Himmelblau

Lue

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Himmelblau
Die Zeit stand still. Und der Ton. Ausgeblendet das beruhigende Rauschen der Klimaanlage und das Dröhnen der Triebwerke. Es kribbelte unter ihren Fußsohlen.
„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir uns soeben entschlossen haben, unseren Flug abzubrechen und nach Frankfurt zurückzukehren. Vielleicht haben Sie es ja auch schon selbst gehört – der Grund hierfür ist, dass wir ein kleines Problem am rechten Triebwerk festgestellt haben. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, es besteht keinerlei Grund zur Sorge. Lehnen Sie sich also zurück und genießen Sie weiterhin unseren Service an Bord. Ich werde mich so schnell wie möglich mit weiteren Informationen bei Ihnen melden.“
Die Klimaanlage setzte wieder ein.
Unter ihnen versuchten die Alpen, sich durch die Schneedecke in den Himmel zu recken. Das gleißende Weiß strahlte am Horizont ins Dunkelblau des Himmels.
Der Kantinengeruchs kam von hinten: „Would you like chicken or pasta?“, das Klirren der Flaschen im Servierwagen und zwischendurch das Klacken der Bremsarretierung.
Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und senkte den Blick, als wollte sie in ihren Ausschnitt kriechen. Von dort ging es schnurgerade durch den Tunnel des Pulloverärmels , mit einem Hüpfer durch das kleine Fenster und über den Flügel rutschend ins Himmelblau.
Sie sah sich in dem grauen Kunstledersitz, eine junge Frau, die beim Betreten eines Flugzeuges in Gedanken immer noch eine Beschwörungsformel murmelte. Sie kam nicht darauf, woran sie der Geruch des Kunstleders erinnerte. Einmal hatte es ihre Cessna in Venezuela kurz vor der Landepiste gewaltsam nach unten gedrückt, und der Buschpilot hatte es gerade noch geschafft, das Flugzeug wieder zu fangen. Damals waren sie unterwegs in ihr Paradies am Fuße der Tafelberge, mit Wasserfällen, in denen sie sich geliebt hatten.
Sie lächelte die Stewardess an, die ihr das nächste Glas Rotwein brachte. Es war alles wie immer, die Gnadenlosigkeit des Eintopfgeruchs, die Zuverlässigkeit des Getränkenachschubes, das Innen, das Außen und der Flugkorridor. Das gab Sicherheit.
Sie lächelte beim Gedanken an George, den sie heute Abend treffen würde. Sein Gesicht erinnerte sie an Ricardo.
Sie wischte ihre Handflächen an der Anzughose ab.
Die Verhandlungen mit der Health Solutions GmbH gestern waren gut gelaufen, die anderen saßen ihr zu dritt gegenüber, aber sie hatte alle ihre wichtigen Punkte durchgesetzt. Wie sie zuerst gekämpft hatte um die Gewährleistungsfristen, obwohl die gar nicht kritisch waren für die Firma. Und wie sie dann nachgegeben hatte und dafür die Mindestabsätze für die ersten drei Jahre bekommen hatte. Rob würde zufrieden sein. Sie löste den Sicherheitsgurt, stemmte sich an ihrem Tablett vorbei aus dem Sitz und buckelte unter der Gepäckablage bis zum Gang. Der Weg zum Toilettenschild im Heck war jetzt frei, bis auf einen kleinen Keks auf dem Boden rechts, wo im Notfall die Leuchtstreifen den Weg zum Ausgang weisen würden. Auf dem Rückweg traf ihr Fuß genau auf den Keks.
Die Stewardess lächelte professionell hinter dem nächsten Glas Rotwein.
Wenn sie es schaffte, heute Abend rechtzeitig zur Verabredung bei George zu sein, würde sie am Wochenende anfangen, Bewerbungen zu schreiben. Neulich hatte sie eine Reportage über einen Manager gesehen, der nach vielen Jahren als Unternehmensberater alles hingeworfen hatte und ein Leben als Hüttenwirt in den Alpen begonnen hatte.
Sie wischte ihre Handflächen an der Anzughose ab. Wenn sie in Frankfurt zügig einen anderen Flug bekam, würde sie es vielleicht heute Abend noch schaffen, den Anzug in die Reinigung zu bringen. Sie wollte nicht daran denken, dass die Firma mit dem Vertriebspartner Health Solutions vermutlich auch nicht mehr Ertrag erwirtschaften würde als mit der eigenen Niederlassung. Das hatte jedenfalls ihre Kalkulation ergeben. Aber Rob hatte sie nicht akzeptiert und sie so lange bedrängt, bis sie neue Zahlen präsentierte, aus denen das gewünschte Ergebnis hervorging.
Sie nippte an einem frischen Plastikbecher Rotwein.
Das Fenster war ein Bildschirm, auf dem der Himmel vorbeizog. Nur die Eisblume außen störte. Ihre Mitarbeiter hatte sie in einer Telefonkonferenz über den Verlust ihrer Arbeitsplätze informieren müssen. Sie hatte ins Mikrophon gesprochen wie in eine Sackgasse. Kein Bild konnte ihr suggerieren, sie wäre in einem schlechten Film.
„Meine Damen und Herren, hier spricht noch einmal Ihr Kapitän. In wenigen Minuten werden wir unseren Landeanflug auf Frankfurt beginnen. Wir gehen nicht davon aus, dass unser kleines Triebwerksproblem eine sichere Landung beeinträchtigen wird. Wir entschuldigen uns für die entstandenen Unannehmlichkeiten und hoffen, dass Ihnen der Aufenthalt bei uns an Bord trotzdem ein wenig gefallen hat. Unser Bodenteam organisiert bereits den Ersatzflug für Sie, der Sie dann hoffentlich recht bald sicher an Ihr Ziel bringen wird.“
Bestimmt würden die Fußsohlen nicht mehr kribbeln, sobald sie die Schuhe wieder angezogen hätte.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Lue, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

In einer kleinen, feinen Geschichte hast Du ein bedrückendes Thema umgesetzt - hat mir gefallen! Bin gespannt, was andere dazu meinen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Lue,
als Erstes fiel mir beim Lesen deiner Kurzgeschichte auf, dass die von dir gewählte Sprache die bedrückende Atmosphäre an Bord und die psychische Verfassung der Protagonistin gut wiedergibt. Den Einstieg, den ersten Absatz finde ich sehr gelungen.
Obwohl wenig von der äußeren Erscheinung der Frau (Anzugträgerin, sie ist jung) erwähnt wird, bekomme ich ein Bild von ihr. Etwas gestört hat mich die Erwähnung eines Pullovers zusammen mit einem Anzug.
Auch haben sich mir nicht auf Anhieb die Nebenfiguren Ricardo, George und Rob erschlossen.

Hier stimmt etwas nicht:
„Der Kantinengeruchs kam von hinten: „Would you like chicken or pasta?“, das Klirren der Flaschen im Servierwagen und zwischendurch das Klacken der Bremsarretierung.“

Hier ist zweimal derselbe Satzanfang, finde ich nicht so schön:
„Sie lächelte die Stewardess an, die ihr das nächste Glas Rotwein brachte. Es war alles wie immer, die Gnadenlosigkeit des Eintopfgeruchs, die Zuverlässigkeit des Getränkenachschubes, das Innen, das Außen und der Flugkorridor. Das gab Sicherheit.
Sie lächelte beim Gedanken an George, den sie heute Abend treffen würde. Sein Gesicht erinnerte sie an Ricardo.“

Ansonsten sehr gern gelesen,
Silbenstaub
 



 
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