Hinter der Grenze

petrageige

Mitglied
Hinter der Grenze

Er war falsch abgebogen. Gleich hinter der Grenze war er falsch abgebogen. Dabei hatten ihn seine Kollegen in der Bank noch gewarnt: Stuttgart, Nürnberg, Amberg, Rötz, Waldmünchen - die ideale Route. Der Grenzübergang Waldmünchen ist für LKWs gesperrt und viele kennen ihn gar nicht. Da kommen Sie ganz schnell rüber. Aber passen Sie hinter der Grenze auf. Viele Baustellen und schlecht ausgeschildert. Immer geradeaus halten. Dann sind Sie in einer Stunde in Pilzen und eine gute Stunden später in Prag. Die beste Route, haben wir schon mehrmals ausprobiert.

Und jetzt war er falsch abgebogen. Aber das war ja auch kein Wunder. Überall Schilder und blinkende Markierungsleuchten. Eine Umleitung nach der anderen. Und gleich hinter der Grenze hatte es zu regnen begonnen. Dicke schwere Tropfen schlugen gegen die Scheibe. Die Wischer schafften es kaum. Und seine Lichter reichten kaum über die Kühlerhaube hinaus. Bummm! Ein Schlagloch so groß, daß die Drei Tenöre für einen Moment pausierten. L’arte nel suo mistero le diverse bellezze insiem conf Die CD hatte einen Moment ausgesetzt. Bummm, bummm, bummm...

Die Straße war eng und kurvig. Dann kam ein kleines Waldstück. Hohe Tannen begrenzten den Asphalt wie verbrannte, schwarze Knochen. Eine scharfe Kurve und der Wald war zu Ende. Der Regen ließ nach, ein schmaler gekrümmter Mond stand plötzlich am Himmel. In der Ferne glänzte etwas. War da nicht ein Haus, vielleicht sogar ein Dorf? Doch das Glänzen kam von einer hellen, ebenen Fläche. Wahrscheinlich ein kleiner See. Dann plötzlich ein paar Häuser rechts und links der Straße. Keine Straßenbeleuchtung. Nichts. Nur ein weißes Schild mit einem Namen. Er verstand nicht, was das hieß. Wahrscheinlich der Namen der Ortschaft. Er konnte mit dieser Sprache nichts anfangen. Wenn sie in der Bank einige Geschäftspartner zu Besuch hatten unterhielten sich diese manchmal in ihrer Muttersprache. Er verstand kein Wort. All diese Laute waren ihm völlig fremd. Einmal hatte er einen Brief gesehen, den die Dolmetscherin gerade übersetzte. Geschrieben war diese Sprache für ihn noch seltsamer als gesprochen. Konnte man diese Sprache lernen? War es möglich, sich in ihr zu unterhalten? Die Scheinwerfer beleuchteten ein großes Gehöft. Das verfallene Mauerwerk und die verblaßte Farbe ließen noch etwas von dem alten Wohlstand ahnen. Er hielt an. Eine hohe zweiflügelige Stahltür versperrte den Zugang. Keine Klingel. Er klopfte. Nichts. Nicht einmal ein Hund bellte. Er versuchte es noch einmal. Keine Reaktion. Er ging weiter zu einem kleinen Häuschen, das an das Gehöft anschloß. Es war ebenfalls verfallen, windschief und krumm, so als habe es sich vor Wind und Wetter hingeduckt. Auch hier keine Klingel, kein Name am Tor. Er klopfte. Er rief. Nichts. Da war niemand. Er stieg ein und fuhr weiter.

Am Ende der Ortschaft sah er wieder eine glänzende Fläche. Ein kleiner See. Aber weit und breit keine Hütte, kein Haus. Er gab Gas. Er fuhr so schnell, wie es die Straße eben erlaubte. Plötzlich rumpelte es. Sein Wagen mußte irgend etwas überfahren haben. Er hielt an, untersuchte die Stoßstange, den Kühler, die Motorhaube. Gott sein Dank nichts beschädigt! In den Straßengraben sah er nicht. Was ging das ihn an! Er fuhr weiter. Und dann plötzlich direkt neben der Straße ein Licht. Es kam immer näher. Eine Straßenlaterne beleuchtete ein schiefes, rostiges Blechhäuschen. Daneben ein Pfosten. Auch rostig und krumm. An ihm war eine kleine Tafel befestigt. Wohl eine Haltestelle. Aber wenn es hier eine Haltestelle gab...? Er folgte einfach der Straße. Dann ein Schild, Häuser, Lichter.

In der Mitte des Ortes hielt er, hier war ein Gebäude hell erleuchtet. Als er ausstieg roch es nach Farbe. Die rechte Seite des Gebäudes war frisch gestrichen und zwar in einem schönen kräftigen Maisgelb. Der Türrahmen, die Fenster und die Dachtraufe waren weiß. Direkt unter einer großen Lampe ein Bild: eine junge, schöne Slawin setzte einen von hellem Bier schäumenden Glaskrug an ihre Lippen. Darunter ein großes Schild: Hospoda. Hier mußte wohl eine Kneipe sein. Na also. Die andere Seite des Gebäudes lag im Dunkeln. Sie war von einem Rohrgerüst umgeben. Er stieg verfallene, schiefe Stufen hinauf und wollte die Tür öffnen. Da trat ein alter Mann heraus. Sehr groß und hager. Ein kahler, faltiger Kopf. Er hob den Kopf und murmelte etwas. Dabei war für einen Moment sein Gesicht zu sehen. Über dem rechten Auge hatte er eine tiefe, sternförmige Narbe, die in alle Richtungen lief. Der Alte machte die Tür wieder zu und ging die Stufen hinab, dicht an ihm vorbei.

Aus reiner Gewohnheit rückte er die Krawatte zurecht, dann öffnete er die kleine schiefe Holztür und trat ein. Ein dunkler Vorraum in dem es durchdringend nach Urin roch. Kein Wunder. Denn genau gegenüber vom Eingang befand sich die Toilette. Die Tür war offen. An ihr hing ein zerfledderter Zettel, auf dem ein paar Worte dick unterstrichen waren. Das Ganze war mit drei Ausrufezeichen versehen. Er ging ans Waschbecken und ließ kaltes Wasser über seine Hände laufen. Dann wusch er sein Gesicht. Als er aufblickte sah er im Spiegel schräg hinter sich einen Schuh, der in einem der drei Pissoirbecken lag, die an der weißgekachelten Wand befestigt waren. Darüber hing ein nach unten abgespreizter Fuß. Er dreht den Kopf leicht zur Seite, und der Spiegel zeigte ihm auch den anderen Fuß, der in einem eleganten italienischen Modell steckte. Etwa einen Meter über dem Boden. Er drehte sich um, er wollte das Gesicht nicht sehen. Zuerst wollte er gleich loslaufen. Doch dann kühlte er erst einmal seine Stirn. Dem war ohnehin nicht mehr zu helfen. Das Handtuch, das an der Wand hing, war total verdreckt. Er zog ein weißes Taschentuch aus der Hose und trocknete sich ab. Dann ging er in den Schankraum.

Auch hier roch es nach Farbe. Der Boden war mit einem schmierigen Kunststoff belegt, doch Decke und Wände waren frisch gestrichen. In dem rauchigen Raum saßen an drei, vier Tischen einige Arbeiter und Bauern. Die meisten trugen verschmierte Latzhosen. Einer hatte eine speckige Mütze auf. Ein großer, fast weißblonder Mann sang. Er trug ein dünnes, weißes Hemd, das er bis zum Bauch aufgeknöpft hatte. Dazu eine weiß-schwarz-karrierte Bäckerhose. Er hatte wohl einmal eine schöne Stimme gehabt, selbst heute klang sie noch recht gut. Doch man hörte das Rauchen und den Alkohol heraus.
Guten Abend!
Alle schauten auf, doch niemand grüßte. Sie wandten sich sofort wieder dem Kartenspiel oder ihren lauten Gesprächen zu. In der Ecke lief ein Fernseher. Aber niemand schaute hin.
Da draußen...
Doch niemand beachtete ihn.
Da draußen...
Niemand blickte auf.
Aber hören Sie...
Er setzte sich an einen großen Holztisch in der Ecke. Die Tischdecke, ein schief zugeschnittenes Stück Kunststoff, war klebrig vom Bier und Schnaps. Am Rand stand eine ovale, helle Lache, die wohl, bevor sie weggewischt wurde, eingetrocknet war. In der Mitte ein Aschenbecher, dessen Glas schon lange schwarz und grau geworden war. Ein paar Stummel dampften noch kalt vor sich hin. Auf der Bank lag ein schmales, abgenutztes Stück Teppichboden. Die Bedienung kam langsam angeschlurft. Eine junge Frau mit hübschen, kastanienroten Locken. Ihr Gesicht war mürrisch, zumindest war es gleichgültig. Die engen Stretchleggins spannten sich über einer breiten Hüfte. Der Nagellack an ihren Fingern bestand nur noch aus einzelnen Splittern Hellrosa.
Prosím?
Ich...also da draußen hängt einer, hat sich einer erhängt. Er machte eine entsprechende Handbewegung.
No, no...Prosím?
Da draußen...ach was, der hängt da gut, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen.
Er versuchte gar nicht erst, Wein zu bestellen. Bitteschön, haben Sie Pils?
Plzensky?
Pils! Einfach ein frisch gezapftes Pils!
No, no, no.
Sie schlurfte davon. Betont langsam. Dann ließ sie das Bier ein. In eine großes, zylindrisches Glas, das sie vorher kurz in ein Wasserbecken getaucht hatte. Den Schaum streifte sie mehrmals mit einem kleinen, flachen Schaber in ein anderes Glas und goß dann nach.
Er blickte auf die Uhr, die an der Wand neben dem Zapfhahn hing. So früh noch? Kurz nach sechs hatte er die Grenze passiert, und die Uhr zeigte erst halb sieben. Ihr Glas war innen feucht angelaufen und gesprungen. Der Zapfhahn tropfte. Und oben an der Wand leckte das Heizungsrohr. Immer wieder fielen kleine eisenbraune Tropfen an der hellgekalkten Wand mit ihrem frischen, goldroten Blumenmuster herab. Unten stand eine alte Blechdose, die sie auffing.
Dann brachte sie das Bier.
Prosím.
Entschuldigen Sie, haben Sie auch etwas zu essen?
Nemám!
Zu essen? Er deutete mit der rechten Hand in den geöffneten Mund.
Nemám!
Sie schlurfte einfach wieder davon. Der Zapfhahn tropfte noch immer.
Das Bier war gut, aber Pils war es mit Sicherheit nicht. Es war schön kalt und schmeckte leicht süßlich nach Malz.
Als die Bedienung vorbeikam, machte er noch einen Versuch.
Bitte, haben Sie nicht etwas zu essen?
Das hat keinen Sinn!
Ein Mann war an seinen Tisch getreten. Er kam von draußen. Er war groß, hielt sich ganz gerade und trug einen sehr dünnen, scharf ausgeschnittenen Oberlippenbart. Seine graumelierten Haare waren ganz kurz geschnitten und frisch gefönt. Die elegante, schmale Kunststoffbrille stand ihm gut. Er sprach gepflegtes Hochdeutsch. Er trug einen weißen Rollkragenpullover und eine weiße Latzhose. Seine kleine Holzleiter und einen ovalen Farbeimer mit Walzen und Pinseln stellte er neben dem Tisch an die Wand und setzte sich dann.
Das hat keinen Sinn. Sie versteht alles. Sie hat Deutsch bis zum Abitur gelernt. Oder zumindest bis kurz davor. Denn die Prüfung hat sie nicht abgelegt. Statt dessen bedient sie jetzt in der Kneipe ihres Vaters. Aber heute ist sie einfach nicht gut drauf. Doch warten Sie mal.
Petro, máme hlad. Udelàs nám gulás?
Sie nickte, obwohl es ihr nicht paßte, das konnte man sehen.
Er räusperte sich. Sie macht uns ein Gulasch. Das ist das einzige, was sie hier machen kann. Eine große Küche dürfen Sie nicht erwarten. Aber es schmeckt gut. Übrigens, das sollten Sie wissen: Hier, im Grenzland, verstehen fast alle deutsch. Wenn sie wollen. Aber meistens wollen sie nicht.
Er hatte sein Bier noch nicht ganz ausgetrunken, da stand schon das nächste auf dem Tisch.
Trinken Sie, trinken Sie, so ein Bier bekommen Sie in Deutschland nicht!
Sie sprechen aber sehr gut deutsch...
Kein Wunder, ich bin ja Deutscher. Ich komme aus Frankfurt.
Und ich aus Stuttgart.
Da fiel ihm der Tote wieder ein.
Draußen in der Toilette hängt einer.
Ich weiß.
Ich habe mir, bevor ich hier hereinkam, die Hände gewaschen.
Sie wissen?
Das ist schon der dritte in diesem Monat. Auch so ein Erfolgstyp. Die schnelle Mark...äh Krone. Einer von diesen jungen dynamischen. Früher hingen Sie immer direkt neben dem Waschbecken. Man mußte sie jedesmal zur Seite schieben, wenn man auf die Toilette wollte. Doch jetzt haben sie ein Schild angebracht, jetzt hängen sie sich in der Ecke neben dem Pissoir am Heizungsrohr auf. Das stört dann weniger. Die meisten halten sich dran. Eigentlich alle. Bis auf einen. Aber das war ein ehemaliger Apparatschik, die waren ja früher auch immer im Weg.
Aber sollte man ihn nicht...
Lassen Sie ihn hängen, er hängt da gut.
Ja aber...
Die Putzfrau wird sich morgen um ihn kümmern.
Die Uhr zeigte immer noch halb sieben. Der Zapfhahn tropfte. Und oben an der Wand leckte das Heizungsrohr. Immer wieder fielen kleine eisenbraune Tropfen an der hellgekalten Wand mit ihrem goldroten Blumenmuster herab. Unten stand eine alte Blechdose, die sie auffing.
Ich habe mich verfahren. Gleich hinter der Grenze. Ich muß irgendwie falsch abgebogen sein.
Ja, ja, das passiert hier vielen.
Die Bedienung brachte das Gulasch. Zwei dampfende Teller mit einer dunklen, braunen Soße. Am Rand lagen vier flache, helle Scheiben.
Das sind Serviettenknödel. Bessere finden Sie auf der ganzen Welt nicht. Aber man muß sich erst an sie gewöhnen. Sie schmecken zunächst etwas trocken. Nehmen Sie immer etwas Soße dazu. Und gleich danach einen großen Schluck Bier.
Sein Gegenüber hatte sein Glas schon fast geleert. Sofort standen zwei frischgezapfte Gläser auf dem Tisch.
Ich muß nach Prag. Beruflich. Unsere Bank plant...
Banken planen immer. Ich habe früher auch geplant. Jetzt streiche ich Fassaden, Decken und Wände. Eine schöne Arbeit. Am Schluß ist alles so frisch und neu. Es riecht wieder
gut.
Und früher, was haben Sie früher gemacht.
Früher war ich sozusagen ein Kollege von Ihnen. Ich war bei einer großen Bank in Frankfurt und habe auch geplant. Im Vorstand. Als V4, als Vorstandsmitglied Vertrieb.
Und jetzt, was machen Sie dann hier? Haben Sie hier ein Ferienhaus?
Ein Ferienhaus...? Na ja, das ist eine längere Geschichte...Es...hängt mit meinem besten Freund zusammen. Aber warum soll ich sie Ihnen eigentlich nicht erzählen...? Wir haben ja Zeit.
Er räusperte sich und nahm einen großen Schluck Bier.
Ich war bei der Bank sehr erfolgreich! Das war es also nicht. Es hing, wie schon gesagt, mit meinem besten Freund zusammen. Wir kannten uns seit der Grundschule, machten gemeinsam Abitur. Auch im Studium blieben wir eng befreundet. Er Mathematik, ich Wirtschaftswissenschaften. Beide an der Uni Frankfurt. Wir promovierten zur gleichen Zeit. Ich ging dann zur Bank, zunächst als Berater für Großkunden. Er räusperte sich mehrmals. Mein Freund fing bei der Konkurrenz an. Analysen, Statistiken und so. Er räusperte sich wieder. Als ich aufstieg, holte ich ihn zu uns. Ein brillanter Kopf. Er arbeitet immer völlig verbissen, nahm jedes Problem persönlich. Gab keine Ruhe, bis er es gelöst hatte. Dann wurde es ihm bei uns zu langweilig. Er ging an die Uni zurück. Habilitierte sich, erregte einiges Aufsehen. Der jüngste Professor für theoretische Mathematik in Deutschland. Er bekam viele Angebote von Universitäten. Auch aus Amerika und Japan. Aber das interessierte ihn alles nicht. Er wollte nur forschen. Von frühmorgens bis tief in die Nacht. Er löste ein schwieriges Problem nach dem anderen. Alles andere war ihm egal. Selbst als er den Nobelpreis erhielt, wollte er erst nicht fahren. Seine Kollegen konnten ihn nur mit Mühe überreden.
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
Und heute, was macht ihr Freund heute?
Heute hat er eine Imbißbude.
Eine Imbißbude?
Ja, eine Imbißbude. Die habe ich ihm eingerichtet. Denn in gewisser Weise war ich damals für ihn verantwortlich. Weil ich ihn abgeschnitten habe. Läuft recht gut. Er macht eine Menge Umsatz. Ideale Lage, direkt neben einer Berufsschule im Zentrum von Frankfurt. Obwohl er am Anfang etwas Mühe mit dem Rechnen hatte. Ich meinte schon, er würde es nicht schaffen. Aber dann habe ich ihm eine automatische Kasse gekauft. Mulitfunktional. Da braucht er nur noch auf die Symbole zu tippen und hat gleich alles in einer Summe.
Sie haben ihn abgeschnitten...
Ja, heute lasse ich alle hängen. Sie hängen dort recht gut. Außerdem ist ohnehin nichts mehr zu machen. Sie haben hier sehr viel Routine im Aufhängen entwickelt. Echter tschechischer Perfektionismus, fast schon eine Manie.
Er räusperte sich und nahm einen Schluck Bier.
Kennen Sie Lessings Gedicht über einen Erhängten?
Nein, eigentlich nicht.
Es ist ganz kurz: Hier ruht er, wenn der Wind nicht weht.
Aber warum...
Er räusperte sich und nahm einen Schluck Bier..
Warum...? Meine Stimme macht mir noch manchmal...hängt mit meiner Zeit als Großkundenberater zusammen. Das viele Reden. Warum, warum? Das weiß niemadn so genau. Es gibt nur Vermutungen... Kurz nach dem Nobelpreis jedenfalls fiel er in ein Loch. Wurde völlig passiv. Saß tagelang einfach nur da. Dachte oder dachte auch nicht, starrte vor sich hin, wurde immer depressiver. Er wollte, wie er es nannte, die letzten Rätsel der Mathematik lösen. Er sprach jetzt viel vor sich hin. Unverständliches, nur einzelne Wörter ohne Sinn und Zusammenhang. Murmelte, flüsterte: Die letze mathematische Grenzüberschreitung...die Weltformel...Dann brach er wieder in hektische Euphorie aus. Lebte völlig isoliert. Er arbeitete tagelang. Fast rund um die Uhr. Er belegte mehrere Computer auf einmal, wollte den Zugang zum Großrechner für alle anderen sperren lassen, aber das ging nicht.
Eine Schaffenskrise? Und deshalb wollte er sich erhängen?
Nein, nein...das lag tiefer. Man vermutete eine unglückliche Liebe. Aber wie gesagt, so genau weiß das niemand. Nur Vermutungen und Gerüchte. Er selbst hat niemals darüber gesprochen. Er soll eine Lehrerin kennengelernt haben. Handarbeit, Religion und Rechnen für die Grundschule. Er selbst hat nie darüber gesprochen. In den ersten Wochen mit ihr war er ganz locker und gelöst. Sein Kollegen erzählten, er habe mit ihr Mengenlehre geübt. Sie soll das bei ihm zum ersten Mal richtig begriffen haben. Wie alle Genies war er auch ein geborener Didaktiker. Außerdem gingen sie viel in Konzerte. Vor allem geistliche und klassische Musik. Und sie musizierten. Blockflötenduette. Er spielte ja auch hervorragend Viola und Klavier. Aber sie konnte, so sagte man, nur Blockflöte.
Aber warum kam es dann...?
Sie müssen sich zerstritten haben.
Wegen der Musik?
Nein, nein, da war er wohl sehr anpassungsfähig.
Wegen der Mathematik?
Indirekt. Eigentlich wegen der Religion. Sie war streng katholisch. Es ging um ein Dogma, um die Dreieinigkeit.
Um die Dreieinigkeit?
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
Ja, genau! Da kam es wohl, so erzählte man jedenfalls, zum Zerwürfnis. Er wollte sie ihr logisch exakt widerlegen. Er hat alles versucht: Identitätslogik, Induktion, Deduktion, aber sie konnte das alles nicht akzeptieren. Das muß sie schließlich auseinandergebracht haben. Zu Ostern machten sie dann noch eine Reise nach Rom. Busfahrt inklusive Papstaudienz. Aber er war nicht zu überzeugen. Er war zu dieser Zeit mit seiner Arbeit an der Weltformel schon sehr weit fortgeschritten, aber die Dreieinigkeit konnte er, obwohl er es wirklich ernsthaft versucht haben soll, nicht unterbringen. Sie war wohl bemüht, so sagte man mir, ihn zu einer Fahrt nach Lourdes oder Tschenstochau überreden. Aber es half wohl nichts mehr. Und so kam es zum großen Bruch.
Wegen eines kirchlichen Dogmas...?
Exakt. Und diesen Bruch hat nie ganz überwunden.
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
In einem unseren letzten Gespräche hat er mir sein Problem erzählt. Schau, sagte er, wir rechnen immer mit Zahlen und Buchstaben. Sie sind die Grundlage der Mathematik, ja der gesamten Logik. Aber was sind Zahlen und Buchstaben überhaupt? Existieren sie wirklich? Sind eins und eins wirklich zwei? Ergibt zwei und zwei immer vier? Was ist, wenn mir das Auto stehenbleibt und ich vier Kilometer zur nächsten Ortschaft laufen muß? Am Anfang macht es mir vielleicht noch Spaß. Aber nach zwei, drei Kilometern bekomme ich Durst, friere oder schwitze und am Ende bin ich total müde und kaputt. Oder wie ist es, wenn ich von zwei Menschen ausgehe? Jeder für sich allein ist vielleicht halbwegs zufrieden. Aber dann verlieben sie sich ineinander. Und was passiert. Sie halten sich für glücklich. Doch nach ein paar Monaten gibt es den ersten Ärger. Sie streiten sich, dann versöhnen sie sich wieder. Doch bald geht das Ganze von vorn los. Und am Ende wissen sie selbst nicht mehr, wer sie eigentlich sind und trennen sich. Kann die Mathematik so etwas überhaupt erfassen? Vielleicht durch eine schlichte Addition, die einfachste mathematische Operation? Oder durch eine Subtraktion, eine Multiplikation oder Division? Oder kann sie es in einem Bruch ausdrücken? Was aber heißt dann eins und eins wirklich? Oder a plus b, n plus n? Ich weiß es nicht. Ich bin von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen.
Er räusperte sich und nahm einen Schluck Bier.
Kurz danach, als er aus dem Krankenhaus, einer psychiatrischen Anstalt, entlassen wurde, sahen wir uns Imbißbuden an. Gleich die erste gefiel ihm am besten. Sie war groß und geräumig und lag etwas abseits von der Durchgangsstraße. Wir renovierten sie dann gemeinsam. Ich nahm mir ein paar Tage Urlaub, und von morgens bis abends, Tag für Tag, auch am Wochenende, haben wir gehämmert und gesägt, tapeziert und geweißelt. Es machte mir richtig Spaß. Das Streichen gefiel mir am besten. Das Alte einfach zustreichen. Lage für Lage, Bahn für Bahn einfach neu machen. Es roch dann immer so gut. Und ich sah am Abend gleich, was ich an diesem Tag geschafft hatte. Wie eine Wand nach der anderen hell wurde.
Und danach?
Er fand schnell rein. Wie gesagt bis auf das Rechnen. Doch seit er die neue Kasse hat, ist auch das kein Problem mehr. Ein Bekannter sagte mir kürzlich, er sei wieder ganz ausgeglichen, er habe inzwischen sogar ein Kruzifix aufgehängt. Das führte wohl vorübergehend zu einem Rückgang seiner türkischen Kunden. Dafür kamen dann aber um so mehr Italiener.
Er räusperte sich und nahm einen Schluck Bier.
Und wie kommen Sie hier her? Haben Sie hier ein Ferienhaus gekauft? Unser Immobilienmakler sagte mir kürzlich, das sei noch recht günstig.
In der Tat, ich habe mir hier ein kleines Haus gekauft, und es war günstig. Aber ich mußte alles komplett renovieren. Zuerst habe ich die Heizung erneuert.
Dann kommen Sie auch im Winter her?
Ich lebe hier. Das ganz Jahr über, vielleicht für immer.
Und die Bank?
Die Bank...? Na ja, die Bank...Also, das ist auch so eine Geschichte...
Er trank sein Glas aus.
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
Er schwieg.
Sind Sie auch ausgestiegen?
Er schwieg und räusperte sich. Dann nahm er einen großen Schluck. Das Thema lag ihm wohl nicht.
Kommen Sie eigentlich aus dem Raum Hannover?
Wieso Hannover?
Ihr Hochdeutsch...
Reine Übung. Ich stamme aus Hessen, aus Kaiserslautern. Am Anfang meines Studiums wurde mir klar, daß Hochdeutsch für eine Karriere in der Bank sehr wichtig ist. Ich übte jeden Tag zwei Stunden. Jeweils eine Stunde morgens und eine abends. Am Anfang nahm ich sogar Unterricht bei einem Schauspieler. Nach genau einem Jahr hatte ich es geschafft.
Er schaute auf die Uhr an der Wand. Sie zeigte immer noch halb sieben.
Die Uhr ist kaputt. Sie hängt da schon, seit ich herkam, aber niemand repariert sie. Warum auch, wer hier sitzt, hat es nicht eilig. Und die, die sich hier nur aufhängen wollen, haben plötzlich auch alle Zeit der Welt. Früher, in der Bank stellte ich alle meine Uhren immer fünf Minuten vor. Auch die im Auto. Ich legte größten Wert auf Pünktlichkeit, auch bei meinen Mitarbeitern. Doch ich trage schon lang keine Uhr mehr.
Sie sind also auch ausgestiegen?
Na ja...also...das ist ja auch so ein Modewort...ich weiß nicht...
Eine Frau?
Bei mir? Eine Frau? Nein, nein, das nicht! Ich weiß bis heute nicht, was alle so an der Liebe finden. Sicher, ich stand auch schon einmal kurz vor der Verlobung. Ich wollte damals Vorstandsvorsitzender werden. Und da macht sich ein Junggeselle nicht besonders gut. Ein Ehemann und vor allem ein Vater gilt als verläßlicher. Man hält ihn für ausgeglichener und eher kalkulierbar. Aber als dann die Sache mit meinem Freund begann, da ließ ich’s doch wieder sein. Außerdem war ich mir mit der Bank dann nicht mehr so sicher.
Ja aber warum denn?
Nun ja...das hängt auch mit der Imbißbude zusammen. Außerdem hatte ich zu Malen angefangen. Als ich meinen Freund einmal in der Klinik...in der Psychiatrie besuchte, war er gerade bei der Beschäftigungstherapie. Er saß mit einer Gruppe im Park der Anstalt und malte ein Bild. Einen Frühlingstag mit Sonnenuntergang. Nicht sehr überzeugend. Es war eher eine geometrische Skizze. Aber ich ließ mich von ihm, zugegeben am Anfang recht widerstrebend, dazu überreden, auch mit einem Bild anzufangen. Es gefiel mir zunächst gar nicht. Aber dann kam ich auf den Geschmack. Ich kaufte mir ein komplette Ausrüstung und malte in jeder freien Minute. Im Urlaub fuhr ich zu einem Kurs in die Toskana. Meine Bilder wurden immer besser. Fand ich. Aber dann besuchte ich in Tübingen die große Renoir-Ausstellung. Von diesem Tag an hatte ich Skrupel. Weil ich einige Wochen darauf in der Bank eine Ausstellung hatte, malte ich noch zwei, drei Bilder zu Ende. Dann hörte ich auf.
Der Zapfhahn tropfte. Und oben an der Wand leckte das Heizungsrohr. Immer wieder fielen kleine eisenbraune Tropfen an der hellgekalten Wand mit ihrem goldroten Blumenmuster herab. Unten stand eine alte Blechdose, die sie auffing.
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
Nach der Ausstellung hatte ich eine Woche frei für die Renovierung der Imbißbude. Da kam es mir langsam...Malen, also das Auftragen von Farben liegt mir wirklich. Aber nicht auf eine Leinwand, sondern auf Wände und Decken. Ohne große Muster. Hierdrin freilich, er sah sich um, haben sie auf goldroten Rosen bestanden. Aber das ist reine Handarbeit, das geht mit einer Schablone.
Er räusperte sich und nahm einen Schluck Bier.
Das mit Ihrem Freund...na ja, das ist so eine Sache. Aber mit Ihnen...War es wirklich nur das Malen?
Nein, das nicht. Wie schon gesagt, das hängt auch mit der Imbißbude zusammen. Indirekt. Aber da war noch etwas anderes. Bei uns in der Bank hatten wir einen Maître de cuisine der Spitzenklasse. Er hatte lange auf einem Luxusliner gearbeitet. Bei ihm gab es nur das Beste: Medaillons, marinierten Räucherlachs, Entrecote... Jede Woche stand unter einem anderen Motto: Erlesenes aus der Provence, Frisches aus der Toscana und so. Wir vom Vorstand hatten selbstverständlich einen eigenen Tisch. Unser Casino lag im 23. Stock. Ein Penthouse hoch über Frankfurt mit einem herrlichen Blick über den Main. Alles war weiß eingedeckt, die Gläser nur aus bestem Kristall und das Geschirr aus Italien. Die ersten Jahre genoß ich das. Doch dann rebellierte mein Körper. Ich suchte einen Spezialisten nach dem anderen auf. Ohne Erfolg. Man fand absolut nichts. In der Bank wurde es lästig, immer diese...diese Gänge, fast den ganzen Tag auf die...auf die Toilette. Selbst den Geschäftsbericht habe ich zum größten Teil dort vorbereitet. Mit dem handy ist das ja heutzutage kein so großes Problem mehr, aber immerhin...Meine Sitzungen...äh...Konferenzen habe mußte ich von da ab immer ganz kurz halten. Längere Tagungen vermied ich nach Möglichkeit, meldete mich krank, schickte meine Mitarbeiter und so...
Er stand auf: Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.
Als er zurückkam, fuhr er fort.
Manchmal, wenn ich abends mit Kollegen ausging, starrte ich, das war mir zu dieser Zeit wohl noch gar nicht bewußt, in die Imbißbuden am Bahnhof. Kleine, schmierige Spelunken, die meine Kollegen nicht einmal bemerkten. Drinnen saßen elende Gestalten. Jämmerlich verkommene Trinker, verhärmte Frauen, Standgut einfach.
Er räusperte sich und nahm einen sehr großen Schluck Bier.
Als wir dann die Imbißbude meines Freundes renoviert hatten, gab er einen kleinen Einstand. Ich war auch dabei. Und da schmeckte es mir zum ersten Mal wieder richtig. Pommes mit Ketchup, Currywurst, Gulasch aus dem Pappteller und Dosenbier. Am nächsten Morgen waren meine Beschwerden wie weggeblasen. Ich hielt das zunächst für Zufall. Doch dann begriff ich: Mein Körper rebellierte gegen das feine Essen. Von dieser Zeit an zog es mich abends immer in diese lauten, schmierigen Kneipen in der Bahnhofsgegend. Allerdings ging ich nur inkognito, immer auf der Hut, niemand zu begegnen, der mich kannte.
Er räusperte sich und trank das halbvoll Glas mit einem großen Schluck aus.
Einige Monate danach mußten einige Mitarbeiter für die Bank nach Prag. Als sie zurückkamen, beklagten sich alle vehement über das Essen und die Lokale. Die guten Restaurants waren Wochen im voraus ausgebucht, und was übrigblieb, war für sie völlig indiskutabel. Keine Tischdecken, keine internationalen Gerichte, kein guter Wein und schon gar kein französischer Cognac. Nur einfache, böhmische Hausküche und dann immer dieses leicht süßliche Faßbier. Da stand mein Entschluß fest: Ich ging für die Bank nach Prag. Die Stelle war nicht ganz so gut dotiert wie die im Vorstand, doch über die Höhe des Gehalts konnte ich noch verhandeln. Die anderen dachten, ich würde den Sprung ins internationale Geschäft suchen, denn eigentlich lag die Stelle nicht so unmittelbar im Bereich meiner Karriere.
Die Bedienung brachte zwei Bier.
Nun ging ich jeden Abend in diese einfachen, etwas schmuddelingen tschechischen Kneipen. Etwa in der Mitte vom Wenzelsplatz gab es ein Lokal, das ich fast täglich aufsuchte. Wenn man hereinkam, ging man über einen schmierigen, klebrigen Fußboden. Einmal bin ich sogar auf einer großen Bierlache ausgerutscht. Ganz vorn an einem langen, an der Wand befestigten Tisch standen die Kampftrinker. Neben einer großen Batterie leerer Bier- und Schnapsgläser. Weiter hinten, wo ich immer aß und trank, gab es dann drei, vier warme Speisen. Nichts Aufregendes. Böhmische Hausmannskost. Gulasch, Schweinebraten, Kraut, Knödel und so...Dazu Bier und Schnaps. Einmal fragte ich nach Wein. Zu dieser Zeit konnte ich schon etwas Tsechisch. Doch niemand verstand mich. Wein, das war hier einfach nicht vorstellbar. Doch dann kam dieses Fieber nach Prag. Zuerst das deutsche, dann das amerikanische. Als ich eines Abends in die Kneipe wollte, war sie geschlossen. Drinnen standen staubige Arbeiter und rissen alles ab. Das war zunächst nicht so schlimm, ich konnte anfangs noch ausweichen. In den Seitenstraßen gab es noch genügend andere Kneipen. Doch dann wurde es langsam schwierig. Überall entstanden diese amerikanischen Fast-food-Läden. Ich habe es auch dort ein paarmal probiert. Aber sofort erhob mein Körper Einspruch. Überall in der Innenstadt wuchsen neue und exklusive Geschäfte aus dem Boden. Große Messingschilder an den Gebäuden und Büros. Visitenkarten, die vor Wichtigkeit nur so strotzten. Ich wechselte nach Pilzen. Auch noch für die Bank. Die Stadt ist um einiges kleiner und ruhiger. Aber das klappte auch nicht. Hier war das Fieber auch schon. Und jetzt...ich weiß nicht, wie lange es hier geht. Aber vielleicht...Er räusperte sich. Vielleicht funktioniert es ja hier...weil diese kleinen Dörfer sind zu unbedeutend...sie bieten keine großen Möglichkeiten für Geschäfte. Ich warte einfach ab.
Aber soll das alles sein? Sind Sie damit wirklich zufrieden?
Das Leben hier macht mir einfach Spaß. Ich fühle mich recht wohl dabei.
Der Zapfhahn tropfte. Und oben an der Wand leckte das Heizungsrohr. Immer wieder fielen kleine eisenbraune Tropfen an der hellgekalten Wand mit ihrem goldroten Blumenmuster herab.
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
Ein Mann trat ein. Vielleicht Mitte vierzig. Groß und hager. Über dem rechten Augen hatte er eine tiefe, sternförmige Narbe, die in alle Richtungen lief.
Er zupfte an seiner Krawatte und starrte ihn an.
Sie haben den Alten gesehen?
Er kam heraus, als ich gerade in die Kneipe kam.
Das ist sein Sohn. Die Narben sind wie Muttermale. Genau an der gleichen Stelle. Absolut identisch. Als hätten sich die Nazis und die Kommunisten abgesprochen. Fast könnte man sagen Maßarbeit.
Er räusperte sich und nahm einen Schluck Bier. Dann gähnte er.
Sie werden heute Nacht kein Zimmer mehr finden. Ich lade Sie ein, Sie können bei mir übernachten. Es ist weder luxuriös noch elegant, aber ruhig und bequem.
Die Bedienung brachte noch zwei Bier.
Sie tranken die Gläser aus und bezahlten.
Also gehen wir, es ist schon spät geworden.
Beide erhoben sich.

Er stand am nächsten Morgen früh auf. Aus dem Nebenzimmer hörte er tiefes, gleichmäßiges Atmen. An den vielen Farbeimern vorbei fand er den Weg ins Bad. Er wusch sich kurz die Hände und das Gesicht. Dann zog er sich an. In der Küche fand einen halben Brotlaib. Er schnitt sich eine dicke, krumme Scheibe ab. Im Kühlschrank lagen Butter und Käse. Der Käse war geräuchert und das Brot schmeckte nach Kümmel. Zu Trinken fand er nichts. Dann ging er. Draußen fuhr ein Traktor vorbei. Auf dem Anhänger saßen einige unrasiert Arbeiter, die lustlos dreinblickten. Durch den dünnen Frühnebel kamen schon die ersten Sonnenstrahlen. Dennoch war es kalt. Der See glänzte ruhig und frisch. Einige Fische sprangen aus dem Wasser. Ein paar Vögel zwitscherten. In der Kneipe stand die Tür offen. Drinnen hörte man jemand rumoren. Wahrscheinlich die Putzfrau.

Er schaute kurz über den Lack. Alles in Ordnung. Der Wagen sprang sofort an. Das leise, gleichmäßige Summen des Motors beruhigte ihn. Er dreht die Heizung hoch, bald würde ihm warm werden. Er drückte auf einen Knopf und die Drei Tenöre erklangen. Dilegua, o notte! Tramontate, stelle! Tramontate, stelle! All’alba vincerò! Vincerò! Vincerò! Dann fuhr er los. Auf der rechten Seite des Dorfes, das sah er jetzt, war alles frisch renoviert. Alles in Maisgelb und Weiß. Links waren die Fassaden noch alt und verfallen. Sein Gastgeber hatte ihm den Weg beschrieben, in ein, zwei Stunden würde er in Prag sein. Bummm! Die Drei Tenöre setzten kurz aus. Dann waren sie wieder da. Vincerò! Vincerò! Am Ortsende lag ein toter Hase am Straßenrand. Er umfuhr ein großes Schlagloch. Aus dem ausgefransten Rand schaute ein italienischer Modellschuh hervor. Er schaltete zurück und gab Gas.
 



 
Oben Unten