Hinter dem Horizont

Hinter dem Horizont

Marianna eilte die Treppen hoch. Es war ein schwüler Tag, sie schwitze schon, seit sie in der stickigen U-Bahn zwischen Leuten gequetscht worden war. Am Bahnhof wollte sie Peter, der Zeitungsverkäufer in ein Gespräch verwickeln. Jeden Tag fuhr sie die Strecke, jeden Tag kaufte sie bei Peter eine Zeitung, obwohl sie eine Lupe brauchte, um die Schrift lesen zu können, und gab ihm 10 Cent Trinkgeld. Marianna machte sich nichts aus Geld. Sie hatte genug zum Leben, den Rest verschenkte sie. An Peter, an das städtische Tierheim, an Marcus, den Zehnjährigen aus der Nachbarschaft, dessen Eltern nach dem Frühstück schon betrunken vor dem Fernseher vegetierten. Manchmal trank sie einen Kaffee mit Peter, aus Pappbechern, die so heiß waren, dass sie sich beim Transport vom Kiosk zu seinem Angelstuhl fast die Finger verbrühte. Heute lief sie schnellen Schrittes an ihm vorbei, erntete ein: „Marianna, so in Eile?“, von ihm und drehte sich, um kurz den Kopf zu nicken. Sie hatte verschlafen.
Noch nie hatte sie verschlafen. Vielleicht mit Absicht, ein schwerer Tag stand ihr bevor. Marianna war ein pflichtbewusster Mensch, selbst, wenn keine Verrichtung auf sie wartete, begann ihr Morgen um 6 Uhr in der Früh. Gestern Abend hatten bohrende Fragen sie um den Schlaf gebracht. Sie hatte im Dunkel gelegen und versucht sie abzuschütteln. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte sich eine warme Milch gemacht. Der Wecker zeigte 3,27 Uhr. Sie hätte wach bleiben können, doch die bleierne Müdigkeit zwang sie auf die Couch im Wohnzimmer, dort war sie im Sitzen eingeschlafen.
Es war ein herrlicher Tag, Frühling. Die Natur kämpfte sich aus ihrem Winterschlaf. Die Sonne erwärmte die Gemüter, der verbissene Concierge brachte ein Lächeln zustande.
Marianna nahm den Weg durchs Treppenhaus. Die Enge des Fahrstuhls ertrug sie heute nicht. Sie schenkte der Reinigungsfrau, die gerade am Flurfenster lehnte und eine Zigarette rauchte ein warmes „Hallo“, stolperte fast über deren Mischmopstange, aber kein Anzeichen eines Fluches formte sich auf ihren Lippen. Sie würde zu spät kommen, eine ganze Stunde zu spät. Elise würde ihr das nicht verzeihen. Sie würde nichts sagen. Sie sagte nie etwas. Aber Marianna würde die Falten auf ihrer Stirn deutlich sehen können, die Mundwinkel, die ihr zeigten, dass selbst zehn Minuten unverzeihlich waren. Marianna drehte den Schlüssel im Schloss, das schlechte Gewissen ließ ihre Hände unmerklich zittern. „Ich bin es, Elise!“, rief sie in den Flur. Es war stickig, dunkel und stickig. Der Geruch von gekipptem Wasser schlug ihr entgegen. Elise antwortete nicht, Marianna hatte nichts anderes erwartet. Eine Stunde zu spät, das würde ihre Schwester sie spüren lassen. Sie hängte ihre leichte Jacke an die Garderobe. Sie war klamm, auch die Bluse war feucht geschwitzt. Marianna ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Elise saß ausdruckslos da. Marianna spürte die Blicke im Rücken. Die Schuldgefühle wogen schwer. Immer schaffte es Elise, nur mit dem Ausdruck in ihren Augen, sie in den Boden zu zwingen. „Warum sitzt du hier im Dunkeln?“, fragte Marianna, „Es ist herrliches Wetter draußen!“ Sie öffnete das Fenster, frische Morgenluft drang ins Zimmer. Elise war schon angekleidet und saß da, unbeweglich, wie ein Porträt. Ein Bild des Alters. Schlohweiße, ungekämmte Haare, dünne von braunen Flecken übersäte Beine. Sie hatte einen luftigen Rock an. Unter ihrer cremefarbenen Bluse hob sich der knochige Brustkorb. Das Einzige, was sich an ihr bewegte. Marianna sah sie vor sich, mit wehendem Haar am Strand, braun gebrannt, der Inbegriff der Schönheit. Stets war Marianna, die Jüngere in ihrem Schatten untergegangen. Sie sah sie im Mondlicht tanzen, die Bewegungen so flüssig, als wäre ihr Körper aus Seide. Marianna griff nach der Vase auf dem Fensterbrett. Die welken Blumen darin wanderten in den Papierkorb, das faulige Wasser spülte Marianna in den Abfluss. Elise liebte Blumen. Früher hatte sie einen eigenen Steingarten gehabt, eine winzige Welt aus Blüten, Trieben und weißen Kieseln. Sie hatte sich darin verloren, als würden ihre Gedanken darin wohnen, als würde sie unter dem winzigen Torbogen aus Rosen hindurchgehen können. „Wir werden raus gehen heute, Elise. Das Wetter ist so wunderbar. Schau doch mal hinaus, der Winter hat sich endgültig verabschiedet“, sagte Marianna in die laue Frühlingsluft. Es würde noch eine Weile dauern, bis Elise ihr verziehen hatte.

Noch immer lag die Stirn kraus, als sie vor dem Springbrunnen saßen. Die Sonne malte einen Regenbogen über die Fontäne. Zahme Spatzen hüpften näher, um etwas zu erbeuten. Marianna packte das Frühstück aus ihrer Tasche. Weiche Brote mit Teewurst, die mochte Elise, vier Stücken Cremetorte. Die hatte sie vorgestern gebacken, für das Kiezfest, an dem sie nicht teilgenommen hatte. Trotzdem Marianna sie einzeln, fein säuberlich in Folie verpackt hatte, waren sie nun mehr Schokoladenmatsch, als vorzeigbar. Aber sie schmeckten vortrefflich. Sie zauberten einen Hauch von Lächeln auf Elises Lippen. Sie waren so wie Elise selbst, ein Buch, das nicht nach dem Einband beurteilt werden sollte. In diesem gebrechlichen Körper wohnte eine starke Frau, eine Kämpferseele. Marianna erinnerte sich an Kindertage, als Elise sich mit Jungen geprügelt hatte, der Lehrerin, ihre Wange angeboten und voller Stolz die Ohrfeige angenommen hatte, ohne auch nur eine Träne zu verlieren, ohne einen Laut. Wie sie sich in den Weg gestellt hatte, als der betrunkene Vater aus der Kneipe kam, alles und jeden für sein jämmerliches Leben zu bestrafen.
„Frau Braun, sie genießen das Wetter? Eine schöne Idee! Und Frau Pölmann, wie geht’s Ihnen?“ Marianna liebte diesen jungen Mann, der stets ein paar Worte übrig hatte. Die Jugend von heute hatte keinen Respekt mehr vor dem Alter. Alte Schachtel hatte einmal ein stürmisches Ding zu ihr gesagt, weil sie im Supermarkt die Etiketten nicht mehr entziffern konnte und lange vor dem Regal herumstand.
Man traf nur noch selten auf junge Menschen, die nicht vergessen hatten, dass auch sie das Alter irgendwann einholen würde, die glaubten, dass halb blinde Augen und gebrechliche Knochen nichts mehr wert waren, weil sie nichts leisten konnten. Wie hätte Elise sie eines Besseren belehrt, damals als sie im Komitee für ihre Überzeugungen gekämpft hatte. Marianna spürte Trauer. Sie vertrieb sie mit einem Krümel Brot, den sie dem forschsten der Spatzenmeute vor den Schnabel hielt. Das kleine Kerlchen hüpfte possierlich näher, blitzschnell mopste es die Beute, flog davon, um seinen Schatz vor den anderen zu schützen.
„Ich konnte nicht schlafen, Elise. Ich habe den Wecker nicht gehört. Auf der Couch bin ich eingeschlafen. Es tut mir leid, Elise, auch ich werde alt und müde.“
Elise sagte nichts. Sie saß einfach da und blickte auf das Wasserspiel vor sich. Die Sonne ließ die fahle, knittrige Haut in ihrem Gesicht leuchten. Marianna deckte den Rock über die zitternden Knie, der laue Wind hatte ihn aufgebauscht. „Weißt Du Elise, ich habe geträumt. Schon lange habe ich nicht mehr geträumt.“ Sie zerpflückte den Rest des Brotes, das ihre Schwester übrig gelassen hatte, und warf eine Handvoll Krümel den anderen Bittstellern zu.
„Ich habe geträumt von einem steinigen Weg. An den Seiten wuchsen die schönsten Blumen, die du je gesehen hast. Rosen, Veilchen, Narzissen, alles bunt der Welt. Elise, so wunderschön schillernd.“ Marianna sah zu ihrer Schwester auf. Sie glaubte, eine Regung hinter der zornigen Stirn zu sehen.“ Ich lief den Weg entlang. Ich hatte keine Schuhe an und riss mir die Fußsohlen an den spitzen Steinen auf, aber ich lief immer weiter. Mal wurde der Weg leichter. Ich hatte feinen Sand unter den Füßen. Mal wurde er so steinig, dass ich über Felsen klettern musste.“ Sie holte Luft, auch sie war schon lange keine junge Frau mehr.
„Elise, im Traum habe ich den Horizont gesehen. Ein blau, wie du es dir nicht vorstellen kannst und Wolken wie Watte. Ich wollte hineingreifen in dieses Gespinst aus Zucker, aber ich reichte nicht heran. Ich musste immer weiter laufen. Meine Beine trugen mich wie von selbst.“
Nun glaubte Marianna, ein wissendes Lächeln auf Elises starrem Gesicht zu entdecken.
Sie blieb einen Moment still. „Du hast ihn auch schon gesehen, nicht wahr, Elise. Diesen alles verheißenden Himmel.“
„Einen schönen Tag, Frau Pölmann.“ Die Frau mit dem alten Mann an der Hand riss sie aus ihrem Zwiegespräch. Marianna grüßte zurück, für sich und auch für Elise.
„Ich lief immer weiter, immer dem Horizont entgegen“, hob sie zum Reden an, als die Spaziergänger außer Hörweite waren.“ An den Seiten des Weges tauchten hohe Bäume auf, Kastanien, Birken und Eichen. Ihre Äste schlossen sich über mir, wie ein Dach aus Blättern. Eine Weile konnte ich das Blau nicht mehr sehen, aber ich wusste, dass es auf mich wartete. Ich musste nur weiterlaufen, immer weiter laufen, Elise.“ Marianna trank einen Schluck Wasser. Ihr Rachen war trocken vom ausholenden Sprechen. Sonst war sie immer die Zuhörerin, eine gute Zuhörerin, nicht nur Peter vertraute ihr all seine Sorgen an. „Ich lief und lief, Elise. Im Traum konnte ich laufen, wie damals, ohne Schmerzen. Ohne, dass das schnelle Stiefeln mir die Luft nahm. Ich lief, wie ein junges Mädchen, Elise, auf Federn. Die spitzen Steine konnten mir nichts anhaben.“ Elise schwappte ein kehliger Laut über die rissigen Lippen, wie zur Bestätigung. „Und dann wurde der Weg immer schmaler. Bald war er nur noch wie ein Trampelpfad und die Bäume und Blumen am Wegesrand wichen welker, trostloser Landschaft.“ Marianna strich ihrer Schwester eine Strähne des kraftlosen Haares aus dem Gesicht. Die kalte, ledrige Haut war weicher als sonst. Die Sonne hatte sie erwärmt. „Ich lief einfach weiter Elise, irgendetwas zog mich vorwärts, wie ein leidenschaftlicher Drang. Ich wollte den blauen Himmel sehen und ich lief, ohne mich umzudrehen.“ Langsam wurde es kühler. Ein paar kalte Tropfen des Wasserspiels spritzten zu ihnen herüber. Marianna sah die Beine ihrer Schwester unter dem Rock zittern. Sie beschloss, dass es Zeit wäre, nach oben zu gehen. Sie kümmerte sich um das Mittagessen. Es gab Kartoffelbrei mit Bouletten. Marianna quetschte das Hackfleisch in mundgerechte Brocken. Sie ging ins Bad und warf einen Blick in den Spiegel. Die Frau dort war müde, aschfahle Haut und traurige Augen unter hängenden Lidern. Ihre dunklen Brauen sprangen unnatürlich aus dem Gesicht hervor. Ihre Hände waren trocken und rissig, wie altes Papier. Als sie ins Zimmer zurückkam, war Elise eingeschlafen, über dem Kartoffelbrei. Ein Rest Soße klebte im Mundwinkel. Marianna nahm ein Taschentuch und wischte ihn weg. Sie setzte sich neben Elise, legte die Hände ihrer Schwester in den Schoss. „In meinem Traum, Elise, war ich schon so weit gelaufen, dass alles verschwamm. Es war, als würde der Weg hinter mir, wie eine Brücke abbrechen. Wir haben nie an Gott geglaubt, Elise. Wir waren nicht wie die anderen Kinder, jeden Sonntag in der Kirche. Weiß Gott, du hast viel gesündigt. Du warst so lebendig und frei.“
Marianna brach ab. Eine stille Träne stahl sich aus ihrem Auge, blieb als Tropfen unter der Nasenspitze. Marianna fing ihn mit dem Taschentuch auf. Sie erhob sich, legte den Teller auf das Tablett, nahm das Glas Wasser herunter und stellte es auf den Nachtschrank.
„Ich lief, bis ich vor einem Tor stand, Elise“, redete sie weiter, im Wissen keine Antwort zu bekommen.“ Es war so ein Tor, wie aus deinem Steingarten. Ein riesiger Torbogen. Er reichte bis hoch in die Wolken und die schönsten Blüten in allen Farben prangten daran. Rote, Weiße und Gelbe, Blaue und Schwarze.“ Marianna stand vor der Kommode. Sie nahm das Foto darauf in die Hand. Es zeigte sie als junge Frauen. Elise mit einem Strohhut, ihr Gesicht darunter lächelte der Welt entgegen. Marianna trug ein hellblaues Stirnband. Der Wind wehte ihr Haar in Elises Nacken. „Hinter dem Tor war der Weg zu Ende, Elise. Das wusste ich, ohne es gesehen zu haben. Hinter diesem Tor wartete der Horizont, in all seiner Schönheit und ich musste nur hindurchgehen, um von ihr empfangen zu werden.“ Sie presste das Foto an ihre Brust, spürte den kalten Rahmen durch ihre Bluse hindurch. „Ich weiß jetzt, dass Du vor diesem Tor stehst, Elise. Du siehst all die Farben, genau, wie ich sie im Traum gesehen habe, und du willst nichts weiter, als den Horizont in deine Arme schließen und die weichen Wolken zwischen den Fingern spüren.“ Marianna ging zu ihrer Tasche. Unter den Resten vom Kuchen und den Brotpäckchen fand sie eine kleine Flasche. Sie schüttelte sie, gab den Inhalt in das Wasserglas auf dem Nachtschrank. Dann hob sie das Glas an Elises Lippen. „Ich werde dich besuchen, Elise, schon bald werde ich Dich besuchen. Einen Teil des Weges muss ich noch gehen. Niemand kann mir das abnehmen. Aber wenn ich vor dem Torbogen stehe, werde ich Dich dahinter tanzen sehen, mit wehenden Haaren und in jugendlicher Schönheit, und Du wirst mich in deine Arme nehmen, wie früher als wir noch Kinder waren.“
Marianna legte den Kopf auf die Brust ihrer Schwester. Hinter dem Fenster lärmte die Stadt, doch sie hörte nur den ruhigen Atem Elises und spürte die Tränen, die die cremeweiße Bluse benässten.
 
Hinter dem Horizont

Marianna eilte die Treppen hoch. Es war ein unerwartet schwüler Tag, sie schwitze schon, seit sie in der stickigen U-Bahn zwischen die Leute gequetscht worden war. Am Bahnhof wollte sie Peter, der Zeitungsverkäufer in ein Gespräch verwickeln. Jeden Tag fuhr sie die Strecke, jeden Tag kaufte sie bei Peter eine Zeitung, obwohl sie eine Lupe brauchte, um die Schrift lesen zu können, und gab ihm 10 Cent Trinkgeld. Marianna machte sich nichts aus Geld. Sie hatte genug zum Leben, den Rest verschenkte sie. An Peter, an das städtische Tierheim, an Marcus, den Zehnjährigen aus der Nachbarschaft, dessen Eltern nach dem Frühstück schon betrunken vor dem Fernseher vegetierten. Manchmal trank sie einen Kaffee mit Peter, aus Pappbechern, die so heiß waren, dass sie sich beim Transport vom Kiosk zu seinem Angelstuhl fast die Finger verbrühte. Heute lief sie schnellen Schrittes an ihm vorbei, erntete ein: „Marianna, so in Eile?“, von ihm und drehte sich, um kurz den Kopf zu nicken. Sie hatte verschlafen.
Noch nie hatte sie verschlafen. Vielleicht mit Absicht, ein schwerer Tag stand ihr bevor. Marianna war ein pflichtbewusster Mensch, selbst, wenn keine Verrichtung auf sie wartete, begann ihr Morgen um 6 Uhr in der Früh. Gestern Abend hatten bohrende Fragen sie um den Schlaf gebracht. Sie hatte im Dunkel gelegen und versucht sie abzuschütteln. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte sich eine warme Milch gemacht. Der Wecker zeigte 3,27 Uhr. Sie hätte wach bleiben können, doch die bleierne Müdigkeit zwang sie auf die Couch im Wohnzimmer, dort war sie im Sitzen eingeschlafen.
Es war ein herrlicher Tag, Frühling. Die Natur kämpfte sich aus ihrem Winterschlaf. Die Sonne erwärmte die Gemüter, der verbissene Concierge brachte ein Lächeln zustande.
Marianna nahm den Weg durchs Treppenhaus. Die Enge des Fahrstuhls ertrug sie heute nicht. Sie schenkte der Reinigungsfrau, die gerade am Flurfenster lehnte und eine Zigarette rauchte ein warmes „Hallo“, stolperte fast über deren Mischmopstange, aber kein Anzeichen eines Fluches formte sich auf ihren Lippen. Sie würde zu spät kommen, eine ganze Stunde zu spät. Elise würde ihr das nicht verzeihen. Sie würde nichts sagen. Sie sagte nie etwas. Aber Marianna würde die Falten auf ihrer Stirn deutlich sehen können, die Mundwinkel, die ihr zeigten, dass selbst zehn Minuten unverzeihlich waren. Marianna drehte den Schlüssel im Schloss, das schlechte Gewissen ließ ihre Hände unmerklich zittern. „Ich bin es, Elise!“, rief sie in den Flur. Es war stickig, dunkel und stickig. Der Geruch von gekipptem Wasser schlug ihr entgegen. Elise antwortete nicht, Marianna hatte nichts anderes erwartet. Eine Stunde zu spät, das würde ihre Schwester sie spüren lassen. Sie hängte ihre leichte Jacke an die Garderobe. Sie war klamm, auch die Bluse war feucht geschwitzt. Marianna ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Elise saß ausdruckslos da. Marianna spürte die Blicke im Rücken. Die Schuldgefühle wogen schwer. Immer schaffte es Elise, nur mit dem Ausdruck in ihren Augen, sie in den Boden zu zwingen. „Warum sitzt du hier im Dunkeln?“, fragte Marianna, „Es ist herrliches Wetter draußen!“ Sie öffnete das Fenster, frische Morgenluft drang ins Zimmer. Elise war schon angekleidet und saß da, unbeweglich, wie ein Porträt. Ein Bild des Alters. Schlohweiße, ungekämmte Haare, dünne von braunen Flecken übersäte Beine. Sie hatte einen luftigen Rock an. Unter ihrer cremefarbenen Bluse hob sich der knochige Brustkorb. Das Einzige, was sich an ihr bewegte. Marianna sah sie vor sich, mit wehendem Haar am Strand, braun gebrannt, der Inbegriff der Schönheit. Stets war Marianna, die Jüngere in ihrem Schatten untergegangen. Sie sah sie im Mondlicht tanzen, die Bewegungen so flüssig, als wäre ihr Körper aus Seide. Marianna griff nach der Vase auf dem Fensterbrett. Die welken Blumen darin wanderten in den Papierkorb, das faulige Wasser spülte Marianna in den Abfluss. Elise liebte Blumen. Früher hatte sie einen eigenen Steingarten gehabt, eine winzige Welt aus Blüten, Trieben und weißen Kieseln. Sie hatte sich darin verloren, als würden ihre Gedanken darin wohnen, als würde sie unter dem winzigen Torbogen aus Rosen hindurchgehen können. „Wir werden raus gehen heute, Elise. Das Wetter ist so wunderbar. Schau doch mal hinaus, der Winter hat sich endgültig verabschiedet“, sagte Marianna in die laue Frühlingsluft. Es würde noch eine Weile dauern, bis Elise ihr verziehen hatte.

Noch immer lag die Stirn kraus, als sie vor dem Springbrunnen saßen. Die Sonne malte einen Regenbogen über die Fontäne. Zahme Spatzen hüpften näher, um etwas zu erbeuten. Marianna packte das Frühstück aus ihrer Tasche. Weiche Brote mit Teewurst, die mochte Elise, vier Stücken Cremetorte. Die hatte sie vorgestern gebacken, für das Kiezfest, an dem sie nicht teilgenommen hatte. Trotzdem Marianna sie einzeln, fein säuberlich in Folie verpackt hatte, waren sie nun mehr Schokoladenmatsch, als vorzeigbar. Aber sie schmeckten vortrefflich. Sie zauberten einen Hauch von Lächeln auf Elises Lippen. Sie waren so wie Elise selbst, ein Buch, das nicht nach dem Einband beurteilt werden sollte. In diesem gebrechlichen Körper wohnte eine starke Frau, eine Kämpferseele. Marianna erinnerte sich an Kindertage, als Elise sich mit Jungen geprügelt hatte, der Lehrerin, ihre Wange angeboten und voller Stolz die Ohrfeige angenommen hatte, ohne auch nur eine Träne zu verlieren, ohne einen Laut. Wie sie sich in den Weg gestellt hatte, als der betrunkene Vater aus der Kneipe kam, alles und jeden für sein jämmerliches Leben zu bestrafen.
„Frau Braun, sie genießen das Wetter? Eine schöne Idee! Und Frau Pölmann, wie geht’s Ihnen?“ Marianna liebte diesen jungen Mann, der stets ein paar Worte übrig hatte. Die Jugend von heute hatte keinen Respekt mehr vor dem Alter. Alte Schachtel hatte einmal ein stürmisches Ding zu ihr gesagt, weil sie im Supermarkt die Etiketten nicht mehr entziffern konnte und lange vor dem Regal herumstand.
Man traf nur noch selten auf junge Menschen, die nicht vergessen hatten, dass auch sie das Alter irgendwann einholen würde, die glaubten, dass halb blinde Augen und gebrechliche Knochen nichts mehr wert waren, weil sie nichts leisten konnten. Wie hätte Elise sie eines Besseren belehrt, damals als sie im Komitee für ihre Überzeugungen gekämpft hatte. Marianna spürte Trauer. Sie vertrieb sie mit einem Krümel Brot, den sie dem forschsten der Spatzenmeute vor den Schnabel hielt. Das kleine Kerlchen hüpfte possierlich näher, blitzschnell mopste es die Beute, flog davon, um seinen Schatz vor den anderen zu schützen.
„Ich konnte nicht schlafen, Elise. Ich habe den Wecker nicht gehört. Auf der Couch bin ich eingeschlafen. Es tut mir leid, Elise, auch ich werde alt und müde.“
Elise sagte nichts. Sie saß einfach da und blickte auf das Wasserspiel vor sich. Die Sonne ließ die fahle, knittrige Haut in ihrem Gesicht leuchten. Marianna deckte den Rock über die zitternden Knie, der laue Wind hatte ihn aufgebauscht. „Weißt Du Elise, ich habe geträumt. Schon lange habe ich nicht mehr geträumt.“ Sie zerpflückte den Rest des Brotes, das ihre Schwester übrig gelassen hatte, und warf eine Handvoll Krümel den anderen Bittstellern zu.
„Ich habe geträumt von einem steinigen Weg. An den Seiten wuchsen die schönsten Blumen, die du je gesehen hast. Rosen, Veilchen, Narzissen, alles bunt der Welt. Elise, so wunderschön schillernd.“ Marianna sah zu ihrer Schwester auf. Sie glaubte, eine Regung hinter der zornigen Stirn zu sehen.“ Ich lief den Weg entlang. Ich hatte keine Schuhe an und riss mir die Fußsohlen an den spitzen Steinen auf, aber ich lief immer weiter. Mal wurde der Weg leichter. Ich hatte feinen Sand unter den Füßen. Mal wurde er so steinig, dass ich über Felsen klettern musste.“ Sie holte Luft, auch sie war schon lange keine junge Frau mehr.
„Elise, im Traum habe ich den Horizont gesehen. Ein blau, wie du es dir nicht vorstellen kannst und Wolken wie Watte. Ich wollte hineingreifen in dieses Gespinst aus Zucker, aber ich reichte nicht heran. Ich musste immer weiter laufen. Meine Beine trugen mich wie von selbst.“
Nun glaubte Marianna, ein wissendes Lächeln auf Elises starrem Gesicht zu entdecken.
Sie blieb einen Moment still. „Du hast ihn auch schon gesehen, nicht wahr, Elise. Diesen alles verheißenden Himmel.“
„Einen schönen Tag, Frau Pölmann.“ Die Frau mit dem alten Mann an der Hand riss sie aus ihrem Zwiegespräch. Marianna grüßte zurück, für sich und auch für Elise.
„Ich lief immer weiter, immer dem Horizont entgegen“, hob sie zum Reden an, als die Spaziergänger außer Hörweite waren.“ An den Seiten des Weges tauchten hohe Bäume auf, Kastanien, Birken und Eichen. Ihre Äste schlossen sich über mir, wie ein Dach aus Blättern. Eine Weile konnte ich das Blau nicht mehr sehen, aber ich wusste, dass es auf mich wartete. Ich musste nur weiterlaufen, immer weiter laufen, Elise.“ Marianna trank einen Schluck Wasser. Ihr Rachen war trocken vom ausholenden Sprechen. Sonst war sie immer die Zuhörerin, eine gute Zuhörerin, nicht nur Peter vertraute ihr all seine Sorgen an. „Ich lief und lief, Elise. Im Traum konnte ich laufen, wie damals, ohne Schmerzen. Ohne, dass das schnelle Stiefeln mir die Luft nahm. Ich lief, wie ein junges Mädchen, Elise, auf Federn. Die spitzen Steine konnten mir nichts anhaben.“ Elise schwappte ein kehliger Laut über die rissigen Lippen, wie zur Bestätigung. „Und dann wurde der Weg immer schmaler. Bald war er nur noch wie ein Trampelpfad und die Bäume und Blumen am Wegesrand wichen welker, trostloser Landschaft.“ Marianna strich ihrer Schwester eine Strähne des kraftlosen Haares aus dem Gesicht. Die kalte, ledrige Haut war weicher als sonst. Die Sonne hatte sie erwärmt. „Ich lief einfach weiter Elise, irgendetwas zog mich vorwärts, wie ein leidenschaftlicher Drang. Ich wollte den blauen Himmel sehen und ich lief, ohne mich umzudrehen.“ Langsam wurde es kühler. Ein paar kalte Tropfen des Wasserspiels spritzten zu ihnen herüber. Marianna sah die Beine ihrer Schwester unter dem Rock zittern. Sie beschloss, dass es Zeit wäre, nach oben zu gehen. Sie kümmerte sich um das Mittagessen. Es gab Kartoffelbrei mit Bouletten. Marianna quetschte das Hackfleisch in mundgerechte Brocken. Sie ging ins Bad und warf einen Blick in den Spiegel. Die Frau dort war müde, aschfahle Haut und traurige Augen unter hängenden Lidern. Ihre dunklen Brauen sprangen unnatürlich aus dem Gesicht hervor. Ihre Hände waren trocken und rissig, wie altes Papier. Als sie ins Zimmer zurückkam, war Elise eingeschlafen, über dem Kartoffelbrei. Ein Rest Soße klebte im Mundwinkel. Marianna nahm ein Taschentuch und wischte ihn weg. Sie setzte sich neben Elise, legte die Hände ihrer Schwester in den Schoss. „In meinem Traum, Elise, war ich schon so weit gelaufen, dass alles verschwamm. Es war, als würde der Weg hinter mir, wie eine Brücke abbrechen. Wir haben nie an Gott geglaubt, Elise. Wir waren nicht wie die anderen Kinder, jeden Sonntag in der Kirche. Weiß Gott, du hast viel gesündigt. Du warst so lebendig und frei.“
Marianna brach ab. Eine stille Träne stahl sich aus ihrem Auge, blieb als Tropfen unter der Nasenspitze. Marianna fing ihn mit dem Taschentuch auf. Sie erhob sich, legte den Teller auf das Tablett, nahm das Glas Wasser herunter und stellte es auf den Nachtschrank.
„Ich lief, bis ich vor einem Tor stand, Elise“, redete sie weiter, im Wissen keine Antwort zu bekommen.“ Es war so ein Tor, wie aus deinem Steingarten. Ein riesiger Torbogen. Er reichte bis hoch in die Wolken und die schönsten Blüten in allen Farben prangten daran. Rote, Weiße und Gelbe, Blaue und Schwarze.“ Marianna stand vor der Kommode. Sie nahm das Foto darauf in die Hand. Es zeigte sie als junge Frauen. Elise mit einem Strohhut, ihr Gesicht darunter lächelte der Welt entgegen. Marianna trug ein hellblaues Stirnband. Der Wind wehte ihr Haar in Elises Nacken. „Hinter dem Tor war der Weg zu Ende, Elise. Das wusste ich, ohne es gesehen zu haben. Hinter diesem Tor wartete der Horizont, in all seiner Schönheit und ich musste nur hindurchgehen, um von ihr empfangen zu werden.“ Sie presste das Foto an ihre Brust, spürte den kalten Rahmen durch ihre Bluse hindurch. „Ich weiß jetzt, dass Du vor diesem Tor stehst, Elise. Du siehst all die Farben, genau, wie ich sie im Traum gesehen habe, und du willst nichts weiter, als den Horizont in deine Arme schließen und die weichen Wolken zwischen den Fingern spüren.“ Marianna ging zu ihrer Tasche. Unter den Resten vom Kuchen und den Brotpäckchen fand sie eine kleine Flasche. Sie schüttelte sie, gab den Inhalt in das Wasserglas auf dem Nachtschrank. Dann hob sie das Glas an Elises Lippen. „Ich werde dich besuchen, Elise, schon bald werde ich Dich besuchen. Einen Teil des Weges muss ich noch gehen. Niemand kann mir das abnehmen. Aber wenn ich vor dem Torbogen stehe, werde ich Dich dahinter tanzen sehen, mit wehenden Haaren und in jugendlicher Schönheit, und Du wirst mich in deine Arme nehmen, wie früher als wir noch Kinder waren.“
Marianna legte den Kopf auf die Brust ihrer Schwester. Hinter dem Fenster lärmte die Stadt, doch sie hörte nur den ruhigen Atem Elises und spürte die Tränen, die die cremeweiße Bluse benässten.
 



 
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