Heute Wind du sehen viel wehen gut

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majissa

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Nach dem Verlassen des Flughafengebäudes „Kazantzakis“ sehe ich mich zunächst mit der Liebenswürdigkeit der kretischen Taxifahrer konfrontiert. Sie lauern hinter ihren Lenkrädern und warten mit laufendem Motor, um auf dem großen Flughafenvorplatz die Jagd auf unentschlossene Touristen zu eröffnen. Nicht mal ein sehr schlanker Hund kommt ungesehen an dem Bollwerk aus Rad an Rad parkenden Taxen vorbei. Ganze Familienclans werden laut schreiend und im Zickzack vor den Fahrzeugen hergetrieben. Trotz Gepäck und Hitze legen sie eine erstaunliche Geschwindigkeit an den Tag. Die Taxifahrer lieben dieses Spiel und nennen es unter sich „Flughafenpingpong“.

Der griechische Ausspruch „ta mátja sou dekatéssera - Sieh dich vor! Hab 14 Augen! -“ muss genau hier entstanden sein. Sein Verfasser wurde jedenfalls das letzte Mal auf dem Flughafen von Heraklion gesichtet und zwar bei dem Versuch, sich unbemerkt an den Taxifahrern vorbeizustehlen. Ein fliegender Koffer traf ihn unglücklich an der Stirn. Schwerverletzt lag er wenig später im örtlichen Krankenhaus und erwachte nur noch einmal kurz aus dem Koma, stieß die berühmten letzten Worte aus und verstarb.

Nicht zu unrecht wird der Flughafenvorplatz von Heraklion in allen Kreta-Reiseführern übergangen. Auch vor der Landung heißt es nicht etwa: „Wir fliegen Kazantzakis an, die Außentemperaturen erreichen angenehme 28 Grad, machen Sie sich nach dem Auschecken auf anhängliche Taxifahrer gefasst, wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt.“

Auf dem Flughafenvorplatz ist die Luft regelrecht geschwängert von einem Gemisch aus Angst und Auspuffgasen. Flirrende Hitze legt sich wie eine Wolldecke auf die Ankömmlinge, hüllt sie ein und raubt ihnen schier den Atem. Zwischen panischen Touristen, fliegenden Koffern und herrenlosen Gepäcktransportwagen kommt es genau zu den Verletzungen, für die man in Deutschland vorsorglich eine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen hat. Wer mit geschickten Sprüngen und Täuschungsmanövern den Taxifahrern entkommt, hat gute Chancen, von einem der zahlreichen Reisebusse überrollt zu werden.
Ein am Flughafengebäude Kazantzakis abgestellter Bus wirkt so verlassen wie ein stillgelegtes Kernkraftwerk. Sein desolates Erscheinungsbild verstärkt die Gewissheit, der Fahrer sei schon lange tot. Viele der Gejagten legen in der schattigen Gasse zwischen zwei Bussen eine kurze Verschnaufpause ein. Ehe sie sich versehen, heulen die Motoren auf. Die schlafenden Riesen setzen sich in Bewegung und bringen das zu Ende, was die Taxifahrer begonnen haben. ”Ta mátja sou dekatéssera!”

Zum Glück gibt es Michalis, meinen persönlichen Taxifahrer. Er bringt mich stets wohlbehalten nach Keratokampos. Davor besteht er trotzig auf das Zauberwort: „Kronkorken“, mit dem ich mir an der gesamten Südküste mittlerweile einen zweifelhaften Ruf geschaffen habe. Meine Nase findet Michalis‘ Auto auf Anhieb. Es ist alt und riecht nach Ziege. An guten Tagen transportiert es bis zu 15 Personen, auch übereinander. Ich lehne das entschieden ab und bezahle für eine ruhige Fahrt mehr als den ortsüblichen Preis. Dennoch liest Michalis an jeder Milchkanne weitere Fahrgäste auf: Ein klappriges Männlein am Krückstock, zwei magersüchtig aussehende Schulkinder, eine bucklige Alte mit Augenklappe, drei besoffene albanische Landarbeiter, vier bleichgesichtige Frauen. Das Procedere ist immer das gleiche: Er bremst, blickt mich flehend an, sagt „Nix Problem?!“ und lädt die Neuankömmlinge ins Taxi. Meine Antwort wartet er gar nicht erst ab. Eine Zeitlang plaudert er angeregt mit den Fahrgästen. Später dreht er sich zu mir um und berichtet grob von den Einzelschicksalen. Mit tränenerstickter Stimme schlägt er sich an die Brust. Ich schlage an mein Portemonnaie und verbringe den Rest der Fahrt damit, schlechtem Atem auszuweichen. Mindestens neun der elf Schicksale halten Zahnbürste und Seife für Teufelswerk.

Kreter finden nichts dabei, übereinander zu reisen. Ihre Gliedmaßen sind verblüffend dehnbar und passen sich außergewöhnlichen Umständen rasch an. Michalis hat sich noch nie herausgenommen, einen Kreter auf mir zu platzieren. Sonst ist es durchaus üblich, dass er auf seinen häufigen Fahrten nach Heraklion mindestens zwei Ehepaare auf seinem Schoß transportiert. Auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin setzt er keine Griechinnen in meine Nähe.

Denn Griechinnen haben die schrillste Tonlage Europas. Der Klang ihrer grellen Stimmen erinnert an quietschendes Besteck auf Porzellan. Griechische Nachrichten verfolge ich daher stets interessiert aber ohne Ton, um meine Ohren vor akustischen Attacken zu schützen. „Sie eignen sich nicht für Telefonsex“, erklärte mir kürzlich ein aus Kreta stammender Imbissbesitzer. „Dafür setzt man sie jetzt im Mittelmeer bei der Delphinforschung ein. Die kommunizieren ja bekanntlich auf höchster Frequenz miteinander.“

Im Gespräch ist die Griechin liebenswürdig und lächelt stets. Unter ihresgleichen verstummt sie allerdings keine Sekunde. Griechinnen haben sich immerzu etwas mitzuteilen und stoßen es hastig und atemlos hervor. Häufig erwecken sie den Eindruck, zu streiten. Eine wirklich wütende Griechin, habe ich mir sagen lassen, brüllt jedoch wie eine Schwangere in den Presswehen.

Einmal entdeckte ich mein Taxi abseits des Trubels und steuerte darauf zu. Michalis Kopf hing mit weit geöffnetem Mund aus dem Fenster. Er schlief wie ein Baby. Seine Frau Stafili saß auf dem Rücksitz und starrte mit ausdruckslosem Gesicht hinaus in die Dunkelheit. Zaghaft klopfte ich an die Scheibe. Wir brachten das überschwengliche Begrüßungsritual hinter uns und fuhren los. Michalis ist kein rasanter Taxifahrer. Die Bäume flogen nicht an uns vorbei. Dafür brummte uns der Diesel gemächlich in den Schlaf. Irgendwo bei Knossos erwachte Michalis und kurz darauf entwickelte sich ein Gespräch.

Griechen schätzen die unbeholfenen Versuche des Ausländers an ihrer Sprache und sind dann außer sich vor Freude. Bereits bei einer Wortanhäufung wie: ”Heute Wind, du sehen viel wehen gut” geben sie einem das Gefühl, man hätte gerade eine Zigarette mit bloßer Gedankenkraft entzündet. Michalis und Stafili verhalten sich allerdings untypisch. Sie loten meine Sprachkenntnisse aus und wissen sofort, in welchem Tempo sie hinter meinem Rücken über mich reden müssen, ohne dass ich etwas verstehe. Ich kenne das Ritual. Sie tragen ihre Fragen in verschiedenen Geschwindigkeiten und Lautstärken vor. Ich antworte nie oder nur bruchstückhaft. Das gibt den beiden freie Bahn. Mittlerweile waren sie vorsichtig geworden. Inzwischen reiste ich schon viele Jahre nach Kreta. Sie redeten jetzt hinter meinem Rücken in einem flüsternden Singsang, der wie das statische Rauschen eines defekten Radios klang.

”Ach, schön dass du wieder da bist, Mädchen”, rief Stafili von der Rückbank und schlug mir sehr fest aber freundschaftlich auf den Rücken. Vor Schreck ließ ich meine Karelia fallen.
”Ja”, gab ich zurück und tastete das Wageninnere nach der Zigarette ab.
”Und morgen gehst du schon schwimmen, nicht?” grinste Michalis sein Taxifahrergrinsen.
”Ich will mich noch nicht festlegen. Es kommt ganz auf das Wetter an.“
Mein perfektes Griechisch schockierte sie. Stafili war sichtlich entsetzt, sog hörbar die Luft ein und blickte konsterniert zu ihrem Mann. Nun folgte ein wirklich langes statisches Rauschen zwischen den Beiden.

Wir passierten Arkalohori, die letzte größere Stadt vor Keratokampos und näherten uns dem hübschen Dörfchen Hondros, ein Ort voller freundlicher Menschen und zahlreicher pittoresker Kapellen. Hondros beherbergt ungefähr 200 Einwohner und liegt knapp 600 m über dem Meeresspiegel. Die meisten Hondrioten arbeiten als Landwirte und leben überwiegend von der Olivenernte. An den Nachmittagen sitzen sie regungslos auf kleinen Holzstühlen vor ihren weißgetünchten Häusern in der Erwartung, dass etwas passiert.
Dabei ist nicht ganz klar, ob sie die Straßen oder die Straßen sie beobachten.

Hondros beherbergt außerdem einige Bucklige. Das rührt weder von der mühseligen Tätigkeit des Ziegenmelkens her noch steckt eine hemmungslos im Verborgenen ausgelebte Inzucht dahinter. Nein, schuld sind allein die Stühle. Sitzt man länger als zwei Stunden unbeweglich auf einem dieser holzgewordenen Folterinstrumente, wird einem ganz allmählich die Blutzufuhr in den Beinen gekappt und der Rücken in eine gebückte Haltung gezwungen. Manche Dörfler stehen eines Tages von ihrem Stuhl auf und bewegen sich ihr Leben lang in Sitzhaltung weiter.

Natürlich besitzt Hondros auch ein Kafenío. Es befindet sich am Dorfausgang und bietet den Familienvätern verlässlichen Halt, eine sichere Zuflucht vor den Frauenstimmen. Dichter Weinbewuchs und eine rings um die Terrasse aufgestellte Bambuswand wehren im Sommer neugierige Einblicke von Außen in die Männer–Oase ab. Allein hoch gewachsene, auf ihren Zehenspitzen balancierende Ehefrauen erspähen mühsam bestenfalls das ein oder andere Haarbüschel oder eine vertraut wirkende Augenbraue - sofern diese hochgezogen ist. Die Männer hingegen haben von ihrem Versteck aus einen hervorragenden Ausblick auf alle Dorfgeschehnisse. Sie spielen Karten, trinken Raki oder lesen Zeitung. Einige dösen auf der klapprigen Holzbank gleich neben dem brummenden Getränkekühlschrank. Pausenlos unterhalten sie sich über das Wasserproblem. In ihrer Wut auf das höher gelegene Bergdorf Ano Viannos ergehen sich die Hondrioten in lautstarken Verwünschungen. Anno Viannos klebt an einer Felswand und hat den fruchtbarsten Boden in der Umgebung. Eine nie versiegende Quelle aus den Bergen sorgt auch im Hochsommer für ausreichende Bewässerung. Olivenöl und Weine aus der Region Viannos sind von beispielloser Qualität. Tatsächlich wirken die Vianniten sauberer als die Hondrioten. Ihre Hemden sind weißer, ihre Haut glatter und ihr Gang aufrechter. Einige von ihnen können lesen und schreiben. Im Kafenío von Hondros überhören die in ihre Wasserproblematik vertieften Männer sogar das plötzliche Rauschen in den Wasserhähnen.

Nicht so Irma und Rudi, Freunde aus Hondros, die die wasserreiche Zeit zu nutzen wissen. Sie lassen stets alle Hähne aufgedreht, um den großen Augenblick nicht zu verpassen. Das Wasser kommt alle zwei Tage. Leider nur für eine kurze Stunde.
Der erste Tropfen Wasser, der sanft auf die Terrasse fällt, um dort ungenutzt zu verdampfen, zaubert freudiges Entsetzen auf ihre Gesichter. Sie tauschen einen kurzen Blick aus und erheben sich wie fremdgesteuert von ihren Stühlen. Von heiligem Eifer getrieben eilen sie schweigsam und zielstrebig zu den bereit gestellten Kanistern wie Kinder in der Erwartung einer großen Bescherung. Auf dem gesamten Anwesen, im Innenhof, auf der Terrasse, im Garten, überall bietet sich dasselbe Bild dar: Kanister! Und zwar alle erdenklichen Arten, Formen und Größen. Trinkwasserkanister, Wäschekanister, Nutzviehkanister und Kanister für die Körperpflege. Letztere unterteilt in Oberkörper-, Unterkörper- und Fußkanister. Die Körperpflegekanister bleiben meistens leer, weil das Wasser streikt. Rudi tränkt die Hühner und Kaninchen. Irma versucht, alle Pflanzen auf einmal zu bewässern. Aus der Ferne rufen sie sich knappe Anweisungen in einer unverständlichen Sprache zu, die außer ihnen niemand verstehen kann. Eine unsichtbare Hand führt dabei die Choreographie ihrer Bewegungen.

Irma und Rudi besitzen übrigens die schönste Toilette von Hondros. Tür und Fenster sind azurblau lackiert. Die Armaturen blitzen hell in der schräg herein fallenden Sonne und das Abflussloch im Fußboden sitzt tatsächlich O Wunder an tiefster Stelle. Handgemalte Delphine tümmeln sich auf den weißgekalkten Wänden. In knorrig gemauerten Nischen liegen flauschige und pastellfarbene Badetücher. Keine unliebsamen Überraschungen beim Aufklappen des Toilettendeckels: Nichts huscht auf vielen schwarzen Beinen davon. Die Brille ist bequem und solide mit dem Becken verschraubt. Kurz: Ich verweile gern auf der schönsten Toilette von Hondros. Neuerdings habe ich Skrupel beim Abziehen. Es ist die reinste Wasserverschwendung. Rufe ich Irma und Rudi aus Deutschland an, vermeide ich Belanglosigkeiten wie ”ich komme gerade aus der Dusche” oder ”es regnet schon den ganzen Tag”. Sie würden es in den falschen Hals kriegen.

Die Kreter wissen, dass der Klimawechsel für die andauernde Trockenheit verantwortlich ist. Drohend richten sie ihre Fäuste und Stöcke gegen den afrikanischen Kontinent, der sich allen Kontinenten gleich durch stoische Gelassenheit auszeichnet. Der wahre Verursacher ist aus der Ferne nicht zu strafen und daher muss ein Opfer in der Nähe gefunden und zur Verantwortung gezogen werden. Die Hondrioten nehmen das Wasserproblem zum Anlass, in ungewohnt deutlichen Worten gegen den jeweiligen Bürgermeister zu plädieren. Ungewohnt deutlich heißt: Es fallen Namen und mittelgroße Gemeinheiten. Kleine Gemeinheiten wie ein zufällig vergifteter Bürgermeisterhund übernehmen die nachtaktiven Einwohner. Nach Meinung der Hondrioten steckt ausschließlich der jeweilige Bürgermeister mit den ach so reinlichen Vianniten unter einer Decke. Warum sonst zögert sich immer wieder der Bau von Wasserleitungen, Rückhaltebecken und Pumpen hinaus? Ein harmoniesüchtiger Bürgermeister wälzt sich vor einem Gang durch Hondros einige Minuten im Staub.
Plötzlich auftauchendes Wasser strafen die Dörfler mit Missachtung und Gleichgültigkeit. Es käme einer Kapitulation gleich, das dringend benötigte Nass gerade inmitten ihres Feldzuges gegen den vermeintlich Schuldigen zur Kenntnis nehmen zu müssen. Munter sprudelt und plätschert es also über Betonterrassen, läuft glucksend die Treppen und Wege hinunter und verdampft schließlich als Rinnsal ungenutzt im trockenen Erdreich, ohne auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen.

Inzwischen haben die meisten Hondrioten das Schwitzen verlernt. Getreu dem Motto „Wer sich mir dauerhaft verweigert, dem verweigere ich mich dauerhafter“ waschen sie sich gar nicht mehr. Mit steinernen Mienen bewahren sie ihren angeborenen Stolz. Ein echter Kreter läßt sich nicht knechten. Weder von einem furztrockenen Kontinent noch von einem ehemaligen Hundebesitzer mit verdächtigen Staubabdrücken auf dem Rücken.

Stafili ist eine hervorragende Köchin. Sie steht mit den Ziegen auf und beginnt ihren arbeitsreichen Tag. Gegen Nachmittag nimmt ihr Gesicht selbst ziegenähnliche Züge an. Für Stafili bietet das Leben eine reichhaltige Fülle an unerledigter Arbeit. Es gibt keinen Grund, ständig in Bewegung zu sein, aber sie kann nicht aus ihrer Haut. Abends sitzt sie erschöpft am Küchentich, trinkt Ziegenmilch und klagt über ihre geschwollenen Füße. Neben ihr hockt Michalis und verzehrt geräuschvoll dicke Bohnen. Manchmal schaut er hoch und grunzt: ”Kaló fajitó! – gutes Essen! -” Und wenig später: „Du bist die Beste!“
Sie ist die Beste. Sie ist die Schutzheilige aller Hausfrauen in Keratokampos.

Das Taxi verließ in der Zwischenzeit Hondros und steuerte auf die Serpentinenstraße Richtung Keratokampos zu. Von Hondros nach Keratokampos braucht der Nüchterne rund 15 Minuten. Der Gläubige fährt länger. Er muss sich vor jeder Kapelle und allen Ästen, die der Zufall auch nur irgendwie zum Christussymbol geformt hat, bekreuzigen. Besoffene Atheisten schaffen die Strecke Hondros-Keratokampos in fünf Minuten.

In Keratokampos steht ein Notarztwagen bereit. Er gehört Christos, dem Betreiber einer kleinen Strandbar. Christos liebt Tequila. Nach dem fünften Glas springt er über die Theke und beginnt zu tanzen. Seine Beine bleiben wie festgeschraubt am Boden. Der Oberkörper krümmt und entspannt sich in schnellem Wechsel, die Gesichtszüge zerfließen. Christos scheint elektrische Erdströme durch die Fußsohlen aufzusaugen, die sich ab Hüfthöhe verästeln. Im Gesicht kommt es zu unvorteilhaften Entladungen. Streng genommen ähnelt er einer sturmgepeitschten Trauerweide unter großem emotionalen Stress. Erreicht ihn in diesem Zustand ein Notruf, fackelt er nicht lange und versucht, sich vom Boden zu lösen. Dann braust er mit seinem Rettungswagen los. Er schafft die Strecke in weniger als fünf Minuten.

Michalis führte uns sicher die Serpentinen hinunter. Nach wenigen Kurven konnte ich bereits das Meer sehen. Zuerst nur als dunklen Streifen am Horizont, später angestrahlt vom Vollmond, der, einem großen Käserad gleich, über dem Wasser schwebte und sein Licht wie flüssigen Feta in das mitternächtliche Meer troff.

Ein Kaninchen kreuzte schlaftrunken unseren Weg und blinzelte neugierig in das Scheinwerferlicht. Ein harter Schlag von hinten auf meine Rückenlehne weckte mich aus meinen Träumereien und erinnerte mich an die Präsenz der Schutzheiligen aller Hausfrauen. Mit militärisch knappen Anweisungen und schauerlichen Zischlauten stachelte sie Michalis zur Jagd auf. Der alte Diesel heulte auf und schoss hinter dem Tier her. Bald verlor er an Bodenhaftung und schlingerte von rechts nach links. Mal streifte er die Stämme der Olivenbäume, mal den Rachen des unter mir gähnenden Abgrundes. Ich konnte das nicht verstehen, denn das Kaninchen lief stur geradeaus. Mir wurde leicht unbehaglich. Vor einer kleinen Kapelle kam der Wagen plötzlich zum Stehen. Die Vollbremsung erfolgte aus tiefster religiöser Überzeugung. Stafili und Michalis senkten die Häupter und sprachen ein stilles Gebet. Es muss offensichtlich eine Kurzfassung gewesen sein.
”Los, schnapp es dir!”, rief Stafili schon Sekunden später. Mit Vollgas nahm Michalis erneut die Verfolgung auf.
”Ich bin Taxifahrer und kein Jäger, Frau”, sagte er. Allmählich machte er sich Sorgen um sein Auto.
”Ha!” rief Stafili. ”Ich bin die Köchin und da vorne läuft ein Braten. Sieh zu, dass du ihn einholst!”
In meiner Verzweiflung versuchte ich es mit einem Ablenkungsmanöver, kramte in meinem griechischem Wortschatz und sagte: „Seit Heraklit und Epiktet stellt sich mir die Frage, ob denn die essentiellen Erkenntnisse der Menschheit immer gleich so düster referiert werden müssen. Wie seht ihr das?“
Nichts! Das statische Rauschen blieb aus. Einen Kreter von Fleisch abzulenken ist so sinnvoll wie der Verzehr einer Brühe mit Stäbchen. Der große Diesel schlingerte durch die Dunkelheit und jagte ein winziges Stück Fleisch. Ich gewann allmählich den Eindruck, es werde mit ganzen Broten nach Enten geworfen. Stafili ging die Zutaten für den Braten durch. Michalis hockte verbissen hinter seinem Lenkrad. Er nahm die Haltung einer Katze vor dem Sprung ein. Schließlich hüpfte das Kaninchen einen Haken schlagend missmutig in einen vertrockneten Busch und verschwand. Michalis entspannte sich. Stafili fluchte und schlug wütend gegen meine Rückenlehne. Danach verfiel sie in den tranceähnlichen Zustand, in den sie sich stets flüchtet, wenn etwas in ihrer Planung schief läuft.

Abgesehen vom schwachen Schein der Angstlichter lag Keratokampos bei unserer Ankunft drei Stunden später in völliger Dunkelheit. Angstlichter schimmerten aus nahezu allen Fenstern. Jeder kretische Haushalt besitzt die kleinen Stecker mit rotem oder grünem Plastikkopf, in denen winzige Glühbirnen flackern. Nachts sollen sie den schwarzen Mann fernhalten. Gemeint ist die Ehefrau. Es gibt den schwarzen Mann nicht, wie der Kreter weiß. Trotzdem erzählt er seiner Familie täglich haarsträubende Schauergeschichten über IHN, der quengelnde Kinder frisst und moderne Frauen in sein düsteres Reich verschleppt. Unmoderne Frauen bleiben nach Anbruch der Dunkelheit im Haus. Moderne Frauen wandern nachts durch die Gassen und suchen ihren Ehemann. Den finden sie entweder in Christos‘ kleiner Strandbar oder in inniger Umarmung mit einer Touristin. Touristinnen betrifft der Schwarze-Mann-Spruch nicht.

Die Moralvorstellung des Kreters ist so komplex wie Kreta selbst. Nichts verabscheut er mehr als die Untreue der Ehefrau. In den verschiedenen Regionen der Insel scheint es unterschiedliche Definitionen für männliche Treue zu geben. Das trügt. Alle Moralvorstellungen gründen letztendlich auf die des berühmten kretischen Schriftstellers Kazantzakis. Man kann sie sogar auf seinem Grabstein nachlesen: „Ich hoffe auf nichts – ich fürchte nichts – ich bin frei“

Jeder Mann legt die drei Aussagen nach Lust und Laune für seine persönlichen Zwecke aus. Lästige Rechnungen wirft er mit einem fröhlichen „Ich fürchte nichts!“ ins Meer. Außereheliche Abenteuer leitet er mit „Ich bin frei!“ ein. Aus jeder Ecke der Insel tönt das berühmte Zitat, in wütendem Stolz oder in heftiger Erregung ausgestoßen. Kazantzakis hat seinen Landsmännern einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Angetrunkene Touristinnen sind besonders empfänglich für die Kombination „Ich bin frei und fürchte nichts, nicht einmal den Tod!“
Mit dem Tod ist die moderne Ehefrau gemeint. Die Liebe wird auf Kreta ungewöhnlich frei und hemmungslos ausgelebt. Die größte Angst des Kreters jedoch ist, dass ”es” herauskommt.

Das Taxi hielt quietschend vor Michalis‘ und Stafilis Appartementhaus. Wie immer war es vollkommen leer und bot auch bei Nacht keinen erfreulicheren Anblick als bei Sonnenaufgang. Mir ist das gleich. Ich habe mich daran gewöhnt. Mein Zimmer ist so karg eingerichtet, dass es beinahe künstlerisch anmutet.
Anfangs wollte ich der Sache auf den Grund gehen:
”Warum gibt es keine Bilder an den Wänden?”
Die Antwort kam in beschwörendem Tonfall:
”Das hat psychologische Gründe, meine Liebe. Nichts soll den Gast von seiner eigenen Person ablenken.”
„Was ist mit dem Licht? Es funktioniert nicht!“
„Wer stets im Hellen wandelt, strauchelt im Dunkel schnell.“
„Hm?“
Michalis war auf alles vorbereitet.

Das völlige Fehlen jeglicher persönlichen Note lässt entweder auf unendlichen Geiz oder auf philosophische Weitsicht schließen. Im Küchenschrank gibt es zwei Teller und 1 ½ Tassen. Nach gründlicher Suche findet sich ein verbogener Löffel. Er wechselt von Jahr zu Jahr die Schublade. Die Toilettenbrille ist seit vier Jahren defekt und lässt einen normalen Vorgang zur Olympiadisziplin werden. Im Kleiderschrank hängen massenhaft Kleiderbügel. Der Nachteil ist, dass sie unsichtbar sind. Die einzigen vier Sichtbaren sind aus Draht und erinnern an Fragmente alter Viehzäune. Auch daran habe ich mich gewöhnt. Tatsächlich hat mich das Appartement noch nie abgelenkt. Nur der brummende Kühlschrank raubt mir nachts den Schlaf. Tagsüber ist er in Höchstform und passt seine Innentemperatur solidarisch der Außentemperatur an.

In Michalis‘ Appartementhaus denke ich unweigerlich an den Film ”Das Leben einer Nonne”. Da wurde eine Novizin ihres Haares beraubt und in ein karges Kämmerlein geführt. Eine vergrämt aussehende Oberschwester kam herein und sagte hämisch: ”Nun gib mir deine letzte persönliche Habe. Nichts soll dich mehr an deine Vergangenheit erinnern!” Ich glaube, sie überreichte ihr einen Kamm.

Michalis flüsterte mir den Preis für die Taxifahrt zu:
„Das macht 15.000 Drachmen, weil du du bist, anstatt 17.000, du weißt schon...“ Er schlug sich ans Herz. Derartige Persönlichkeiten machen mich nervös. Stafili schlief keineswegs hinten im Taxi. Auch wenn sie den Eindruck erweckte. So auch dieses Mal.

„Michali!“, keuchte sie von hinten. Dann folgte eine lange Diskussion. Wie immer bezahlte ich 17.000 Drachmen, weil ich ich bin und Stafili die Hosen anhat. Michalis wälzte meine Reistasche aus dem Kofferraum und hievte sie mit gespielter Leichtigkeit die Treppe zu meinem Appartement hinauf. Ich sah durch das aufgesetzte Lächeln direkt bis zu seiner klapprigen Bandscheibe hindurch. Er hatte große Schmerzen. Ich hatte Kofferrollen. Für einen Kreter sind Kofferrollen nicht existent. Der Kreter ist ein Mann.

Oben im Zimmer schlug mir das schwache Odeur schon lang abgereister Touristen in die Nase. Das hat einerseits etwas Lebendiges; andererseits weiß man nie, wer oder was sich in den Matratzen gewälzt hat. Die Betten waren nicht bezogen. Das gehört zum Ritual. Auch die Novizin musste ihr Bett selbst beziehen. Michalis verabschiedete sich augenzwinkernd an der Tür. Dann humpelte er die Treppen hinunter ins Taxi zu seiner Frau. Von unten rief er zu mir hoch:

„Was du auch willst, nix Problem, nix Problem!“

Lächelnd winkte ich den beiden nach und sah einige Minuten zu, wie sich der alte Diesel mühsam den Berg hinauf nach Hondros kämpfte. „Nix Problem“, wiederholte ich und schloss die Tür. «Kronkorken» flüsterte ich leise, bevor ich in tiefen Schlaf sank.
 

anemone

Mitglied
hallo Majissa,

wie immer las ich gerne deine humorige Erzählung über die Kretische Bevölkerung. Sie hat mir meine Urlaubserinnerungen nahe gebracht. Ich bin auf jeden Fall ein Fan deiner Werke. Mach weiter so!

liebe Grüße

Ach ja, Textarbeit! 1 Rechtschreibfehler war mir aufgefallen. Leider finde ich ihn nicht mehr.
 

majissa

Mitglied
Hallo Anemone,

wusste ich ja gar nicht, dass du zu den Kretafans gehörst und diese Geschichten gern liest. Freut mich aber sehr. Danke für dein Lob. Ich werde versuchen, nicht nachzulassen. Wenn da nur nicht dieser verflixte Rechtschreibfehler wäre...;)

LG
Majissa
 

Inu

Mitglied
Hallo majissa

Du hast genau die Art Humor, die mir gefällt. Ich kann nicht umhin... bei Deinen Kreta- Geschichten muss ich immer unbändig lachen, ob ich will oder nicht. Das passiert mir sonst höchst selten. Ich habe auch diesen Text wieder sehr genossen, ohne nun jeden Satz, jede Feinheit genau unter die Lupe zu nehmen und zu sezieren.

Liebe Grüße
Inu
 

majissa

Mitglied
Ich kann nicht umhin...

...zu denken, dass ich es richtig gemacht haben muss, wenn ich deinen Kommentar unter meinen Geschichten finde, liebe Inu. Und dass du das Textskalpell nicht angesetzt hast, macht überhaupt nichts. Wenn der Gesamteindruck stimmt und du sogar unbändig lachen musstest, habe ich mehr erreicht, als ich wollte.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

LG
Majissa
 
liebe majissa,

seit der zeit, seit der ich selber schreibe, und als aufstrebender möchtegernschreiberling, der ja etwas dazu lernen will, geht es mir oft selbst bei büchern so, dass ich das WAS vergesse und mich nur noch auf das WIE konzentriere.

so nützlich das sein mag, verleidet es mir oft das vergnügen am lesen.

selten genug kommt es vor, dass das WIE so gut ist, dass ich das WAS mit vollem genuss lesen kann.

bei deinen texten ergeht es mir so.

danke für diesen genuss. sag mir bescheid, wenn du ein buch veröffentlichst. genuss macht süchtig ;-)
 

majissa

Mitglied
liebe freifrau von löwe,

über dein außergewöhnliches Lob habe ich mich sehr gefreut. Ich glaube, das sagte mir noch keiner. Und es ist so schön ausformuliert. ;)

Bei Büchern geht es mir ganz ähnlich wie dir. Ich blicke mit Argusaugen auf das Handwerk und weiß anschließend nicht mehr, was genau ich da eigentlich gelesen habe. Wenn es denn dem Schreiben nützt, soll es mir aber Recht sein.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

LG
Majissa
 
A

AndreasGaertner

Gast
Liebe Majissa,

Du bringst Deine frische und witzige Erzählung ganz nahe an den Leser heran, so daß er, oder sie den Spass, den Du beim Schreiben hattest, beim Lesen spürt. Du nimmst den staunenden Leser mit in Deinen Urlaub.

Viele Grüsse
Andreas
 

majissa

Mitglied
Lieber Andreas,

es ist wirklich schön zu wissen, dass mein Text es schafft, dich als Leser an die Hand zu nehmen und durch das Geschehen zu führen. Ach übrigens - wo es sich leicht liest, war es besonders hart zu schreiben. Seltsam, hm?

Danke auch dir für deine Resonanz.

Liebe Grüße
Majissa
 



 
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