. Nicht weit von hier ging ich unter seinen Bäumen zur Schule. Überall in Deutschland und der ganzen Welt war die Natur zu finden. Denkt nur an riesige Urwälder am Amazonas, wilde Tiere in der afrikanischen Savanne und riesige Fischschwärme im Atlantik.«
»Aber wo ist der Wald? Ich habe noch keinen Baum gesehen«, fiel ihr Karan ins Wort.
»Er ging fort und mit ihm die ganze Natur. Denn Menschen sind nun einmal Menschen. Ohne Rücksicht beuteten sie die Natur aus. Schon als ich ein kleines Mädchen war, waren die Meere völlig überfischt und bedeckt mit Ölteppichen. Jeden Tag verbrannten ganze Fußballfelder Urwald und kaum ein Tier stand nicht auf der Liste der bedrohten Arten. Also brach Mutter Erde ihr eigenes Herz entzwei und damit die Welt. Eine Hälfte ließ sie hier verwahren, von Frauen, denen sie vertraute. Die andere gab sie den Wölfen und führte den Wald weit fort von den Menschen. Danach war ihre Kraft erschöpft und sie wurde zu Nebel, der seither die beiden Welten voneinander trennt. Genauso ist es geschehen. Ich war dabei. Du hättest den Herzstein nicht verlieren dürfen, junger Wolf. Er ist das kostbarste, was deine Welt noch besitzt. Und ihr hättet schon viel eher zu mir kommen müssen.«
»Er wurde gestohlen«, stellte Karan klar, »Und ich bringe ihn wieder zurück, auch wenn ich nicht weiß wie.«
»Da kann ich dir vielleicht helfen. Ida, sei so gut und hole bitte mein Schmuckkästchen«, bat Omama.
Verwundert betrachtete Karan das Kästchen, das Ida brachte, und den Stein, den Omama daraus hervor holte. Er war von nahezu schwarzer Farbe, in die das Licht einen sanften Rotschimmer zauberte. Ida sprach die Frage aus, die Karan bereits auf der Zunge lag, und Omama nickte.
»Das ist der zweite Herzstein.«
Karan musste einfach protestieren: »Aber er ist schwarz und nicht rot.«
»Aber er war es einmal. Leider lernen die Menschen selten aus ihren Fehlern«, erklärte Omama betrübt.
»Wie kann der Stein uns helfen, Omama?«
»Sie sind beide Teil eines Herzens und gehören zusammen. Es wird die Nähe des anderen spüren und wieder zu schlagen beginnen.«

Wieder zurück in der Wohnung rückte Ida alle Möbel zur Seite und breitete einen Stadtplan aus.
»Wir pendeln!«, verkündete sie und erklärte es dem Wolf.
»Aber das ist doch nur ein Stück Papier.«
»Es funktioniert. Vertrau mir!« Natürlich tat er das. Er war ein Wolf.
Gemeinsam ließen sie den Herzstein an einer Schnur über den Stadtplan gleiten.
Ein Flackern.
Nur kurz, aber es war da. Ida lächelte. Karan bleckte triumphierend die Zähne. Sofort machten sie sich auf den Weg nach Berlin-Kreuzberg.

Es war keine gute Gegend, in der sie sich befanden. Selbst die beschmierten Hauswände strahlten Bedrohung aus. Unvermittelt stieg Karan ein vertrauter Geruch in die Nase. Er knurrte tief und schüttelte Idas Hand ab, um sich an einen Hauseingang heran zu pirschen. Da saß er. Das rote Haar stand ihm in wirren Strähnen von dem fein geschnittenen Gesicht ab. Er trug zerschlissene Kleidung, die roch, als wäre sie aus dem Müll gefischt worden, und nuckelte an einer Bierflasche. Träge blickte er auf, als Karans Schatten auf ihn fiel. Ihm blieb keine Zeit zu reagieren, als der ihn packte und hart gegen die Hauswand drückte.
»Wo ist er, Fuchs? Rede! Oder ich beiße dir die Kehle durch«, knurrte Karan. Doch der Fuchs lachte nur. Ida zog Karan zurück, damit er den Fuchs frei gab.
»Erzähle uns bitte, was du über den Herzstein weißt«, bat sie.
»Mehr als dein Schoßhund«, spottete der Fuchs.
Der Clan der Füchse wusste schon lange, dass der Herzstein der Schlüssel zu einer anderen Welt war. Immer wieder nutzten sie den Stein, um Schätze des Waldes gegen Fleisch und andere Annehmlichkeiten der Menschenwelt zu tauschen. Es waren die Wölfe, die heraus fanden, dass der Nebel Jungtiere von der Verwandlung verschonte. Die Gier der Menschen kannte keine Grenzen und für einen süßen Welpen zahlten sie einen guten Preis. Die wilden Augen der Wölfin fielen Karan wieder ein und auf einmal machten viele Dingen einen Sinn. Kalte Wut kroch in sein Herz.
»Aber diesmal bist du nicht zurück gekehrt«, schloss Ida und hockte sich neben den Fuchs.
»Ich habe hier alles, was ich brauche. Was kümmern mich die anderen?«, erwiderte er.
»Wo ist der Stein jetzt?«, fragte Ida unbeirrt freundlich nach. Der Fuchs zuckte mit den Achseln und warf Ida einen zerknüllten Zettel zu.
»Verkauft.« Grinsend hob er seine Bierflasche etwas an und trank einen Schluck. Karan spürte, wie er eine halbe, herumliegende Flasche aufhob und warf, als würde jemand anderes ihn führen. Er war so voller Zorn. Das Geschoss krachte in das Gesicht des Fuchses und schlug eine blutige Wunde.
»Warum?« Idas Stimme war nur ein entsetztes Flüstern.
»Er hat es verdient.« Karans Stimme war kalt wie die Dunkelheit in seinem Herzen. Ida schüttelte den Kopf und wich zurück.
»Ida.«
»Geh!« Tränen rannen über Idas Gesicht und sie wandte sich ab.
Er sah noch, wie sie nach ihrem Handy griff, als sie ging, und hektisch telefonierte. Verlassen lag der Fuchs in dem Hauseingang und sein Blut malte verwaschene Tränen in den Beton. Karan spürte, dass er nun in Gefahr war, und ergriff die Flucht. Stundenlang irrte er durch Berlins Straßen. Es hatte zu regnen begonnen. Selbst die glänzenden Sky Trees wirkten wie düstere Skelette. Doch es kümmerte ihn nicht. In ihm war nur Leere und die brennende Frage, wie es so weit hatte kommen können. Er ging immer weiter, vorbei an Menschen, die genauso leer und trostlos aussahen, wie er sich fühlte. Schließlich fand er sich an dem einzigen Ort wieder, der noch Bedeutung für ihn hatte.

Der Teufelssee lag ebenso verlassen da, wie bei Karans Ankunft vor so vielen Tagen. Trotz des Regens trieben Nebelfetzen wie vergessene Träume über den See. Der Nebel beobachtete Karan.
Er spürte es.
Ergeben sank Karan am Ufer auf die Knie.
»Komm und hol mich!«, forderte er matt. Doch diesen Gefallen tat ihm der Nebel nicht, auch wenn er näher kroch und Karan in eine feuchte, undurchdringliche Decke hüllte.
Wie lange er dort saß, wusste Karan nicht. Die Kälte in seinem Herzen spürte er schon lange nicht mehr.
»Karan?«
Seine Ohren zuckten und drehten sich in Richtung der Stimme, die jede Faser seines Körpers direkt zum Klingen brachte.
Knirschende Schritte näherten sich durch das alles verschleiernde Grau.
»Ida.« Tatsächlich stand sie dort. Sie wirkte so zerbrechlich.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus und hüllte ein, was sie nicht zu sagen wagten, während ihre Blicke einander gefangen hielten.
»Kannst du mir verzeihen?«
Ida schüttelte den Kopf.
»Omama hat mir den Kopf gewaschen. Ich habe etwas für dich.«
Die Herzsteine.
Der eine war schwarz und flackerte leicht, während der andere, glutrote Stein sanft pulsierte. Auch in ihm hatte sich Dunkelheit eingenistet.
Der Nebel kroch näher, lauernd und wispernd.
»Ich habe ihn aus dem Pfandhaus. Der Fuchs hatte ihn dort versetzt und mir den Pfandschein gegeben. Er gehört dir.«
Karans Finger schlossen sich um den Stein. Er spürte seine Kraft, wie etwas lang Verlorenes. Dann war da noch etwas. Beide Steine begannen zu glühen und pulsierten im gleichen Takt.
Ein Vogel zwitscherte. Verwirrt blickte Karan auf, als Ida verzückt lachte. Bäume schimmerten durch den dichten Nebel, deren Wurzeln sich in den Schutt zu graben schienen.
»Das ist der Wald?«
Karan brachte nur ein Nicken zustande.
»Er ist wunderschön.«
»Es ist unmöglich. Wir sind doch noch immer am See. Was tun wir jetzt?« Seine Frage war nur ein Flüstern.
»Wir tun das Richtige.«
Ida schmiegte sich in Karans Arme und er vergrub noch einmal seine Nase in ihrem Haar. Tief atmete er ihren vertrauten Duft ein.
 

Araluen

Mitglied
Seit die Wölfe zurückdenken konnten, wachten sie über den Herzstein. Der Wald und alles Leben in ihm würden verwelken wie eine ausgerissene Blüte, sollte ihm ein Leid geschehen. Auch Karan wusste dies und trabte stolz hinter seiner Mutter her. Heute war der Tag seiner ersten Wache. Er war nun endlich kein Welpe mehr und würde das auch beweisen. Dennoch kroch ein Winseln aus seiner Kehle und geduckt klemmte er seine Rute zwischen die Hinterläufe, als sie ihr Ziel erreichten. Drohend erhob sich der gezackte Fels zwischen den Bäumen, als wollte er mit seinem dunklen Schlund jeden verschlingen, der sich ihm näherte. Erst durch das geringschätzige Schnauben der Alpha bemerkte Karan, dass er seine Mutter warten ließ. Eilig folgte er ihr mitten hinein in die Finsternis.

Schnell gab er es auf, die Schritte in der allumfassenden Dunkelheit zu zählen und bemühte sich lediglich den Kontakt zu seiner Mutter nicht zu verlieren, bis er unvermittelt mit ihr zusammenstieß. Vorsichtig lugte Karan an der Wölfin vorbei. Auf einem Fels ruhte ein glutroter Stein, so groß wie ein Fasanenei, und glühte sanft pulsierend in der Dunkelheit. Neugierig schob sich Karan an der Wölfin vorbei, um den Stein mit der Nase zu berühren. Kaum tat er dies, raste ein warmer Puls durch seinen ganzen Körper. Für einen kurzen Augenblick glaubte Karan überall gleichzeitig im Wald zu sein und ihm wurde schwindlig. Er bemerkte kaum, wie ihn die graue Wölfin wieder nach draußen führte und am Eingang der Höhle auf seinem Wachtposten zurück ließ. Schon bald wich der Rausch jedoch gähnender Langeweile. Die Sonne war schon weit gewandert, aber es würde noch eine Ewigkeit dauern, ehe ein Jäger ihm Beute bringen würde. Dabei hatte er solchen Hunger. Frustriert bettete Karan seinen Kopf auf die Vorderpfoten und versuchte an etwas anderes zu denken. Plötzlich raschelte es im Gebüsch. Sofort spitzte Karan die Ohren. Kaninchenwitterung stieg ihm verführerisch in die Nase. Natürlich wusste er, dass er seinen Platz nicht verlassen durfte. Doch der Hunger war stärker. Nach kurzer Hatz musste Karan allerdings aufgeben. Das Kaninchen war in einem Erdloch verschwunden. Missmutig trabte er zum Höhleneingang zurück und sah einen Schatten im Unterholz verschwinden.
Karan erstarrte.
Dann rannte er los. Er durfte die Fährte nicht verlieren.

Dornige Ranken verfingen sich immer wieder in seinem Fell, während er dem Dieb hinterher hetzte, dessen buschige, rote Rute immer wieder schadenfroh durch das Unterholz blitzte. Knurrend verlängerte Karan seine Schritte und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Fuchs zu. Sie überschlugen sich gemeinsam. Mit einem dumpfen Geräusch prallte der Herzstein auf den Boden und hüpfte in einen Graben hinab. Überrascht konnte Karan nur noch aufjaulen, als er mit dem Fuchs zusammen den gleichen Weg hinab in den Nebel nahm, der am Grund des Grabens waberte.

Als Karan wieder zu sich kam, war er allein und konnte kaum seine Pfoten sehen. Es schien, als würde der Nebel alles um ihn herum mit seiner klammen Umarmung ersticken. Karan spürte, dass ihn etwas beobachtete. Leise knurrend und mit gesträubtem Fell erhob er sich und schritt tiefer in den Nebel hinein. Es war ganz nahe. Mit jedem Schritt überkam Karan mehr das Gefühl vom Jäger zur Beute zu werden. Kurz blitzte etwas vor ihm auf. Sofort schoss Karan darauf zu, musste aber feststellen, dass es der Nebel gewesen war, der ihm aufgelauert hatte. Eisige Finger packten den Wolf und grauer Dunst kroch ihm in den Rachen, wirbelte vor seinen Augen. Heißkalter Schmerz waberte durch Karans ganzen Körper und ließ sein klägliches Jaulen in einen erstickten Schrei münden. Das sanfte Glühen des Herzsteins war das letzte, was er sah, ehe seine Welt im Nebel versank.

Es war sicher noch zu früh, um aufzuwachen. Karan drehte sich auf die Seite und bedeckte seine Augen, damit das Licht ihn nicht weiter blenden konnte. Spitze Steine bohrten sich zum Ausgleich in seine Rippen. Stöhnend gab Karan schließlich nach und rappelte sich schwerfällig auf. Sofort schüttelte krampfhafter Husten seinen Körper und er würgte wabernde Nebelfetzen hervor, die langsam zwischen den Kieselsteinen versickerten. Doch Karan starrte nur gebannt auf seine Pfoten und stellte verwirrt fest, dass die seltsam langen, nackten Zehen mit den kurzen Krallen tatsächlich ihm gehören mussten. Endlich bemerkte Karan auch den furchtbaren Gestank – schlimmer als Aas in der Sonne.
Er befand sich am Ufer eines Sees. Das Wasser schillerte in bunten Farben und kränkliche Pflanzen krallten sich an das steinige und verdreckte Ufer. Um Nichts in der Welt hätte Karan auch nur einen Schluck getrunken. Trotzdem kroch er auf das Wasser zu, um sein Spiegelbild zu betrachten. Nicht nur seine Pfoten hatten sich verändert. Fassungslos tastete er sein haarloses Gesicht mit der viel zu flachen Schnauze ab, das von einer dichten, braunen Mähne umrahmt wurde. Immerhin seine Wolfsohren waren so geblieben, wie sie sein sollten. Dafür war auch der wärmende Pelz verschwunden und er fröstelte in der leichten Brise. Stattdessen war ihm ein feines, dünnes Fell umgelegt worden, das um seinen nackten Körper lose schlackerte.
Karan, der einst ein Wolf war, verstand seine Welt nicht mehr.
Wohin hatte der Nebel ihn gebracht und was für ein Tier war aus ihm geworden und warum?
Er lauschte, doch den Gesang der Vögel suchte er vergebens. Ihn umgab eine gespenstische Stille, die plötzlich unterbrochen wurde, als ein Donnern den Geröll bedeckten Boden erzittern ließ. Kaum hatte Karan sich von dem Schreck erholt, geschah es erneut und endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Es dauerte einen Moment, ehe er es wagte, sich vom stinkenden Ufer zu entfernen. Schnell fand er heraus, dass es auf zwei Beinen für ihn angenehmer war zu gehen, auch wenn er sich unbeholfen vorkam.
Unvermittelt nahm er einen vertrauten Geruch war.
Der Dieb war hier gewesen.

Er fand eine seltsame Landschaft vor, als er den See hinter sich ließ. Monster aus Blech rasten schneller, als ein Hase laufen konnte, über breite, graue und stinkende Flüsse. Karan entdeckte noch mehr Zweibeiner wie ihn. Überall strömten sie aus großen, gleichförmigen Felsen oder schauten aus den Bäuchen der rasenden Monster. Alles war schnell und laut. In der Luft lag ein Gestank, der Karan den Atem raubte und kein einziger Baum breitete sein dichtes Blätterdach über ihm aus. Nur dichte, graue Wolken verdeckten trostlos den Himmel und begruben jede Hoffnung auf einen Sonnenstrahl.
Karan fühlte sich völlig verloren. Lediglich die schwache Fährte des Fuchses trieb ihn an, dennoch weiter zu gehen und führte ihn einem Abgrund entgegen, zu dem zahlreiche Zweibeiner strömten. Wieder einmal bebte die Erde, diesmal direkt unter Karan, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donnern, das langsam verebbte.
»S-Bahnhof Heerstraße. Übergang zum Bus. Bitte Einsteigen!«
In das laute, monotone Gebell mischte sich ein ohrenbetäubendes Quäken und orientierungslos wurde Karan von den hektischen Zweibeiner einfach mitgerissen.
»Oh, Vorsicht!«
Ehe Karan reagieren konnte, stolperte er gegen ein Weibchen. Mehrere seltsame Dinge purzelten scheppernd zu Boden. »Tut mir leid«, stammelte Karan.
»Halb so wild. Das kann man aufheben«, was das Weibchen auch sofort tat, »Ist bei dir alles in Ordnung?«
Statt zu antworten, beeilte sich Karan beim Aufheben behilflich zu sein, aus Angst noch einmal seine eigene so fremd klingende Stimme zu hören.
»Sehr gesprächig bist du nicht gerade«, meinte das Weibchen amüsiert und deutete vollgepackt auf etwas, das ganz unten am Fuß des Abgrunds lag. Eilig brachte Karan ihr das bunte Klimperding.
»Danke. Ida.«
Sie hielt ihm ihre Pfote hin. Doch Karan reagierte nicht. Deshalb beugte sie sich verschwörerisch zu ihm vor und flüsterte: »Also normalerweise würdest du mir jetzt die Hand geben und dich auch vorstellen. Aber wenn du nicht magst, ist das auch in Ordnung.«
Es dauerte ein paar Atemzüge, ehe er verlegen die dargebotene Hand ergriff. Diese Geste war so seltsam wie alles hier.
»Karan.«
Er beugte sich vor, um ihr über die Lefzen zu lecken, wie er es aus dem Rudel kannte, aber Ida legte ihm die Hand auf die Nase und schob ihn sacht fort.
»Ich bin dir zwar dankbar, Karan, aber so sehr nun auch wieder nicht.«
Karan ließ verlegen die Ohren hängen.
»Soll ich dir helfen, die Beute zum Bau zu bringen?«
»Du bist wirklich nicht von hier, oder? Wenn du mir erzählst, wo jemand wie du herkommt, gern.«
Einen Moment blickten sie einander an und Idas Augen, die die Farbe von Abendhimmel hatten, wurden zu Karans ganzer Welt.
»Aus dem Wald. Ich suche einen Fuchs. Er hat etwas, das mir gehört.«
Ida sah Karan lange an, ehe sie ihm von ihren Sachen abgab und den Weg zu ihrem Bau einschlug.
»Ich mag übrigens deine Ohren«, erklärte Ida im Gehen und warf Karan einen frechen Seitenblick zu.
»Ich mag deinen Geruch.«
»Ach, wie rieche ich denn?«
»Wie ein Sommertag im Wald nach einem Gewitter.«
Ida legte den Kopf schief und lächelte warm.
»So, wie du das sagst, muss das sehr schön sein.«
Jeder Wolf hat einen Seelengefährten. Er erkennt ihn an seinen Augen und seinem Geruch. Nun wusste Karan, dass dies stimmte.

Auf dem Weg fragte Ida den Wolf aus. Vor allem der Wald interessierte sie und Karan musste ihr alles erzählen, was ihm dazu einfiel. Auch vom Rudel, dem Herzstein und wie er gestohlen wurde, berichtete er. So langsam gewöhnte er sich sogar an den Klang seiner Stimme und die seltsamen Bewegungen seiner Lefzen und Zunge dabei.
»Deine Geschichte klingt ziemlich verrückt«, beschloss Ida. Karan widersprach dem nicht.
»Warum gibt es hier keine Bäume?«, fragte er stattdessen, als er Idas Beute in ihrem Bau ablegte. Ida wohnte in einem kleineren Wohnfelsen unweit des Bahnhofs. Ihre Bau war klein aber sehr gemütlich und genauso bunt wie ihr Fell, unter dem sie zu Karans Erstaunen ein weiteres trug.
»Irgendwann haben sie ihre Wurzeln gepackt und sind woanders hingegangen. Wilde Natur gibt es auf der ganzen Welt schon lange nicht mehr. Nun müssen wir eben ohne zurecht kommen. Omama könnte dir eine Menge dazu erzählen. Magst du einen Tee?«
Karan wusste zwar nicht, was Tee war, aber er blieb und verbrannte sich direkt die Zunge an dem heißen Wasser. Um seine Zunge zu kühlen, bot Ida ihm einen Schluck Milch an. Der Wolf war beleidigt. Nur Welpen tranken Milch.
»Du weißt schon, dass du ziemlich schräg drauf bist? Aber irgendwie ist das auch süß«, meinte Ida lächelnd dazu und sprang dann auf, als ihr etwas einfiel, »Du solltest etwas anderes anziehen. Bei deinem Aufzug kommen die Leute nur auf dumme Gedanken.«
Ida fand ein paar Sachen, die ihr letzter Freund wohl vergessen hatte und Karan nun gegen seine Tunika tauschte.
»Wieso glaubst du mir eigentlich?«, wollte er wissen, als sie es sich auf dem Sofa, wie Ida das weiche Ding nannte, bequem machten.
Ida zuckte nur mit den Schultern.
»Es gibt die verrücktesten Dinge. Du solltest wirklich mit Omama sprechen. Vielleicht kann sie dir sogar helfen. Aber sie kommt erst am Wochenende wieder. Weißt du, wo du bis dahin bleibst?«
Karan schüttelte den Kopf, bis ihm der See einfiel.
»Du meinst aber nicht den Teufelssee oder? Diese stinkende Schutthalde?«, als Karan aber doch unsicher bejahte, schüttelte Ida den Kopf, »Kommt nicht in Frage! Dann schläfst du hier auf dem Sofa.«
Damit war es beschlossen.

In den folgenden Tagen versuchten Karan und Ida, den Fuchs zu finden. Schnell mussten sie jedoch feststellen, dass sie damit nicht so leicht Erfolg haben würden, wie gedacht. Berlin, wie Ida diesen gewaltigen Ort aus Stein und Metall genannt hatte, war scheinbar noch riesiger als der große Wald. Außerdem schienen die rasenden Monster und donnernden Schlangen jeden samt seiner Fährte zu verschlucken, vielleicht sogar für immer. Ida bemühte sich, Karans zunehmende Frustration zu zerstreuen und zeigte ihm die Stadt - das Brandenburger Tor, den Potsdamer Platz. Sie flanierten durch Einkaufspassagen und aßen Eis am großen Wasserklops. Karan war überwältigt von dieser neuen Welt, obwohl sie dreckig und laut war. Fast jeden Tag heulten Sirenen ihre Smogwarnung und forderten damit die Bewohner auf, einen Mundschutz zu tragen. Ida erklärte Karan all dies. Anfangs verwirrten ihn die vielen neuen Worte. Doch langsam gewöhnte er sich daran und auch an Idas Gegenwart. Für ihn war es, als hätte sie schon immer zu seinem Rudel gehört, wenn sie ihn mit diesem offenen Lächeln ansah. Ihre Art bezauberte ihn auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte, und Ida erging es ähnlich.

So verging die Zeit wie im Flug. Der Herzstein war vergessen und auch der Besuch bei Omama. Ohne wirklich darüber zu sprechen, stellten die beiden ihre Suche ein und genossen einfach das Glück, sich gefunden zu haben.
An einem Nachmittag entdeckte Karan ein riesiges Gebilde aus Glas, Metall und Solarpaneelen, das ihn auf seltsame Art an einen Baum erinnerte. Es handelte sich um einen Sky Tree. Wie früher die Bäume sollten sie aus Sonnenlicht Energie gewinnen und vor allem die Luft reinigen. Richtig stolz klang Ida bei der Erklärung. Immerhin hatte ihr Vater damals an dem Projekt mitgearbeitet, bevor er bei einem Unfall mit seiner Frau ums Leben kam.
»Richtige Bäume sehen anders aus«, befand Karan.
»Irgendwann musst du mir mal welche zeigen und Waldtiere. Ich würde gerne einmal ein wildes Tier in Freiheit sehen. Hier gibt es sie nur noch im Zoo.«
»Können wir dorthin gehen?«

Am nächsten Tag betraten Ida und Karan den Berliner Zoo durch das Löwentor. Elefanten zur Rechten und Nashörner zur Linken empfingen sie in kargen Gehegen. Neugierig betrachtete Karan die seltsamen Tiere, wie Giraffen, Robben und Tapire. Beim Anblick der Steinböcke lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Ihre Mittagspause verbrachten sie in der Zooschenke und beobachteten bei Pommes und Chicken Nuggets die spielenden Kinder. Plötzlich hörte er ein vertrautes Geräusch.
Wölfe.
Ida kam kaum hinterher, als er los rannte.
»Hier bist du«, keuchte Ida, als sie ihn eingeholt hatte, »Du hast die Wölfe gefunden.«
Da waren sie. Fünf große, weiße Wölfe. Ein Tierpfleger warf den bettelnden Tieren gerade große Fleischbrocken zu. Karan nickte nur und trat an die Verglasung heran, die eine Ecke der Umfriedung einnahm. Dort stand eine Wölfin, blickte stolz und wachsam auf ihr Rudel. Er spürte, dass sie anders als die anderen war, ungezähmt. Sie wandte sich ihm zu und ihre Blicke verhakten sich.
Verächtlich kräuselte die Wölfin die Lefzen, nahm ihre Ration und schritt elegant davon.
»Ich bin kein Wolf mehr«, unterbrach Karan endlich die Stille.
»Wie meinst du das? Natürlich bist du ein Wolf.«
Karan schüttelte den Kopf.
»Ich habe mein Rudel im Stich gelassen. Ich habe vergessen, warum ich hier bin.«
»Das ist nicht wahr.« Das schlechte Gewissen nagte mit einem Mal an Ida.
»Gehen wir zu Omama. Sie weiß Rat.«

Zum ersten Mal, seit er durch den Nebel gegangen war, hatte Karan das Gefühl, frei durchatmen zu können, als er Ida in den Blumenladen folgte. Überall grünte und blühte es. Dennoch stimmte etwas nicht. Die Pflanzen wirkten leblos. Ihnen fehlten die Wurzeln. Karan wies Ida darauf hin.
»Das sind Schnittblumen. Natürlich haben sie keine Wurzeln«, erklärte Ida verwundert.
Ehe sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, betrat ein sehr altes Weibchen den Laden durch eine hintere Tür. Es erinnerte Karan sofort an Ida, denn trotz der Zeichen des Alters war die Ähnlichkeit nicht zu leugnen.
»Wen hast du denn hier mitgebracht, Ida?“, fragte es direkt und umarmte Ida herzlich, »Schön, dass du da bist, Kind.«
»Hallo, Omama. Das ist Karan. Wir sind vor ein paar Tagen an der S-Bahn zusammen gestoßen und«, unterbrach sich Ida und atmete einmal tief durch, »Omama, ich glaube, ich habe Mist gebaut. Wir hätten schon vor Tagen hierher kommen sollen.«
Nun betrachtete Omama die beiden mit wachsender Neugier. Karan beschlich das Gefühl, dass Omama direkt in ihn hinein sehen und den Wolf im Fell eines Zweibeiners erkennen konnte.
»Das ist doch nicht möglich«, hauchte Omama tatsächlich. Sie trat näher und strich Karans Haar etwas zur Seite, sodass seine Wolfsohren auffällig hervor blitzten. »Was tust du hier?«
»Kennt ihr euch etwa?«, wollte Ida wissen, doch beide schüttelten den Kopf.
»Ich suche einen Fuchs. Er hat den Herzstein gestohlen. Ich habe ihn durch den Wald gejagt. Aber dann kam der Nebel und ich bin vor acht Tagen an einem stinkenden See so aufgewacht«, antwortete Karan endlich auf Omamas Frage und blickte an sich hinab, ehe er fortfuhr, »Dann habe ich Ida getroffen.«
Nun war es raus. Einen Moment herrschte Schweigen.
»Sei so gut, Ida, und schließe den Laden für einen Moment! Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen und manche Dinge lassen sich besser bei einer Tasse Tee erzählen.«

Omama bewohnte eine gemütliche Wohnhöhle über dem Laden. Karan und Ida versanken nebeneinander in einem alten Sofa, während Omama Tee und Gebäck auf den Tisch stellte.
»Du bist also ein Wolf. Wer hätte das gedacht?«, eröffnete Omama und sah beide streng an, »Ihr hättet wirklich früher herkommen sollen. Du hättest es besser wissen müssen, Ida.«
Ida nickte reumütig.
»Was hätte Ida wissen müssen?«, fragte Karan.
Omama ging nicht auf die Frage ein.
»Nun hör mir erst einmal gut zu! Danach kannst du mich mit Fragen löchern. Wo fange ich nur an? Wisst ihr? Berlin sah nicht immer so kalt und grau aus. Als ich ein kleines Mädchen war, erstreckte sich ein Wald über die halbe Stadt, der Grunewald. Nicht weit von hier ging ich unter seinen Bäumen zur Schule. Überall in Deutschland und der ganzen Welt war die Natur zu finden. Denkt nur an riesige Urwälder am Amazonas, wilde Tiere in der afrikanischen Savanne und riesige Fischschwärme im Atlantik.«
»Aber wo ist der Wald? Ich habe noch keinen Baum gesehen«, fiel ihr Karan ins Wort.
»Er ging fort und mit ihm die ganze Natur. Denn Menschen sind nun einmal Menschen. Ohne Rücksicht beuteten sie die Natur aus. Schon als ich ein kleines Mädchen war, waren die Meere völlig überfischt und bedeckt mit Ölteppichen. Jeden Tag verbrannten ganze Fußballfelder Urwald und kaum ein Tier stand nicht auf der Liste der bedrohten Arten. Also brach Mutter Erde ihr eigenes Herz entzwei und damit die Welt. Eine Hälfte ließ sie hier verwahren, von Frauen, denen sie vertraute. Die andere gab sie den Wölfen und führte den Wald weit fort von den Menschen. Danach war ihre Kraft erschöpft und sie wurde zu Nebel, der seither die beiden Welten voneinander trennt. Genauso ist es geschehen. Ich war dabei. Du hättest den Herzstein nicht verlieren dürfen, junger Wolf. Er ist das kostbarste, was deine Welt noch besitzt. Und ihr hättet schon viel eher zu mir kommen müssen.«
»Er wurde gestohlen«, stellte Karan klar, »Und ich bringe ihn wieder zurück, auch wenn ich nicht weiß wie.«
»Da kann ich dir vielleicht helfen. Ida, sei so gut und hole bitte mein Schmuckkästchen«, bat Omama.
Verwundert betrachtete Karan das Kästchen, das Ida brachte, und den Stein, den Omama daraus hervor holte. Er war von nahezu schwarzer Farbe, in die das Licht einen sanften Rotschimmer zauberte. Ida sprach die Frage aus, die Karan bereits auf der Zunge lag, und Omama nickte.
»Das ist der zweite Herzstein.«
Karan musste einfach protestieren: »Aber er ist schwarz und nicht rot.«
»Aber er war es einmal. Leider lernen die Menschen selten aus ihren Fehlern«, erklärte Omama betrübt.
»Wie kann der Stein uns helfen, Omama?«
»Sie sind beide Teil eines Herzens und gehören zusammen. Es wird die Nähe des anderen spüren und wieder zu schlagen beginnen.«

Wieder zurück in der Wohnung rückte Ida alle Möbel zur Seite und breitete einen Stadtplan aus.
»Wir pendeln!«, verkündete sie und erklärte es dem Wolf.
»Aber das ist doch nur ein Stück Papier.«
»Es funktioniert. Vertrau mir!« Natürlich tat er das. Er war ein Wolf.
Gemeinsam ließen sie den Herzstein an einer Schnur über den Stadtplan gleiten.
Ein Flackern.
Nur kurz, aber es war da. Ida lächelte. Karan bleckte triumphierend die Zähne. Sofort machten sie sich auf den Weg nach Berlin-Kreuzberg.

Es war keine gute Gegend, in der sie sich befanden. Selbst die beschmierten Hauswände strahlten Bedrohung aus. Unvermittelt stieg Karan ein vertrauter Geruch in die Nase. Er knurrte tief und schüttelte Idas Hand ab, um sich an einen Hauseingang heran zu pirschen. Da saß er. Das rote Haar stand ihm in wirren Strähnen von dem fein geschnittenen Gesicht ab. Er trug zerschlissene Kleidung, die roch, als wäre sie aus dem Müll gefischt worden, und nuckelte an einer Bierflasche. Träge blickte er auf, als Karans Schatten auf ihn fiel. Ihm blieb keine Zeit zu reagieren, als der ihn packte und hart gegen die Hauswand drückte.
»Wo ist er, Fuchs? Rede! Oder ich beiße dir die Kehle durch«, knurrte Karan. Doch der Fuchs lachte nur. Ida zog Karan zurück, damit er den Fuchs frei gab.
»Erzähle uns bitte, was du über den Herzstein weißt«, bat sie.
»Mehr als dein Schoßhund«, spottete der Fuchs.
Der Clan der Füchse wusste schon lange, dass der Herzstein der Schlüssel zu einer anderen Welt war. Immer wieder nutzten sie den Stein, um Schätze des Waldes gegen Fleisch und andere Annehmlichkeiten der Menschenwelt zu tauschen. Es waren die Wölfe, die heraus fanden, dass der Nebel Jungtiere von der Verwandlung verschonte. Die Gier der Menschen kannte keine Grenzen und für einen süßen Welpen zahlten sie einen guten Preis. Die wilden Augen der Wölfin fielen Karan wieder ein und auf einmal machten viele Dingen einen Sinn. Kalte Wut kroch in sein Herz.
»Aber diesmal bist du nicht zurück gekehrt«, schloss Ida und hockte sich neben den Fuchs.
»Ich habe hier alles, was ich brauche. Was kümmern mich die anderen?«, erwiderte er.
»Wo ist der Stein jetzt?«, fragte Ida unbeirrt freundlich nach. Der Fuchs zuckte mit den Achseln und warf Ida einen zerknüllten Zettel zu.
»Verkauft.« Grinsend hob er seine Bierflasche etwas an und trank einen Schluck. Karan spürte, wie er eine halbe, herumliegende Flasche aufhob und warf, als würde jemand anderes ihn führen. Er war so voller Zorn. Das Geschoss krachte in das Gesicht des Fuchses und schlug eine blutige Wunde.
»Warum?« Idas Stimme war nur ein entsetztes Flüstern.
»Er hat es verdient.« Karans Stimme war kalt wie die Dunkelheit in seinem Herzen. Ida schüttelte den Kopf und wich zurück.
»Ida.«
»Geh!« Tränen rannen über Idas Gesicht und sie wandte sich ab.
Er sah noch, wie sie nach ihrem Handy griff, als sie ging, und hektisch telefonierte. Verlassen lag der Fuchs in dem Hauseingang und sein Blut malte verwaschene Tränen in den Beton. Karan spürte, dass er nun in Gefahr war, und ergriff die Flucht. Stundenlang irrte er durch Berlins Straßen. Es hatte zu regnen begonnen. Selbst die glänzenden Sky Trees wirkten wie düstere Skelette. Doch es kümmerte ihn nicht. In ihm war nur Leere und die brennende Frage, wie es so weit hatte kommen können. Er ging immer weiter, vorbei an Menschen, die genauso leer und trostlos aussahen, wie er sich fühlte. Schließlich fand er sich an dem einzigen Ort wieder, der noch Bedeutung für ihn hatte.

Der Teufelssee lag ebenso verlassen da, wie bei Karans Ankunft vor so vielen Tagen. Trotz des Regens trieben Nebelfetzen wie vergessene Träume über den See. Der Nebel beobachtete Karan.
Er spürte es.
Ergeben sank Karan am Ufer auf die Knie.
»Komm und hol mich!«, forderte er matt. Doch diesen Gefallen tat ihm der Nebel nicht, auch wenn er näher kroch und Karan in eine feuchte, undurchdringliche Decke hüllte.
Wie lange er dort saß, wusste Karan nicht. Die Kälte in seinem Herzen spürte er schon lange nicht mehr.
»Karan?«
Seine Ohren zuckten und drehten sich in Richtung der Stimme, die jede Faser seines Körpers direkt zum Klingen brachte.
Knirschende Schritte näherten sich durch das alles verschleiernde Grau.
»Ida.« Tatsächlich stand sie dort. Sie wirkte so zerbrechlich.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus und hüllte ein, was sie nicht zu sagen wagten, während ihre Blicke einander gefangen hielten.
»Kannst du mir verzeihen?«
Ida schüttelte den Kopf.
»Omama hat mir den Kopf gewaschen. Ich habe etwas für dich.«
Die Herzsteine.
Der eine war schwarz und flackerte leicht, während der andere, glutrote Stein sanft pulsierte. Auch in ihm hatte sich Dunkelheit eingenistet.
Der Nebel kroch näher, lauernd und wispernd.
»Ich habe ihn aus dem Pfandhaus. Der Fuchs hatte ihn dort versetzt und mir den Pfandschein gegeben. Er gehört dir.«
Karans Finger schlossen sich um den Stein. Er spürte seine Kraft, wie etwas lang Verlorenes. Dann war da noch etwas. Beide Steine begannen zu glühen und pulsierten im gleichen Takt.
Ein Vogel zwitscherte. Verwirrt blickte Karan auf, als Ida verzückt lachte. Bäume schimmerten durch den dichten Nebel, deren Wurzeln sich in den Schutt zu graben schienen.
»Das ist der Wald?«
Karan brachte nur ein Nicken zustande.
»Er ist wunderschön.«
»Es ist unmöglich. Wir sind doch noch immer am See. Was tun wir jetzt?« Seine Frage war nur ein Flüstern.
»Wir tun das Richtige.«
Ida schmiegte sich in Karans Arme und er vergrub noch einmal seine Nase in ihrem Haar. Tief atmete er ihren vertrauten Duft ein.
Ein Sommertag im Wald nach einem Gewitter.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Liebe Araluen!

Eine lange Geschichte; man braucht Geduld, um sie bis zum Ende zu lesen.
Du verknüpfst auf interessante, aber auch etwas befremdliche Art und Weise ein märchenhaftes Geschehen mit der ganz konkreten Gegenwart in der modernen Großstadt Berlin. Dabei greifst du Themen auf wie Umweltverschmutzung, Raubbau an der Natur, Übertechnisierung, dazu kommt noch eine kleine Liebesgeschichte und die Gegenüberstellung von Gut und Böse: Recht viel auf einmal für eine Kurzgeschichte! Zu viel, meiner Meinung nach. Man weiß nicht so recht, auf was das Ganze hinauslaufen soll.
Dennoch: Mir gefällt dein feinfühliger, anschaulicher Schreibstil.

Gruß, Hyazinthe
 

Araluen

Mitglied
Es freut mich, Hyazinthe, das dir mein Schreibstil gefällt. Und irgendwie muss ich dir auch recht geben. Herzstein erzählt ziemlich viel in ziemlich wenig Worten gemessen am Inhalt. Ich bin es gewohnt ausschweifend zu schreiben, mit komplexen Plots und viel Raum einnehmenden Charakteren. Für Kurzgeschichten brauche ich da mehr Fokus auf einen Aspekt, damit es auch eine echte Kurzgeschichte wird. Danke für den Hinweis. Solche Dinge müssen einfach mal offen gesagt werden, damit man begreift, was man die ganze Zeit eigentlich wusste.
 



 
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