Hinter der Mauer

2,00 Stern(e) 1 Stimme
Anna überquerte die dunkle, düstere Straße. Sie erinnerte sich noch, dass ihre Mutter sagte: "Sage nur kurz hallo und komme dann zurück für deinen Kakao."
Die Nacht rückte mit ihrer Dunkelheit heran und während Anna noch die Straße überquerte, leuchtete der Mond durch die grauen Wolken.
Er warf seine weißen, weichen Strahlen durch die Blätter der vielen Bäume, die sich langsam im kalten Abendwind bewegten.
Es waren die letzten Novembertage.
Einige Blätter fielen aus der Dunkelheit herab, hohe Bäume produzierten leise Klänge, die von überall herschallten.
Jeder schien zu Hause zu sein und seine freie Zeit mit der Familie oder alleine zu genießen.
Niemand war draußen; es war diese mysteriöse Stille, die Anna in dieser Lage ungemütlich werden ließ. Selbst die Tiere waren still.

Anna war neu hier.
Sie und ihre Eltern zogen erst kürzlich in diese Region, wo sie ein neues und besseres Leben beginnen wollten.
Vor allem Anna.
Sie wollte neue Freunde gewinnen und als sie ihre Mutter um Unterstützung bat, erhielt sie nur eine Antwort: "Willst du neue Freunde gewinnen, fange mit unseren Nachbarn an."
Anna war sich nicht sicher, ob das helfen würde, aber sie hatte ihre erste Gelegenheit und wollte sie versuchen.

Endlich erreichte sie vor den alten Eisentoren. Riesige Tore. Ungefähr 3 Meter hoch.
"Das ist es", dachte sie. Um sich völlig sicher zu sein, schaute sie auf das Schild, das in massivem Stein eingraviert war. "Burgstraße 2", las sie darauf.
Aber Annas Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas anderes. Es war diese massive Mauer, gebaut aus dunklen, dicken, schweren Steinen.
Große Steine, bedeckt mit schier endlosen Pflanzen, die von der Mauer herab hingen.
Selbst die Mauer hatte eine enorme Größe, mehr als 3 Meter, schätzte Anna.
Es war beeindruckend, wie der nasse und weiche Boden einer solch großen Menge Druck standhalten konnte.
"Was ein eigenartiger Ort", dachte Anna, während es zu regnen begann.
Zu dieser Zeit gab es keinen Wind mehr.
Der Regen wurde stärker und stärker. Tausende Regentropfen konnten nun gehört werden und gaben ein mysteriöses Echo von sich. Sie fielen auf die Bäumen, auf deren Blätter, auf den Boden und auf das hölzerne Haus, das hinter den Toren stand.
Es war schwer zu erkennen aufgrund der vielen Bäume, die davor standen und ihren Schatten darauf warfen, aber Anna konnte einige Details ausmachen. Es stand auf einem leichten Hügel, der aber riesig war und bedrohlich wie ein Grab.
Seine Wände waren dunkel, wie auch das Dach, das sehr flach wirkte im Vergleich zu den nächsten Häusern, die ungefähr 100 Meter davon entfernt standen.
Es hatte ungewöhnlich kleine Fenster. Einige versperrt, andere zerbrochen.
Aber wie es von den vielen Bäumen versteckt wurde, machten es zu einem unheimlichen und lebendigen Ding.

Anna läutete.
Keine Antwort.
Sie versuchte es noch einmal.
Nichts.
Dann zog sie sich schnell zurück.
Plötzlich begannen die Buchstaben des Namens der Straße zu brennen.
"Was geschieht hier?", flüsterte sie.
Der Regen löschte die Flammen, die nun Rauchschwaden produzierten.
Und gerade als Anna sich entschied nach Hause zu rennen, passierte noch etwas.
Anna traute ihren Augen nicht.
Sie konnte nicht glauben, das dies gerade wirklich geschah.

Die Buchstaben begannen sich zu bewegen.
Sie kehrten sich um, wechselten ihre Position und gaben schauerliche Klänge von sich.
Schneller und schneller.
Anna schloss ihre Augen und sagte sich "Wach auf! WACH AUF!"
Aber nichts geschah.
Anna öffnete dann ihre Augen.
Und schrie durch die Stille der Nacht.
Die Buchstaben hatten sich bewegt. Bewegt, um ein neues Wort zu bilden.
Es hieß nicht mehr Burgstraße.
Auch nicht mehr 2.
Nein, es war Teufelsstraße 13.

Anna begann zu rennen. Doch sie wurde erneut zum Halten gezwungen. Sie konnte Geräusche aus dem brennenden Holz hören.
Es regnete mittlerweile nicht mehr. Stattdessen bildete sich ein Nebel.
Dann, plötzlich, ein spitzer Schrei, der mitten aus der Stille kam.
Der Schrei kam vom Nachbar.
Anna war sich nicht sicher, was sie tun sollte: nach Hause rennen oder nachsehen, was hier geschah?
Sie traf schließlich ihre Entscheidung.
Eine Entscheidung, die sie lieber nicht hätte treffen sollen.

Zwei Minuten später stand sie erneut vor den riesigen Eisentoren.
Dieses Mal waren sie geöffnet. Sie versuchte durch den Nebel zu schauen, sah aber nichts.
Aber sie konnte etwas verbrennen riechen. Es war das Haus. Jemand schrie.
Lauter und lauter.
Es war die Stimme eines Mannes.
Sie betrat den Garten und sah es.
Das Haus stand in Flammen, alles brannte.
"Hilfe", schrie sie, "kann hier jemand helfen?"
Aber es gab keinerlei Reaktion. Stattdessen begann der Mann so laut zu schreien wie er nur konnte. Er brannte und starb langsam vor den Augen Annas.
Anna konnte nicht mehr hinsehen. Sie musste etwas tun.
Bevor es zu spät sein würde.

Anna rann zu dem Haus.
In ihrer Panik vergaß sie, dass sie in der Mitte des Gartens war, wo sie nie sein wollte.
Jemand lag auf den Stufen zum brennenden Haus.
"Hoffentlich ist er noch nicht tot!", dachte sie, während sie behutsam näher und näher kam zu den Resten des brennenden Hauses.
Aber die Flammen machten es unmöglich zu der Person zu gelangen.
"Oh je, was soll ich machen?", fragte sie sich.
Und dann erinnerte sie sich an ihre Eltern. Dass sie schon vor mindestens 30 Minuten hätte zu Hause sein sollen. Und das sie jetzt mühelos Hilfe holen könnte.
Sie drehte sich um und begann auf die Tore zuzurennen.
Aber plötzlich wurde alles dunkler.
Mit jedem Schritt, den Anna machte, wurden die Tore immer schlechter zu sehen.
Schließlich rann Anna in die vollständige Dunkelheit hinein.
Aber sie war da.
Sie war an den Toren.
Sie musste es sein.
"Wo sind die Tore?", wiederholte Anna immer wieder. "Wo sind die Tore?", flüsterte sie.
Und dann bemerkte sie es.
Es gab keine Tore.
Nicht mehr.

"Was geschieht hier?", rief Anna.
Dann erinnerte sie sich an die hohe Mauer, wie ein Gefängnis, die großen Tore, die sich bewegenden Buchstaben und den Mann.

Sie drehte sich um und schrie.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie wirklich Angst.
Angst vor dem Tod.
 



 
Oben Unten