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LydiaG

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Wie ein breites, graues Band trennt die Wilhelmstraße das Bahnhofsviertel mit seinen ungefegten Bürgersteigen vom prachtvollen, barocken Marktplatz und der angrenzenden Fußgängerzone. Schon früher, als Damaschke selbst noch am Bahnhof wohnte, erschien es ihm, als würden die Menschen langsamer gehen und den Kopf höher tragen, sobald sie die Demarkationslinie Wilhelmstraße an einer ihrer insgesamt drei Ampeln überquert und damit den besseren Teil der Innenstadt erreicht hatten.
Inzwischen war er schon lange in die Vorstadt gezogen und nur noch selten in seinem alten Viertel unterwegs, aber er erinnerte sich noch gerne an die Geschäftigkeit, den Stehimbiss und den Gemüsehändler, die Kneipen und die Geräusche fröhlicher, wacher Menschen, die oft bis spät in die Nacht hinein zu hören waren. Fast schon stolz war er damals darauf gewesen, mitten in all diesem flirrenden, wenn auch schäbigen Leben zu wohnen, das manchen seiner Besucher ängstigte oder gar abstieß.
An jenem Morgen war es noch still, als Damaschke an der mittleren Ampel in der Wilhelmstraße stand. In einer Stunde würden hier Trauben von Menschen auf der jeweiligen Seite der Straße warten, dass die stete Karawane von Autos ihnen, gezwungen vom Takt der Ampeln, eine Lücke ließ. Die Ladenbesitzer bereiteten sich schon auf den Ansturm vor, hier und dort wurde noch eine Auslage geprüft, ein Kleidungsstück, ein Stiefel zurechtgerückt, eine Fensterscheibe geputzt, es hatte geregnet in der Nacht zuvor. Diejenigen, die zu dieser frühen Stunde unterwegs waren, hatten es allesamt eilig und unterschieden sich schon dadurch von denen, die hier in einer Stunde flanieren und einkaufen würden.
Auch Damaschke war mit einem ganz bestimmten Ziel hierher gekommen, eine Erkältung trieb ihn zurück in sein altes Viertel. Obwohl der Weg zu seinem Arzt weit geworden war, konnte er sich einfach nicht an einen anderen gewöhnen, zu sehr war ihm der dicke, alte Mann im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen, obwohl er seine Diagnosen nicht immer nachvollziehen und seinen Namen nach all den Jahren immer noch nicht fehlerfrei aussprechen konnte. Der Doktor, wie er ihn deshalb nannte, mochte in der Türkei oder auch mitten in der Wüste studiert haben, Damaschke war es einerlei. Weder seine Krankenkasse noch sein Arbeitgeber hatten sich je über die Krankmeldungen beschwert, und wieder einmal hatte Damaschke die Praxis getröstet und bepackt mit guten Ratschlägen, Tinkturen und bunten Pillen verlassen.
Trotzdem fühlte er sich unwohl, während er auf das Umschalten der Ampel wartete. Seine Stadt leistet sich die Extravaganz ostdeutscher Ampelmännchen, deren weit ausgebreitete, rote Arme Damaschke immer ein wenig unwillig stimmten; die bescheiden angelegten, westdeutschen Ampelmännchenarme anderer Städte gefielen ihm weit besser. Er wünschte wirklich, er hätte auf dem Arsenalplatz geparkt, um diese Uhrzeit wäre es sogar noch möglich gewesen. Andererseits widerstrebte es ihm, fünf Euro zu bezahlen für einen Parkplatz, auf dem er selbst mit seinem nicht allzu großen Wagen die Tür kaum noch öffnen konnte, wenn er mittig parkte. Nun war er also gezwungen, durch die halbe Innenstadt zu laufen.
Missmutig musterte er die anderen Wartenden. Eine junge Frau in einem gut sitzenden Hosenanzug aus beigefarbenem Breitcord fiel ihm auf. Sie trug eine Sonnenbrille mit sehr großen und sehr dunklen Gläsern, das Kopftuch wirkte wie ein modisches Accessoire. Ihre Hände waren um die Griffe eines Buggys gekrampft, in dem ihr Kind fest schlief, ihre Augen hinter den schwarzen Gläsern folgten hektisch dem Verlauf der Wilhelmstraße. Rechts war bis zum Horizont kein Auto zu sehen. Hinter der abknickenden Vorfahrt, also von links, näherte sich ein Wagen, aber durch das schon gelichtete Laub der Bäume am Straßenrand war gut zu erkennen, dass der Fahrer es nicht eilig hatte. Die junge Frau gab sich einen Ruck, mit einer schnellen Bewegung presste sie die Brille noch fester aufs Gesicht und lief los. Ihre Absätze klackerten auf dem Asphalt, die Federn des Kinderwagens quietschten, während am Straßenrand rechts und links erste Laute von Unmut hörbar wurden.
‚Verantwortungslos’ stand es im Gesicht einer rotwangigen, jungen Frau geschrieben. Ganz sicher hatte das schlafende Kind unterbewusst wahrgenommen, dass es rote Ampeln später getrost ignorieren durfte, weil seine Mutti das tat. Schnell hielt die Fassungslose ihrem eigenen Kind die Augen zu. Die Empörung eines kleinen, feisten Herrn im grünen Lodenmantel dagegen schien politisch motiviert. Die Disziplinlosigkeit der Verkehrsteilnehmer war der Grund für den Smog in Ankara, das war ihm seit langem klar, und Frau Merkel wäre gut beraten, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei besonders sorgfältig zu prüfen im Hinblick darauf, dass die Türken nicht nur Menschenrechte, sondern sogar Ampeln missachten. Unmöglich war es ihm, so viel rechtschaffene Empörung zurückzuhalten. Sein Schrei: ‚wir sind hier in Deutschland!’ wurde von den Umstehenden beifällig benickt. Kurz nur drehte sich die Weglaufende um, dem Gesicht unter dem bunten Tuch war nicht zu entnehmen, ob sie die wütend nach ihr geschleuderten Worte verstanden hatte.
Damaschke musste husten, das Schwitzen zwischen seinen Schulterblättern verstärkte sich.
‚Ich finde Ihr Benehmen ungeheuerlich,’ quetschte er dennoch heraus, als der Lodenmantel schließlich mit einem herrischen Blick auch seine Zustimmung einzufordern schien.
Seine Stimme klang kreischend wie das Quietschen eines Fingernagels auf einer Schiefertafel. Es mochte an der Erkältung liegen, aber Damaschke erschrak. Er hörte den anderen reden ohne den Wunsch, ein weiteres Wort an ihn zu richten.
‚Was wellet sie denn von mir? Sind sie au einer von dem Pack do?’
Schon einige Meter entfernt, erreichte inzwischen die Frau mit dem Kopftuch einen kleinen, stämmigen Mann in einem braunen Blouson, der Damaschke von weitem fast an eine Kartoffel erinnerte. Herrisch zeigte dieser auf die Mütze des Kindes, die bei der wilden Fahrt heruntergefallen war. Die zurechtgewiesene Frau blieb abrupt stehen. Einen Augenblick lang wirkte sie trotzig, dann kehrte sie um und hob das kleine, leuchtend rote Dreieck auf.
Die Ampel vor Damaschke zeigte inzwischen grün. Ein einzelner Wagen hatte angehalten, Kaskaden synthetischer Klänge drängten aus dem geschlossenen Verdeck, auch der Junge hinter dem Steuer trug eine Sonnenbrille. ‚Sicher ein Türke,’ dachte Damaschke, er hatte keine Ahnung, woher sie alle diese scheußlichen Sonnenbrillen hatten, und er fühlte sich nicht in der Lage, noch einen weiteren Menschen zu verteidigen. Am ganzen Körper zitternd, ließ er den Mann im Lodenmantel zurück und betrat den Überweg.
Er wollte nur noch nach Hause.
 

petrasmiles

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Klasse!
Nur den letzten Satz kannst Du Dir sparen: Damaschkes Schwäche und das entschlossene Betreten der Fahrbahn machen dessen Inhalt schon offensichtlich. Es reicht, wenn ich mir das denken kann ;)

Liebe Grüße
Petra
 

LydiaG

Mitglied
Hallo Petra

und vielen Dank für deinen Kommentar!

Ich habe es versucht ohne den letzten Satz - für mich klingt das Ende ohne ihn nackt. Ich bin noch nicht so weit, ihn ersatzlos zu streichen...
vielleicht fällt mir noch ein besserer Schluss ein.
Aber kommt denn an, dass Damaschke aus schierer Feigheit abrückt von seinen türkischen Mitbürgern? Das wäre mir wichtig!
 

petrasmiles

Mitglied
Nein, das glaube ich nicht.
Aber Du hast das selbst in deiner Geschichte ambivalenter angelegt: Damaschke ist erschöpft, empört sich über den Herrn in Loden, und Du lässt es ein wenig offen, dass es schiere Feigheit sei. Eigentlich ist es noch subtiler angelegt, dass er selbst unbewusst die Vorurteile hat, für die er sich schämt und die ihm seine bewussten Überzeugungen verbieten. Ich glaube auch, wenn man Zivilcourage hat, wie er bewies, hat man sie nicht immer und die Abwesenheit von Zivilcourage ist nicht gleichbedeutend mit Feigheit.
Und das alles steht schon da auch ohne den letzten Satz ;)

Liebe Grüße
Petra
 



 
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