Eike Leickart
Mitglied
Ein Fahrgast, der oft in dem Bus fuhr, welcher mich morgens zur Arbeit brachte, und der immer, wenn der nächste Halt angesagt wurde, wie ein Betender die Augen schloss, gestand mir einmal, wir waren einander näher gekommen, als wir den Bus an einer Steigung im Winter anschieben mussten, er gestand mir also, er fahre diese Strecke nur, weil die Frauenstimme, die die Ortsnamen ansage, ihm so gut gefalle, er scheue sich nicht, zuzugeben, dass er sich in diese Stimme nicht nur verliebt habe, ja, er sei ihr förmlich hörig. Ob ich sie denn nicht ebenfalls bezaubernd fände? Was er nicht ahnen konnte, war, dass ich die Sprecherin kannte; sie war eine Kollegin von mir in der Schule, in der wir Spätaussiedler und Kontingentler unterrichteten, sie hatte eine Ausbildung als Sprecherin gemacht und wirkte gelegentlich auch an Hörspielen des Rundfunks mit. Ich nickte und bestätigte, dass auch mir diese Stimme gut gefalle. Das schien ihn zu freuen; aber einmal ins Bekennen geraten, gestand er nun auch, bereits Nachforschungen angestellt zu haben und zu diesem Zweck bei der Verkehrsgesellschaft vorstellig geworden zu sein; dort aber habe man gesagt, der Name der Sprecherin sei ihnen nicht bekannt, man beziehe die Ortsansagen von der Firma VOX PUBLICA in Siegen, die aber vor kurzem pleite gegangen sei. Gut so, dachte ich, sehr gut, dabei soll es dann auch bleiben. Er sagte mir, dass er allein hier geblieben sei, seine Frau sei von dem gemeinsamen Urlaub ins Ruhrgebiet zurückgekehrt. Seither sei es aber noch schlimmer geworden, er fahre oft zehn oder zwölfmal am Tag mit dieser Buslinie hin und her, habe sich mittels eines kleinen Tonbandgeräts schon einen Mitschnitt verschafft, um die Stimme auch nachts hören zu können, aber die Qualität sei schlecht, insbesondere der sonore Unterton, wenn sie Ortsnamen wie Rabenschlade oder Pettseifen ausspreche, dieses akustische leichte Lächeln komme nicht heraus. Er habe, um Geld zu sparen, sich eine Jahreskarte zugelegt, die habe er vor kurzem verloren, aber die Fahrer würden ihn inzwischen kennen und auch ohne Fahrausweis mitfahren lassen. Als ich ihn das nächste Mal im Bus sah, verkroch ich mich hinter meine Zeitung, ich wollte nicht mit ihm sprechen aus Angst, mein Mehrwissen könnte unversehens aus mir herausplatzen, denn es war ja nicht nur der Name der Sprecherin, den ich kannte, ich wusste auch, ein wie furchtbares Ende sie infolge einer Eifersuchtstat genommen hatte, ihr Mann saß hinter Schloss und Riegel, weil er eine Bombe in ihr Auto eingebaut hatte, die sie beim Umdrehen des Zündschlüssels in tausend Stücke zerriss. Ein anderes Mal aber konnte ich ihm nicht ausweichen, ich musste mich, wenn ich nicht stehen wollte, neben ihn setzen, und zwischen Elbach und Odenspiel raunte er mir ins Ohr: „Was für ein glücklicher, heiterer Mensch muss sie sein! Hören Sie das auch? Es ist so ein Strahlen in ihrer Stimme! Und trotzdem höre ich auch einen verschwiegenen Kummer heraus, einen gelinden Mollton, ach, wüsste ich doch, was sie bedrückt! Der Sprecherin einer solchen Stimme helfen, ihr dienen zu können immerdar, was für ein Glück wäre das! Meine Frau hat die Scheidung eingereicht, nun habe ich nur noch sie, und mir bricht es jedes Mal fast das Herz, wenn ich sie ‚Nächster Halt: Rabenschlade‘ aussprechen höre in einem Tonfall, süß und bitter und von einem so erhabenen Lächeln über allem Schmerz!“