Hiobsbotschaft

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King-Karados

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Hiobsbotschaft

Mir war der Boden unter dem Füßen weggezogen worden. Ich lag auf dem Bett und weinte. Die Schminke löste sich von meinen Augen und die Tränen trieb sie hinab über meine Wangen in das Kissen. Meine Hand umklammerte noch immer mit eisernem Griff den Brief, der mir die Hiobsbotschaft überbracht hatte. Meine Welt lag in Scherben. Die Gedanken, die ich kaum noch kontrollieren konnte, wechselten von schmerzhaftem Selbstmitleid zu düsteren Zukunftsfantasien. Über das Kissen verteilt, lagen verstreut meine schwarzen Haare und die kleinen, dunklen Flecken meiner Schminke. Das Zimmer war dunkel und die Fenster waren zugezogen. Die Tür war verschlossen und leise erklang die Musik meiner Lieblingsgruppe. Die traurigen Töne und der leise Gesang fügten sich perfekt in meine deprimierte Stimmung.

Ich wischte mir die unangenehm brennenden Tränen aus den Augen, dann setzte sich mich auf. Meine Augen fuhren ins Leere und fast sofort füllten sie sich wieder mit Tränen, die ich nur mit Mühe unterdrücken konnte. Ich hatte an diesem Tag schon genug geweint. Langsam hob ich meine Hand und betrachtete den Brief. Er war verknickt und an der geöffneten Seite des Umschlags quoll das Papier hervor. Ich warf ihn wütend in die Ecke des Raumes. Er war Schuld an meinem vermurksten Leben. Es war Wahnsinn, was die klein gedruckten Buchstaben in mir bewirkt hatten. Ein einziges, kleines Wort hatte gereicht, mein Leben zu vernichten. Es hatte gereicht die Planung, die ich mir gemacht hatte, wie einen Ballon platzen zu lassen. Dieser Brief war wohl für mich die schlimmste Post, die ich je bekommen hatte. Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch und nahm einen Bogen Papier von der Schreibfläche. Es war kein unbeschriebenes Blatt, es war eine Einladung. Die Einladung, in die ich noch vor Stunden, nein, vor Tagen meine ganze Hoffnung gesteckt hatte. Doch nun war alles verstört. Die Trauer, die mich von innen her aufzufressen versuchte, verwandelte sich plötzlich in Wut. Eine Wut auf die Schule, eine Wut auf die Lehrer, eine Wut auf meine Eltern, eine Wut auf mein Leben. Meine Finger krallten sich um das Papier und ich zerriss es in der Luft, dann ließ ich es fallen. Wieder liefen mir Tränen über die Wangen, Tränen der Verzweifelung. Die Wut in mir brannte wie ein loderndes Feuer. Sie wollte heraus und ich ließ sie. Meine geballte Faust flog gegen die gläserne Platte, meines Tisches, der direkt neben mir stand. Ein lautes Knirschen wurde hörbar und die Scheibe sprang. Die kleinen Risse zuckten wie Blitze aus meiner Hand und verzweigten sich dann weiter in kaum sehbare Adern.
„Scheiße“ entfuhr es mir. „Auch das noch.“ Doch nicht dem Tisch galt meine Aufmerksamkeit. In meine Hand hatten sich kleine Glassplitter gebohrt, Blut lief aus der Wunde. Es war nicht viel, doch sofort wurde mir schlecht. Ich musste zum Klo. Die Tür war verschlossen und ich hatte einige Probleme sie zu öffnen doch schließlich gelang es mir. Eilig betrat ich in das Bad und übergab mich. Die Knie auf den kalten Fliesen, die Arme auf dem Klodeckel und den Kopf auf die Hände gestützt saß ich da. Das Blut lief mir die Hand hinab und durchnässte mir die Ärmel. Mein Atem ging flach und ich fühlte mich im wahrsten Sinne des Wortes scheiße. Und alles nur wegen dem Abitur. „Durchschnitt 4,2: Leider nicht bestanden.“ Kam es mir wieder in den Sinn. Wieder wurde mir schlecht. „Leider nicht bestanden“ Oft hatte ich diese Worte gelesen und doch noch nicht einmal zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie richtig glaube können. Es war fast so, als hätte ich gar keine Macht mehr mein Leben zu verändern, mein Lebensmut und meine Zukunftsplanung war zerstört worden, nur wegen eines Briefes. Egal was ich anfing, es wurde mir, kurz bevor es fertig zu sein schien, zerstört. Nicht nur die Schule, nein, nachdem meine Mutter gestorben war, hatte mein Vater mich wie eine Gefangene behandelt, er ließ mich nicht raus und jegliche Arbeit stand mir zu. Ich hatte kaum noch Macht zu entscheiden was ich tun wollte. Deshalb habe ich mich fast ganz auf die Schule konzentriert. Das Abitur war mir sehr wichtig gewesen und zu diesem Zeitpunkt war es der einzige Faden gewesen, der mich am Leben hielt.
Auf eine Uni gehen, das wollte ich schon immer und zwei Tage zuvor hatte ich ein Schreiben bekommen, eine Einladung aus England. In Sprachen war ich schon immer gut gewesen, deshalb wollte mich auch die „University of Sunderland“ aufnehmen. Vorausgesetzt ich hätte ein Abitur. Ich schluckte wieder und spuckte ins trübe Wasser. Langsam beruhigte ich mich und atmete tief durch. Auf die Knie gestützt drückte ich mich hoch und hielt mich am Hängeschrank fest. Ich musste mich beruhigen. Mein Kopf hämmerte vor Schmerzen und meine Schläfen fühlten sich heiß und feucht an. Mit einer Hand öffnete ich die Tür des Hängeschrankes und mit der Anderen stützte ich mich am Waschbecken ab. Eine seltsame Schwäche hatte mich überkommen und für die kleinsten Bewegungen brauchte ich Unmengen von Energie. Meine Augen suchten den Schrank nach Schmerztabletten ab. Eine kleine, weiße Packung stand senkrecht in einer Ecke. Ich griff danach. Die Packung war schwer, sie war wahrscheinlich noch voll. „Chloralhydrat, verwendbar bei Schlafstörungen und innere Unruhe.“ Las ich ab. Dann legte ich die Packung enttäuscht wieder in den Schrank. Doch plötzlich hielt ich inne. Ein wahnwitziger Gedanke durchfuhr mich. Mein ganzer Körper zitterte, als ich die Packung erneut ergriff und ich sie auf den Waschbeckenrand stellte. Ein unschlüssiger Ausdruck lag auch meinem Gesicht. Für einen Moment belächelte ich die Idee, die mir gekommen war. Ich wollte sie schon wieder verwerfen als meine Stimmung wieder schwankte. Sie schwankte stark. Ich versuchte eine Hand still zuhalten, doch ich schaffte es nicht. Einen kleinen Moment noch grübelte ich. Doch schließlich und mit schnellem sicherem Entschluss griff ich nach den Pillen und riss die Pappe abrupt auseinander. Nicht das ich es eilig gehabt hätte, doch ich konnte einfach nicht ruhig bleiben. Das Plastik, in das die weißen Tabletten verschweißt waren, knirschte als ich sie in das Waschbecken rutschen ließ. Meine Finger falteten hektisch die Gebrauchsanweisung auseinander und gleichzeitig suchten meine Augen die Schrift ab. Dann fand ich die Stelle: „Nur max. 1 Tablette … sonst Nebenwirkungen verstärkt … ab 10 Gramm tödlich.“ Ich konnte meine Augen nicht von diesen Wörtern nehmen. Es ging eine merkwürdige Faszination von ihnen aus und langsam verstand ich, dass ich noch immer Macht hatte, mein Leben zu verändern. Auch wenn auf eine etwas andere Weise, als ich früher gedacht hatte. Meine Hände zitterten, nein mein ganzer Körper erzitterte vor Angst, Verzweifelung und Wut, doch auch vor Erregung und der Spannung, die diese neue Entdeckung mit sich gebracht hatte. Es mag komisch klingen, doch wenn man alles verloren geglaubt hat, dann ist es ein Trost wenigstes die Macht über Leben und Tod in den eigenen Händen zu halten. Die des Eigenen natürlich. Ich steckte die Packung in die Tasche. Einen Moment zögerte ich und überlegte ob ich wirklich das richtige tue. Doch was sollte schon falsch sein, vielleicht wäre ich einige Minuten später wieder im Bad und hätte die Pillen unverschlossen wieder zurückgelegt. Nur um gespürt zu haben, dass ich noch an meinem Leben Einfluss hatte.
Also ging ich durch die Tür in den Flur, der mich direkt in mein Zimmer führte. Es war immer noch dunkel und wie eine Spinne sponn mich die depressive Musik und die depressive Atmosphäre sofort ein. Die alten Gedanken und Befürchtungen, die mit meinem Abschluss endgültig geworden waren, kamen nun wieder. Sie kamen in Form von grausamen Bildern, die mir mein Verstand vorgaukelte. Schweren Herzens setzte ich mich wieder aufs Bett und betrachtete die dunklen Flecken auf dem Kissen. Sie fingen vor meinem inneren Auge an zu tanzen, mich zu verhöhnen. Sie sprangen auf dem dunklen Kissen hin und her und warfen mir verdächtigte Blicke zu. Mit einem Stöhnen rieb ich mir die Augen und schüttelte die absurden Tagträume ab. Jetzt bloß nicht durchdrehen“ Dachte ich bei mir und wand mich wieder zum Bett. Dann legte ich mich darauf und starrte an die Decke. Die Pillen legte ich mir auf den Bauch. Die zwanzig kleinen, ovalen Kapseln waren nicht schwer, doch es reicht aus, um einen leichten Druck auf meinen Bauch auszuüben. Meine Gedanken machten einen Schlenker zu den längst verstorbenen. William Shakespeare, Albert Einstein, Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Schiller, diese Leute waren wichtig. Sie waren wichtig vor aber auch nach ihrem Tode. Sie hatten verschiedenes geleistet, doch auf jedem Gebiet einzigartig. Ihnen erinnert man sich heute und auch in fünfzig Jahren noch. Diese Leute kennt und achtet jeder. Doch mich? Würde denn überhaupt ein Mensch nach mir weinen, wenn ich weg wäre? Nein, wahrscheinlich nicht. Meine Augen wurden schwer und ich legte die Lider nieder. Wieder griff eine unbeschreibbare Macht nach mir. Sie war auch da gewesen, als ich das Zimmer zum zweiten Mal betrat und sie legte sich wie ein eiserner Vorhang über mein Herz, sodass es unendlich schwer wurde. Das Atmen wurde anstrengender und es trieb mir die Tränen in die Augen. Nicht vor Schmerz, nein, eher aus Trauer über alles das, was ich nicht hat. Über alles das, was ich im Leben so schmerzlich vermisste, die Liebe. Das Gefühl gebraucht zu werden, das Gefühl für jemanden anders wichtig zu sein. Dieses Gefühl fehlte in mein Leben gänzlich. Mein Leben war nicht etwa das Schönste, bis zu diesem Zeitpunkt. Ich lebte bei meinem Vater, doch wie gesagt, konnte er auch nicht viel mit mir anfangen. Also musste ich selber durch alles durch, was sich mir in den Weg stellte. Das war nicht besonders leicht. Und jetzt auch noch die Enttäuschung mit dem Abitur. „Scheiße“ Ich hatte die Worte nicht ausgesprochen, doch sie geisterten unentwegt in meinem Kopf herum. Es war nicht allein die Schule, die mir das Leben so schwer und mies vorkommen ließ. Doch es war der Gipfel des Berges und nun sollte er gesprengt werden.
Ich erhob mich. Die Beine hingen vom Bett hinab, doch der Oberkörper war stocksteif. Mit der Linken hand griff ich nach den Tabletten und drückte eine aus der Packung. Dann die zweite, die dritte und vierte. Nummer Fünft folgte, dann legte ich sie wieder weg. Es scheint so, als ob mir Fünf genug gewesen waren. Gott sei dank war es so. Mit der rechten Hand stopfte ich mir die Pillen in den Mund und versuchte zu schlucken. Erst musste ich würge, der Geschmack war abartig und die Tabletten schäumten wie wild. Dann bekam ich 2 hinunter. Dann wieder zwei und zum Schluss die Letzte. Was dann passiert ist weiß ich nicht mehr, doch ich muss noch einige Zeit dort gelegen haben bis ich einschlief.
Der Schmerz kam unvorbereitet und er brannte wie Feuer auf meiner Wange. Der Magen drehte sich mir um und ich drehte mich zur Seite. Hinter mir hörte ich einige Worte: „Jetzt steh endlich auf und Räum die Wohnung auf. Du faules Stück.“ Im erstem Moment wusste ich gar nicht was los war. Dann übergab ich mich neben mein Bett. Zum Glück tat ich das, sonst wäre ich jetzt Tod. Der weiße Schaum der Tabletten verteilte sich auf dem Teppich. „Tanja, hast du etwa schon wieder Drogen genommen? Schlepp mir bloß nicht die Bullen ins Haus mit deiner Kiffertour! Jetzt mach das weg und komm in die Küche.“ Mein Vater, den ich jetzt eindeutig im matten Licht identifizieren konnte verließ das Zimmer. Plötzlich blieb er stehen und ich sah wie er mir etwas neben das Bett warf. „Ach, hier ist was für dich.“ Dann verließ er das Zimmer. Erst jetzt verstand ich was los war. Mein Vater musste nach Hause gekommen sein und er hatte mich mit einer Ohrfeige geweckt. Eine Mischung aus Trauer und Freude breitet sich in mir aus. „Ich bin nicht tot“ Sagte ich halb laut und setzte mich auf. Mein Magen schmerzte und das Erbrochene stank erbärmlich. Einige Minuten später ging es mir schon besser und ich machte das Licht an. Erst jetzt sah ich das ganze Ausmaß. Die Pillen lagen verstreut auf dem Boden, ich musste sie wohl im Schlaf herunter gestoßen haben. Das Bett war zerwühlt und das Erbrochene sickerte langsam in den Teppich. Dann sah ich den Brief wieder. Den weißen Brief, der die Hiobsbotschaft überbracht hatte. Die Gedanken an einen weiteren Selbstmordversuch kamen auf, doch ich verwarf sie sofort. Dann nahm ich den Brief um ihn in den Müll zu werfen. Doch er war zu. Der Brief, den ich geöffnet und mehr als ein paar dutzend mal gelesen hatte war zu. Nein, es war nicht der alte Brief. Es war ein anderer. Dann viel es mir wieder ein. Mein Vater hatte mir etwas ins Zimmer geschmissen. Das musste es sein. Ich drehte den Brief um und betrachtete den Absender. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich feststellte, dass der Brief aus meiner Schule zu kommen schien. Mit zittrigen Fingern riss ich ihn auf. Das weiße Papier war so ordentlich und förmlich gefaltet wie das der Letzten. Ich überflog die ersten Zeilen. Meine Augen fraßen förmlich die Wörter, jeden Buchstaben, jedes Komma und jeden Punkt. Einfach alles was dort stand. Als ich etwa in der Mitte des Briefes war, da entfuhr mir ein Freudenschrei. Die Buchstaben, die dort standen, ergaben zusammengefügt das Unmögliche. „Es ist uns ein rechnerischer Fehler unterlaufen und wir können ihnen nun endgültig mitteilen, dass sie ihr Abitur bestanden haben. Es tut uns leid und wir hoffen, dass wir ihnen durch unseren Fehler nicht zu viele Unannehmlichkeiten gemacht haben …“ „Oh, mein Gott.“ Hauchte ich ungläubig. Es war wie in einem Traum. „Es muss ein Wunder sein. Ja, das muss es.“ Ich ließ mich auf das Bett nieder und wieder liefen mir Tränen über das Gesicht, doch diesmal aus Freude. Der größten Freude, die sich ein Mensch nur vorstellen kann.
 



 
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