S
Stoffel
Gast
Hinter dem Horizont geht es immer weiter
Immer tiefer lief sie in den Wald hinein. Auf Wegen, die sie mit Frank und Melli hundertmal schon gegangen war. Vorbei an Plätzen, an denen sie einst glückliche Momente verlebt hatten.
Nach der Verkündung des Urteils, das ihrer Meinung nach viel zu milde ausfiel, musste sie raus, raus aus dem Gerichtsgebäude, raus aus der Stadt. Getrieben von Wut und Verzweiflung, Hass und Resignation. So wie in all den Monaten nach dem Tod ihrer Tochter.
"Ich habe sie doch nicht gesehen."
Dieser Satz hämmerte unaufhörlich in ihrem Kopf und während sie ging und immer weiter ging, ballten sich ihre Hände in den Manteltaschen zu Fäusten.
Vor einem halben Jahr war Silke's Tochter Melli auf ihrem Fahrrad von einem LKW erfasst worden und verstarb an der Unfallstelle. Seit diesem Tag begann die junge Frau innerlich zu sterben. Melli war Frank und ihr einziges Kind und zehn Jahre des Glücks und der Freude hatten nun ein Ende. Dieser Mann, der als einzige Entschuldigung hervor brachte, ihr Kind nicht gesehen zu haben, hatte einen Schlussstrich unter das Leben ihrer Tochter gesetzt. Und ihr eigenes war seit dem nichts mehr wert.
Nach Melli's Beerdigung zog sie sich immer mehr in sich zurück, ließ niemanden, nicht einmal ihren Ehemann, an sich heran. Sie sprach nicht mehr mit ihm und ging jeden Tag allein auf den Friedhof. Abends schloss sie sich in Melli's Zimmer ein und schlief dort. Frank schaffte es nicht, sie an sich zu ziehen, das Leid mit ihr zu teilen, und litt noch mehr unter dem Verlust. Zwei Monate später zog er aus der gemeinsamen Wohnung aus. Silke war nur noch von dem einzigen Gedanken getrieben: Sie wollte wieder bei Melli sein.
Plötzlich, aus heiterem Himmel, fing es an zu regnen. Sie lief zu einem alten, hohen Baum, der ganz für sich allein da stand und ihr Schutz bot. Silke sah auf ihre Armbanduhr. Drei Stunden war sie durch den Wald gelaufen und sah für sich keinen Sinn mehr weiter zu leben. Sie wusste, was sie nun tun würde. Fest umklammerte sie das Röhrchen mit den Beruhigungstabeltten in ihrer Manteltasche. Die würden bei ihrem Vorhaben helfen. "Warum?", schrie sie so laut sie konnte und sah zum Himmel. "Warum hast du mir das angetan?" Unter Tränen klammerte sie sich an den knorrigen Baum und schloss die Augen. Silke vernahm ein merkwürdiges Geräusch aus seinem Inneren und sie spürte, wie er leicht vibrierte. Erschreckt wich sie zurück, als aus dem Nichts eine Tür aufging, die zu einem Fahrstuhl führte. Ein älterer Mann in Livree kam heraus und lächelte.
"Kommen sie", forderte er sie auf und reichte ihr die Hand. "Steigen sie zu mir ein."
Wie in Trance betrat sie den Fahrstuhl. Es gab nur zwei Knöpfe: "rauf - runter" und er drückte auf den, nach "runter".
Der Fahrstuhl kam zum Stillstand und als sich die Tür öffnete, lag ein langer Gang vor ihr. So einer, wie in einem großen Hotel. Die Türen waren mit Zahlen versehen. Der Alte öffnete die Tür mit der Nummer eins und helles Licht blendete sie. Wie versteinert stand Silke in der Tür, während eine Frau gerade ihr Kind gebar. Am Kopfende saß ein junger Mann und hielt ihre Hand fest umschlossen. Dann legte man das Neugeborene der Frau auf die Brust. Silke spürte die große Freude der beiden und als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte sie sich und Frank. Und es war ihr Baby, ihre Melli. Silkes Herz verkrampfte sich und nach all der Zeit des Trauerns empfand sie wieder diese Freude und das Glücksgefühl in sich.
Der alte Mann schloss die Tür und öffnete eine weitere. Lautes Kinderlachen war zu hören und dann sah sie Frank und Melli im Garten. Es war Mellis fünfter Geburtstag. Frank hatte ihr ein Baumhaus gebaut und nun weihten sie es ein. Silke lachte, als die beiden oben aus dem Fenster winkten. Sie erinnerte sich wieder, wie glücklich Melli war und daran, dass sie Frank und Melli spät Abends oft hatte ins Haus rufen müssen.
Hinter den nächsten Türen fand sie weitere Erinnerungen, die ihr bewusst machten, wie sehr Frank sie und Melli geliebt hatte. Der Gedanke an Frank rührte sie sehr. "Lassen sie uns gehen", sagte der Mann leise und sie stiegen in den Fahrstuhl. Er drückte den Knopf, auf dem "rauf" stand.
Wieder öffnete sich die Fahrstuhltür. Auf dem Gang hier gab es aber nur drei Türen.
"Sind sie bereit?", fragte er. Silke wischte sich die Tränen ab und nickte. Hinter der ersten Tür sah sie den Gerichtssaal. Immer wieder suchte Frank ihren Blick, doch sie beachtete ihn nicht ein einziges Mal. "Wie traurig er doch ist," flüsterte Silke und fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Sie schämte sich sehr und trat auf den Gang hinaus.
"Öffnen sie die nächste Tür selbst", sagte der alte Mann. "Aber nur, wenn sie es wirklich wollen." Silke öffnete die Tür. Frank saß auf einem Sessel und hatte ein Foto in der Hand, das sie und Melli zeigte. Er schien überaus verzweifelt und weinte. Die Flasche Cognac vor ihm war schon halb leer. Dabei trank er doch so etwas sonst nie.
Silke hätte ihm am liebsten etwas zugerufen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Eine Tür war nun noch übrig und nach kurzem Zögern öffnete sie diese. Sie sah eine Frau im Regen auf einer Hochbrücke stehen. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und ihre Hände umklammerten das Brückengeländer. Dann stieg sie auf die andere Seite. Silke's Herz raste wild, als sie näher an die Frau heran ging und sich selbst erkannte. "Nein!" schrie sie und lief auf die Frau zu. "Nein, tu das nicht!". In dem Moment verblasste das Bild und sie stand wieder auf dem Gang.
"Was, was passiert mit ihr?" fragte sie den Alten und der winkte sie in den Fahrstuhl.
Er hielt dort, wo sie eingestiegen war.
"Leben sie wohl", sagte der alte Mann und so geheimnisvoll er erschienen war, verschwand der Fahrstuhl wieder.
"Frank!" durchfuhr es sie. So schnell sie konnte, lief sie zum Parkplatz und fuhr zu Frank's Wohnung. Es dämmerte bereits und sie sah Licht bei ihm. Silke klingelte Sturm. "Frank", sagte sie leise, als er öffnete. "Es tut mir so leid". Weinend fielen sie sich in die Arme. "Wir schaffen das, Silke" sagte er. "Wir beide, gemeinsam."
(danke an Flammarion in der Werkstatt)
Immer tiefer lief sie in den Wald hinein. Auf Wegen, die sie mit Frank und Melli hundertmal schon gegangen war. Vorbei an Plätzen, an denen sie einst glückliche Momente verlebt hatten.
Nach der Verkündung des Urteils, das ihrer Meinung nach viel zu milde ausfiel, musste sie raus, raus aus dem Gerichtsgebäude, raus aus der Stadt. Getrieben von Wut und Verzweiflung, Hass und Resignation. So wie in all den Monaten nach dem Tod ihrer Tochter.
"Ich habe sie doch nicht gesehen."
Dieser Satz hämmerte unaufhörlich in ihrem Kopf und während sie ging und immer weiter ging, ballten sich ihre Hände in den Manteltaschen zu Fäusten.
Vor einem halben Jahr war Silke's Tochter Melli auf ihrem Fahrrad von einem LKW erfasst worden und verstarb an der Unfallstelle. Seit diesem Tag begann die junge Frau innerlich zu sterben. Melli war Frank und ihr einziges Kind und zehn Jahre des Glücks und der Freude hatten nun ein Ende. Dieser Mann, der als einzige Entschuldigung hervor brachte, ihr Kind nicht gesehen zu haben, hatte einen Schlussstrich unter das Leben ihrer Tochter gesetzt. Und ihr eigenes war seit dem nichts mehr wert.
Nach Melli's Beerdigung zog sie sich immer mehr in sich zurück, ließ niemanden, nicht einmal ihren Ehemann, an sich heran. Sie sprach nicht mehr mit ihm und ging jeden Tag allein auf den Friedhof. Abends schloss sie sich in Melli's Zimmer ein und schlief dort. Frank schaffte es nicht, sie an sich zu ziehen, das Leid mit ihr zu teilen, und litt noch mehr unter dem Verlust. Zwei Monate später zog er aus der gemeinsamen Wohnung aus. Silke war nur noch von dem einzigen Gedanken getrieben: Sie wollte wieder bei Melli sein.
Plötzlich, aus heiterem Himmel, fing es an zu regnen. Sie lief zu einem alten, hohen Baum, der ganz für sich allein da stand und ihr Schutz bot. Silke sah auf ihre Armbanduhr. Drei Stunden war sie durch den Wald gelaufen und sah für sich keinen Sinn mehr weiter zu leben. Sie wusste, was sie nun tun würde. Fest umklammerte sie das Röhrchen mit den Beruhigungstabeltten in ihrer Manteltasche. Die würden bei ihrem Vorhaben helfen. "Warum?", schrie sie so laut sie konnte und sah zum Himmel. "Warum hast du mir das angetan?" Unter Tränen klammerte sie sich an den knorrigen Baum und schloss die Augen. Silke vernahm ein merkwürdiges Geräusch aus seinem Inneren und sie spürte, wie er leicht vibrierte. Erschreckt wich sie zurück, als aus dem Nichts eine Tür aufging, die zu einem Fahrstuhl führte. Ein älterer Mann in Livree kam heraus und lächelte.
"Kommen sie", forderte er sie auf und reichte ihr die Hand. "Steigen sie zu mir ein."
Wie in Trance betrat sie den Fahrstuhl. Es gab nur zwei Knöpfe: "rauf - runter" und er drückte auf den, nach "runter".
Der Fahrstuhl kam zum Stillstand und als sich die Tür öffnete, lag ein langer Gang vor ihr. So einer, wie in einem großen Hotel. Die Türen waren mit Zahlen versehen. Der Alte öffnete die Tür mit der Nummer eins und helles Licht blendete sie. Wie versteinert stand Silke in der Tür, während eine Frau gerade ihr Kind gebar. Am Kopfende saß ein junger Mann und hielt ihre Hand fest umschlossen. Dann legte man das Neugeborene der Frau auf die Brust. Silke spürte die große Freude der beiden und als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte sie sich und Frank. Und es war ihr Baby, ihre Melli. Silkes Herz verkrampfte sich und nach all der Zeit des Trauerns empfand sie wieder diese Freude und das Glücksgefühl in sich.
Der alte Mann schloss die Tür und öffnete eine weitere. Lautes Kinderlachen war zu hören und dann sah sie Frank und Melli im Garten. Es war Mellis fünfter Geburtstag. Frank hatte ihr ein Baumhaus gebaut und nun weihten sie es ein. Silke lachte, als die beiden oben aus dem Fenster winkten. Sie erinnerte sich wieder, wie glücklich Melli war und daran, dass sie Frank und Melli spät Abends oft hatte ins Haus rufen müssen.
Hinter den nächsten Türen fand sie weitere Erinnerungen, die ihr bewusst machten, wie sehr Frank sie und Melli geliebt hatte. Der Gedanke an Frank rührte sie sehr. "Lassen sie uns gehen", sagte der Mann leise und sie stiegen in den Fahrstuhl. Er drückte den Knopf, auf dem "rauf" stand.
Wieder öffnete sich die Fahrstuhltür. Auf dem Gang hier gab es aber nur drei Türen.
"Sind sie bereit?", fragte er. Silke wischte sich die Tränen ab und nickte. Hinter der ersten Tür sah sie den Gerichtssaal. Immer wieder suchte Frank ihren Blick, doch sie beachtete ihn nicht ein einziges Mal. "Wie traurig er doch ist," flüsterte Silke und fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Sie schämte sich sehr und trat auf den Gang hinaus.
"Öffnen sie die nächste Tür selbst", sagte der alte Mann. "Aber nur, wenn sie es wirklich wollen." Silke öffnete die Tür. Frank saß auf einem Sessel und hatte ein Foto in der Hand, das sie und Melli zeigte. Er schien überaus verzweifelt und weinte. Die Flasche Cognac vor ihm war schon halb leer. Dabei trank er doch so etwas sonst nie.
Silke hätte ihm am liebsten etwas zugerufen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Eine Tür war nun noch übrig und nach kurzem Zögern öffnete sie diese. Sie sah eine Frau im Regen auf einer Hochbrücke stehen. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und ihre Hände umklammerten das Brückengeländer. Dann stieg sie auf die andere Seite. Silke's Herz raste wild, als sie näher an die Frau heran ging und sich selbst erkannte. "Nein!" schrie sie und lief auf die Frau zu. "Nein, tu das nicht!". In dem Moment verblasste das Bild und sie stand wieder auf dem Gang.
"Was, was passiert mit ihr?" fragte sie den Alten und der winkte sie in den Fahrstuhl.
Er hielt dort, wo sie eingestiegen war.
"Leben sie wohl", sagte der alte Mann und so geheimnisvoll er erschienen war, verschwand der Fahrstuhl wieder.
"Frank!" durchfuhr es sie. So schnell sie konnte, lief sie zum Parkplatz und fuhr zu Frank's Wohnung. Es dämmerte bereits und sie sah Licht bei ihm. Silke klingelte Sturm. "Frank", sagte sie leise, als er öffnete. "Es tut mir so leid". Weinend fielen sie sich in die Arme. "Wir schaffen das, Silke" sagte er. "Wir beide, gemeinsam."
(danke an Flammarion in der Werkstatt)