Hör mal, Aschenbrödel!

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Silea

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Hör mal, Aschenbrödel

Alle lieben Aschenbrödel. Millionen leuchtender Kinderaugen begleiteten sie auf ihrem Weg von der Asche im Küchenherd bis ins königliche Schloss. Ganze Generationen und Völker haben mit ihr geschrubbt, getanzt und geheiratet.
Was aber steckt hinter der Geschichte? Wieso kam die gute Fee ausgerechnet zu ihr? Wieso hat sich der Prinz gerade in sie verliebt?
Das ist leicht zu beantworten. All das wunderbare konnte ihr widerfahren, weil Aschenbrödel zwei bestimmte Voraussetzungen erfüllte. Einmal nahm sie ergeben ihr Dasein hin, so beklagenswert es auch war. Die Fee hätte ihr sonst gar nicht erscheinen können. Aschenbrödel wäre für die Fee nicht sichtbar gewesen. Denn Aschenbrödel war die Blume, die auf dem Misthaufen blüht, allem zum Trotz. Und das hieraus resultierende Licht, das sie auf den geistigen Ebenen aussandte, ermöglichte der Fee erst, sie überhaupt zu sehen.
Zweitens erträgt Aschenbrödel alles Ungemach singend und träumt derweil davon, was vielleicht eines Tages sein könnte. Vor ihrem inneren Auge existiert all das Elend gar nicht, es muss quasi draußen bleiben. Das ist die zweite Voraussetzung. Denn nun hat die Fee ihre Vorgabe. Ein Tanzabend im königlichen Schloss. Hiermit kann sie was anfangen. An die Arbeit, gute Fee!
Die Geschichte nimmt also den bekannten Verlauf. So hören wir es gern, so muss es auch sein. Schließlich haben wir es mit Urbildern der Menschheit zu tun, und die müssen geschützt werden, gewissermaßen wie ein eingetragenes Warenzeichen.
Wie aber wäre die Geschichte verlaufen, wenn Aschenbrödel ein ganz normales Mädchen gewesen wäre, mit einem durchschnittlichen Charakter, einem normalen Vornamen, sagen wir Regina, wenn sie ausgerüstet gewesen wäre mit einer Portion Sachlichkeit und einem halbwegs klaren Urteilsvermögen? Wahrscheinlich etwa folgendermaßen:


Es begann an dem Abend, als die Mutter mit den Schwestern zum Ball gefahren war.
Bis dahin war alles normal verlaufen, ganz so, wie wir es aus dem Märchen kennen. Regina saß in der Herdasche in der dunklen Küche und hatte missmutig das Kinn auf die Knie gelegt. Sie dachte an die Seifenflocken, die sie besorgen musste und an die Soßenflecken auf dem cremefarbenen Damasttischtuch, die partout nicht rausgehen wollten. Eine Fliege krabbelte über ihren Arm und genervt schlug sie danach.
Der Kater hatte ein vereitertes Auge und würde wohl bei dem Versuch, es mit lauwarmem Kamillentee auszuwaschen, in die Offensive gehen. Zum Glück war immer genug Jod in der Hausapotheke.
In der Speisekammer hinter der Küche war ein Kännchen Sahne umgefallen und hatte sich über die rauen Steinfliesen ergossen. Aufwischen hatte nicht viel gebracht, die Steine waren jetzt höllisch glatt und man musste aufpassen, dass man nicht darauf ausrutschte.
Das Schloss an der Vordertür klemmte, der Schlüssel war rostig, und sie würde wahrscheinlich morgen einen Schlosser holen lassen müssen. Ausgerechnet an dem Tag, wo auch der Weinhändler kam, der ihr im Keller beim Durchgehen der Lieferscheine immer in den Hintern kniff.
Reginas Haar war strähnig und sie fühlte sich scheußlich unattraktiv. Außerdem taten ihr die Füße weh vom Leiterstehen, weil sie heute alle hohen Fenster hatte putzen müssen. Dabei hatte sie hinter den Bordüren ein Spinnennest ausgehoben, aber die Mutterspinne war entkommen und irgendwo unter dem Bett ihrer Stiefschwester verschwunden. Der Kater war ihre letzte Hoffnung. Wenn er das Biest nicht fand und fraß, war das Geschrei groß. Mist!
Ihre Schwestern hatten momentan als größte Sorge höchstens ob sie noch ein Glas Champagner vertrügen oder ob sie vom tanzen zu rote Wangen bekämen. Soll sie der Teufel holen! Regina stellte sich vor, wie es wohl jetzt wäre, im Ballsaal zu sein, bei strahlendem Lichterglanz und wohlklingender Musik, prächtig gekleidet - und gewaschen! Apropos gewaschen, dachte sie: Habe ich eigentlich genügend Servietten gewaschen? In zwei Tagen ist das Monatstreffen von Mutters Handarbeitskreis, da werden sie gebraucht. Die alten Xanthippen machen zwar weniger Handarbeiten als dass sie Tee trinken und sämtliche Leute durchhecheln, die Rang und Namen haben. Aber Kuchen backen muss ich trotzdem, sonst gibt es Ärger. Vielleicht einen Kürbiskuchen? Auf der Veranda liegt noch ein Kürbis, ich will sehen, ob er frisch genug ist.
Regina erhob sich seufzend und ging hinaus auf die Küchenveranda. Der Garten lag in schweigendem Dunkel.
Der Kürbis war noch nicht lange abgeerntet, aber irgendwie sah er seltsam aus. Sie ging näher ran. Er glitzerte! Das wird doch kein Fäulnispilz sein? Regina wusste, dass manche Schimmelpilze fluoreszieren.
Plötzlich fuhr sie herum! Da war doch ein Geräusch am Fuß der Treppe? Sie blickte in den dunklen Garten. Eine etwas ältere Frau stand unten, sie trug einen blauen Umhang und sah ein wenig unsicher zu Regina herauf. Was machte die im Garten, dachte Regina misstrauisch und rief, nicht eben freundlich: „Wie kommen sie denn hier herein? Müsste ich sie kennen?“ Sie bereitete sich darauf vor, in die Küche zu hechten und die Tür zuzuschlagen.
Die Frau lächelte und grüßte. „Ich bin deine gute Fee.“, sagte sie. Um erst gar keine Diskussionen aufkommen zu lassen, ob das sein konnte oder nicht, wedelte sie etwas hektisch mit ihrem Zauberstab - doch, sie hatte tatsächlich einen - und verwandelte den Kater, der sich natürlich wieder im nächtlichen Garten herumgetrieben hatte und eben die Treppe zur Veranda hoch schlich, in einen fetten grünen Frosch.
„Aha!“, sagte Regina irritiert. „Und was willst du hier?“ Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie schlief und das Ganze vielleicht träumte. Sie versetzte dem Frosch, der eben noch ihr Kater gewesen war und gerade um ihre Beine streichen wollte, einen Tritt.
„Ich möchte, dass du zum Ball gehst.“, sagte die gute Fee.
„Ach Gott, natürlich!“, sagte Regina übellaunig. „Und was soll ich denn da? In den Fetzen. Und wie sollte ich hinkommen? Ich habe morgen eine Menge Arbeit, und wenn ich dann todmüde bin... Was fällt dir nur ein?“, schloss sie missmutig.
Aber so leicht ließ die Fee sich nicht entmutigen. „Wozu kann ich denn zaubern, Kind?“ fragte sie nicht ganz unberechtigt. „Hm!“, knurrte Regina und starrte auf den Frosch mit dem vereiterten Auge, der sich auf dem Fußschemel räkelte, herzhaft gähnte und ein zufriedenes Schnurren von sich gab.
„Klappt nicht immer so ganz, oder?“
Die Fee zuckte bedauernd mit den Schultern. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Aber Kleider kann ich gut!“, rief sie aus.
Sie schwang den Zauberstab, ein silbriges Band durchschnitt die Dunkelheit, umfing Reginas Gestalt und verwandelte ihren Putzkittel in ein knallrotes, hautenges Seidenkleid. Sehr gewagt ausgeschnitten. Die Fee strahlte beglückt.
Regina sah an sich hinab und stellte fest, dass sie durch das Dekolleté ihren Bauchnabel sehen konnte. „Hör mal“, sagte sie zu der Fee. „Für den Ball im Schloss ist das aber nicht unbedingt das richtige.“
„Du hast wahrscheinlich recht.“, seufzte die Fee. „Probieren wir was anderes.“
Ein neuer Versuch, und diesmal fand sich Regina gehüllt in eine elisabethanische Robe, die ihr kaum Spielraum ließ, den Hals zu bewegen.
„So kann ich doch nicht tanzen!“, rief sie mit gepresster Stimme aus.
Die Fee nickte. „Ja, stimmt.“, seufzte sie. „Das war zu weit am anderen Ende des Katalogs. Aber warte mal, auf Seite 387 ist vielleicht das Richtige.“
Der Zauberstab gab ein neuerliches Leuchtband von sich, und Regina trug nun einen puffärmeligen Traum aus schneeweißem Satin, übersät mit Kristallsternchen, die im Mondlicht funkelten. Wie ein Brautkleid sah es aus. Zu sehr wie ein Brautkleid. Regina schüttelte den Kopf. „Ich möchte doch nur tanzen, und nicht gleich heiraten. Kannst du mir deinen Katalog nicht einfach mal zeigen?“, seufzte sie. „Auf die Gefahr hin, dass ich dir auf die Nerven gehe, liebe Fee...“
Die Fee hob abwehrend die Hände. „Schon verstanden!“, nickte sie.
„Zu pompös. Den Katalog kann ich dir leider nicht zeigen. Da sind ein paar Sachen drin... Aber gut, versuchen wir das hier.“
Der Zauberstab blitzte, und Regina strahlte. Endlich! Was sie jetzt trug, war das neueste Abendmoden-Modell von Coccinelle, „Sommerabend“. Eine cremefarbene Robe, bodenlang, mit weitem Rock und engem Oberteil, schulterfrei und mit Spitzenbesatz im Vorderteil. Auch nicht jedermanns Geschmack, aber es war passend und gefiel ihr. Außerdem hatte die Fee ihr Haar in eine edel aufgesteckte Frisur verwandelt. Ihr gewaschenes Haar!
„Schön!“, sagte die Fee zufrieden. „Als nächstes brauchst du ein Fahrzeug. Hilf mir, den Kürbis nach unten zu tragen!“
„In dem Kleid!“ rief Regina entrüstet aus. „Damit es dann gleich ruiniert ist! Kannst du nicht einen von den Gartenstühlen nehmen?“
„Aus Gartenstühlen“, erklärte die Fee geduldig, „kann ich höchstens ein Vogelhaus zaubern. Nützt dir das irgendwas?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Regina stöhnte genervt. „Nehmen wir eben den Kürbis. Hättest du das Fahrzeug nicht vorher zaubern können? Dann hätte ich dir tragen helfen.“
Die Fee zuckte die Schultern, transferierte den Kürbis mit Zauberkraft nach unten und stellte fest, dass er jetzt angematscht war, denn sie hatte ihn etwas zu unsanft fallen lassen. „Mal sehen, was ich tun kann.“, sagte sie, zauberte ein bisschen herum und bekam schließlich einen Ferrari hin. Kürbisgelb mit einer grünen Antenne und platten Reifen. „Herrje! Das ist jetzt aber dumm.“, rief sie entmutigt aus.
Mit angespanntem Gesicht überlegte die Fee, zauberte ein weiteres Mal, und wenigstens waren die Reifen jetzt aufgepumpt. Zweifelnd sah sie Regina an. „Willst du wirklich mit einem Ferrari zum Schloss fahren?“, fragte sie.
„In einem kürbisgelben? Ausgeschlossen!“, knurrte Regina. „Das mit dem Ferrari war ja deine Idee. Außerdem hab ich nicht mal einen Führerschein.“
„Dann muss wohl die gute, altmodische Kutsche herhalten. Das macht sowieso den besten Eindruck.“ Die Fee bemühte ihren Zauberstab, und der Ferrari verwandelte sich zitternd in eine altmodische, goldene Kutsche. Sogar die Pferde und der Kutscher waren schon mit dabei. Das Wappen, das die Tür ziert, zeigte allerdings einen Ferrari. Einen roten.
Regina verdrehte genervt die Augen. „Das geht doch nicht! Das musst du einsehen. Einen Ferrari als Wappen! Ich werde verklagt, dass ich schwarz werde. Bitte!“
„Es war ja keine Absicht.“, maulte die Fee. Beleidigt schwang sie den Stab, und anstelle des Ferrari prangte jetzt ein knallroter Kürbis auf dem Wappen.
Regina legte die Hand über die Augen. „Na schön, lassen wir es so. Bevor noch mehr Blödsinn passiert. Bevor der Abend vorbei ist, und ich gar nicht mehr zum tanzen komme.“
„Oh, nein!“ Die Fee war nun in ihrem Ehrgeiz gekränkt. „Nein, das ändern wir.“
Sie schwang den Stab, und das Wappen verwandelte sich. Jetzt war es ein goldener Kürbis mit einem roten Krönchen. Auf grünem Grund. Besser als gar nichts, dachte Regina. „Bitte, liebe Fee, bitte lass es so.“, flehte sie. „Ich muss doch fort!“
„Herrgott, ja, die Zeit!“ Die Fee wirkte hektisch. „Das einzige was dir jetzt noch fehlt, sind Schuhe.“
Die Fee zauberte, und die barfüßige Regina stand plötzlich da im Ballkleid und in Badesandalen. Sie sagte nichts. Sie starrte nur hilflos auf die kleinen weißen Margeriten, die jede Zehe krönten. Die Fee sagte auch lieber nichts und versuchte sofort, ihren Fehler zu korrigieren. Nacheinander zauberte sie Regina holländische Holzschuhe, Rollschuhe, Arbeitssicherheitsschuhe, Legionärssandalen, goldene Tennisschuhe und Indianermokassins. Schließlich, als Regina schon gar nicht mehr an eine annehmbare Lösung zu glauben wagte, gelangen der Fee ein paar gläserne Pumps.
„Oh je, die sind aber verflucht empfindlich.“, bemerkte die Fee mit gefurchter Stirn. „Ich versuche, welche aus beigefarbenem Leder hinzubekommen.“ Doch so sehr sie auch fuchtelte und schwang, jetzt tat sich gar nichts mehr.
„Ist das ein schlechtes Zeichen?“, wollte Regina wissen.
„Wie man’s nimmt.“, sagte die Fee. „Es ist jedenfalls so, dass ich nichts neues mehr Zaubern kann. In etwa ist das so, als wenn bei der Taschenlampe die Batterien leer sind. Das Zeugs, das ich schon gezaubert habe, hält auch deswegen nur bis Mitternacht. Sieh also zu, dass du um Mitternacht zu Hause bist.“
Und ohne erst eine Antwort Reginas abzuwarten, verschwand die Fee sehr schnell. Sie hatte es in der Tat verdächtig eilig.
Regina stieg in die Kutsche und begab sich geschwind zum Schloss. Glücklicherweise war es mit der Kutsche nur eine Viertelstunde Wegs dorthin. Als sie ankam, war es bereits viertel nach Zehn.
Regina zögerte deshalb auch nicht lange und hastete schnurstracks durch die Halle. Etwas undamenhaft eilig rannte sie die imposante Treppe hinauf.
Dann erst nahm sie sich die Zeit, sich umzusehen. Das Schloss war festlich geschmückt und taghell erleuchtet. Die Musik erfüllte alle Räume. Wie schön war es, jetzt tanzen zu dürfen! Sie schritt die Galerie entlang und betrat den Ballsaal, und noch während sie sich unschlüssig war, was sie nun weiter tun sollte, kam ein gutaussehender junger Mann auf sie zu und bat sie um einen Tanz.
Endlich! Dachte Regina selig. Nun bin ich doch noch auf den Ball gegangen! Verzeih mir, gute Fee, wenn ich etwa schlecht von dir gedacht habe, bat sie im Stillen.
Sie schwebte in den Armen des netten jungen Herrn übers Parkett, sie machten ein wenig Konversation, und in den Pausen tranken sie Champagner. Für einen Edelmann war er von angenehm aufrichtigem Wesen und er war fröhlich und sprachgewandt. Die Konversation wich rasch einem persönlichen Gespräch, der Champagner stieg Regina zu Kopf und fast schon war sie so weit, sich in ihn zu verlieben. Die Stiefmutter und die Schwestern waren nirgends zu sehen. Alles war wunderbar. Die große Uhr im Ballsaal zeigte elf Uhr und fünf Minuten. Sie tanzte noch immer mit ihm, als sie plötzlich eine schwere Hand auf ihrer Schulter fühlte. Sie wandte sich um und sah sich einem dümmlich grinsenden Mondgesicht gegenüber. Es war der Prinz. Ach du liebe Zeit, den hatte sie völlig vergessen! Dieser Ball war ja veranstaltet worden, um eine passende Frau für ihn zu finden! Was nun?
Der Prinz war ein beispielloser Trottel, gnadenlos von sich selbst eingenommen und sein Atem roch nach Zwiebeln. Und er wollte unzweifelhaft mit ihr tanzen. Keine Panik, dachte Regina, warf ihrem Edelmann einen bedauernden Blick zu und lächelte den Prinzen gekünstelt an. Mit dem würde sie schon fertig werden. Sie würde ihn ein bisschen langweilen, so dass er das Interesse verlor.
Der Prinz jedoch ließ ihr keine Chance, ihn zu langweilen. Er ließ nämlich niemanden zu Wort kommen außer sich selbst. Ihm reichte es, wenn sie ihm zuhörte und, wie er sich einbildete, gebannt an seinen Lippen hing. Er war selig. Er war verliebt. Regina saß in der Falle. In Wirklichkeit hörte sie ihm gar nicht zu und überlegte fieberhaft, wie sie ihm entkommen konnte.
„Ich muss jetzt leider gehen.“, sagte sie schließlich laut und entschieden, doch der Prinz hatte nicht einmal bemerkt, dass sie gesprochen hatte und fuhr mit seinem Monolog fort.
„Wieso“, sagte er gerade, „heirate ich nicht einfach DICH? Du bist mit abstand die beste Braut hier im Saal. Ist ja unwichtig, Hauptsache der Alte gibt Ruhe.“
Regina sah ihn mit offenstehendem Mund fassungslos an. So ein wundervolles Kompliment hatte sie ja noch nie bekommen. Er gab sich nicht mal die Mühe, so zu tun, als ob. Was für ein verdammter Idiot! Außerdem hatte er sie über eine halbe Stunde lang vollgequatscht, es war jetzt fast schon viertel vor Zwölf. Sie musste dringend nach Hause! Die Fee hatte sie gewarnt. Aber der Trottel ließ ihren Arm nicht los. Regina beschloss, zu den Waffen einer Frau zu greifen. Sie tat, als ob sie sich über die Frisur streichen würde, zog dabei aber eine Zierspange heraus. Sie warf sie in hohem Bogen hinter sich.
„Ach herrje!“, rief sie bedauernd und sah den Prinzen mit großen Kulleraugen an. „Wärest du vielleicht so lieb, mir meine Spange zu suchen?“ Mit gewinnendem Lächeln sah sie tief in seine Augen, und der Prinz war plötzlich ganz verwandelt. Begeistert wie ein Apportierhund stürzte er sich zwischen all den Hintern hindurch hinunter auf den Fußboden.
Regina verlor keine Zeit. Sie drehte sich um und begann zu rennen. Durch den Ballsaal, die Galerie entlang, die Treppe hinunter und durch die Halle. Sie eilte gerade die große Freitreppe hinab, als sie den Prinzen hinter sich rufen hörte. Und die Kutsche war noch weit. Sie drehte sich unvorsichtigerweise ein ganz klein wenig um, da schlug der gläserne Absatz gegen eine Treppenstufe und brach klirrend ab! Wütend schüttelte sie den kaputten Schuh vom Fuß und hastete weiter. Aber mit einem Schuh läuft es sich schlecht, und so sah sie zu, dass sie den anderen ebenfalls loswurde. Sie bückte sich, zog ihn aus und warf ihn weit von sich. Eine Fensterscheibe klirrte. Die Turmuhr begann zu schlagen!
Gehetzt sah sie sich um. In die Kutsche zu steigen, hatte jetzt keinen Zweck mehr. Gleich würde sie sich auflösen und wieder zu einem Kürbis werden. Sie duckte sich hinter die Balustrade. Der Prinz hatte sie fast erreicht, aber hier sah er sie, wenn sie Glück hatte, nicht. Die letzten Stufen flog er förmlich hinab, blieb stehen und sah sich verblüfft um. Wo war die Frau, die er zu ehelichen gedachte? Die Turmuhr schlug zwölf und verstummte. Da entdeckte er Regina hinter der Balustrade.
„He, du!“, sagte er gebieterisch. „Hast du nicht eben eine elegante junge Dame vorbeirennen sehen?“
Regina sah an sich hinab. Der graue Putzkittel mit den vielen Löchern und den ausgerissenen Taschen hatte wieder seine alte Gestalt. Ihr Haar hing strähnig zu beiden Seiten ihres Gesichts herab. Und dieser Depp von Prinz erkannte eben jenes Gesicht nicht, obwohl er gerade vor ein paar Minuten mit ihr getanzt hatte.
„Nein.“, sagte sie gleichgültig, drehte sich um und ließ ihn stehen. Ohne Hast machte sie sich zu Fuß auf den Nachhauseweg.
Als ihre Stiefmutter mit den Schwestern nach Hause kam, war es bereits gegen Morgen, und Regina lag längst wieder auf ihrem Platz beim Herd und dachte über das erlebte nach. Schade war es, dass sie ihren Edelmann vielleicht nicht wiedersehen würde. Jedenfalls war sie sich jetzt sicher, dass sie nicht die Frau eines Prinzen werden wollte. Und schon gar nicht dieses Prinzen. Träume waren eben doch etwas anderes als die Wirklichkeit. Sie war gerade noch einmal davongekommen. Glücklich schlief sie ein.

Im frühen Morgengrauen stand Regina auf und begann mit ihrer Arbeit. Sie hatte bereits den Kater verarztet, ihre Kratzer versorgt, einen Kuchen gebacken und war dabei, das Frühstück vorzubereiten, als jemand eindringlich gegen die Tür donnerte. Die Schwestern schliefen noch. Regina beeilte sich zu öffnen, damit um Himmels Willen der Lärm aufhörte. Draußen stand ein junger Edelmann, ein Abgesandter des Hofes, und wünschte guten Morgen. In der Hand hielt er den absatzlosen gläsernen Schuh.
„Bitte vielmals um Entschuldigung, aber der Prinz sucht nach einem Edelfräulein, und dieser Glasschuh, auch wenn er keinen Absatz hat, kann möglicherweise....“
Er brach ab und sah Regina mit offenem Mund an. Auch sie starrte ihn ganz ungläubig an. Es war der junge Mann, mit dem sie sich gestern auf dem Ball so gut verstanden hatte. Eindringlich flüsterte sie: „Der Schuh kann mich identifizieren. Gib ihn her! Oder willst du, dass ich dieses Arschloch heiraten muss?“
Der Edelmann schüttelte entnervt den Kopf und schluckte. „Nein, ich hatte eigentlich gehofft... Ich dachte zwar, dass ich dich wiederfinden wollte, aber das es so schnell geht...“ Dass sie wie eine Dienstmagd gekleidet war, schien ihn weniger zu stören.
„Sogar viel schneller, als du denkst. Meine Stiefmutter wird nie ihre Erlaubnis geben. Wenn du also willst, dass ich mit dir komme, musst du mich SOFORT mitnehmen.“
Der Edelmann schluckte. „Mein Vater hat ein Landgut, weit fort von hier. Da kommt der Prinz nie hin, er würde uns niemals über den Weg laufen. Wir könnten dir unterwegs etwas zum anziehen kaufen. Hast du irgendwelche Sachen, die du mitnehmen willst?“
Aber Regina war schon nach draußen getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sie stand auf dem Trittbrett der Kutsche.
„Was ist?“, sagte sie. „Kommst du?“
 

Silea

Mitglied
Dankeschön! Solcherart ermutigt, werd ich mich auch mal am Froschkönig versuchen.
Herzliche Grüße

Silea
 



 
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