Hey, Alter! Freund!

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Markus Veith

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Ich rede mit dir. Ja, mit dir. Tu nicht so, als würdest du mich nicht sehen. Ich stehe direkt vor dir. Denkst du ab und an noch an mich? Ich bin dein Vater. Wie Athene bist du meinem Haupte entsprungen und wie ein Janus solltest du mir gleichen. So war es geplant und ausgemacht, erinnerst du dich? Hast du unseren Deal vergessen oder willst du mir vorwerfen, meinen Teil des Abkommens nicht erfüllt zu haben?
Gut siehst du aus. Immer noch. Wirkst gefestigt. Bodenständig. Mit Verlaub, nicht mehr so naiv und blauäugig wie früher. Nur älter bist du geworden. Träumst du trotzdem noch? Bitte sag mir, dass du noch träumst. Von dem Regal, mit den vier Reihen eigener Werke, davon drei Reihen voller Belegexemplare und Übersetzungen. Von Ruhm statt von Geld. Und wenn doch vom Geld, dann von dem kleinen Teil davon, den du in dein Haus in Schottland gesteckt hast, in dem du oben am Schreibtisch sitzt, mit Blick auf die Highlands, den Husky zu deinen Füßen, mit den quiekenden Geräuschen spielender Kinder aus der unteren Etage. Und von deiner Stiftung, die deinen Namen trägt; von einem Preis, der fair vergeben wird. Und von deinen Geschichten als Schulstoff, dem Traum, der dir immer das größte Vergnügen bereitet hat. Träumst du noch von all dem? Bläst du immer noch Liebesküsse in die Füllhörner? Bitte sag ja.
Alter! Freund! Ich wollte dir immer schreiben; aber irgendwie war ausgerechnet das nie mein Ding. Denkst du noch manchmal an damals? Als wir zusammen Schneemänner bauten, und aus reinem Vergnügen zuschauten wie sie schmolzen. Im Spätsommer. Wir liebten die selben Frauen. Wir tranken Bier am gleichen Tisch der verlotterten Stadtkneipe, unser Glas bis zum Rand voll mit Zukunft und Phantasie. Spielt unsere Band noch? Dann spendiere dem Knaben an meinem Platz ein Getränk. Manchmal werden Lieder wahr. Hast du das auch bemerkt?
Bitte sag mir, dass du noch Spazieren gehst, wenn du Lust dazu verspürst, und nicht, weil dir zu Hause die Tastatur zu steif gefroren ist und dir die Wände zu nahe kommen. Dass du dich mit Freunden triffst, weil sie auch dich sehen wollen, und nicht, weil du das Gefühl vermittelt hast, dich wieder aufbauen zu müssen. Sag mir, dass du abends ein Buch liest, ohne den Grundgedanken des Verfassers finden zu wollen, sondern um die Geschichte mit in deinen Traum zu nehmen. Und dass du am nächsten Morgen dicht beschriebene Zettel neben dir auf dem Nachttisch findest. Sag mir, dass du deine Lebensmittel selbst kaufst und nicht deine Eltern bezahlen müssen. Sag mir, dass du keine Jobs übernimmst, die du nicht wirklich willst, dass du mit erhobenen Kopf durch die Strassen gehst, dass du Spiegelflächen nicht mehr so verstauben lässt, wie jene, welche uns zeigt. Sag mir, dass du nicht aufgegeben hast, dass du bist, wie du immer sein solltest. Sag es mir zuliebe.
Oft wünsche ich mir, ich sei allein auf dieser Welt. Aber sobald ich in den Spiegel schaue, bis da immer noch du, Alter, Fremder, Freund. Beruhigend und belastend zugleich. Mach mir keine Vorwürfe. Da sind Kratzer in unseren Gesichtern. Wie Krähenfüße. Möchte man meinen.
Ich weiß. Die Wildpferde fliegen noch. Obwohl sie auf Kandaren kauen.
Lancelot hat lange und tapfer gesucht. Aber auf der sechsten Brücke brach er erschöpft zusammen, und möglicherweise hat er sich verzählt.
Wenn ich hinausschaue, wird es Winter. Es schneit blutrote Rosen. Mit Dornen.
Lass das Licht in deinen Augen an. Versprich mir das. Nenn dich Hiob, mein Alter. Sei egoistisch. Und vielleicht ... treffen wir uns mal wieder. Bei mir oder dir. Ich hätte Lust einen Schneemann zu bauen.


Oktober 2003
 

GabiSils

Mitglied
Ein Satz zum Einrahmen ...

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Sag mir, dass du abends ein Buch liest, ohne den Grundgedanken des Verfassers finden zu wollen, sondern um die Geschichte mit in deinen Traum zu nehmen.

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