Hörig II

Nach diesem schrecklichen Ereignis hatte sich mein Freund das Haus Homburger Straße 20 gekauft, Sie kennen es vielleicht, die bescheidene weiße Villa mit den hübschen Jugendstilfenstern, ja, genau, die mit den Kletterrosen überm Eingang. Das Haus gefiel ihm, das Dach war neu, der Keller nicht feucht, die Fenster waren dicht und der Preis, nun ja, als alleinstehender Lehrer ist man ja nicht unbedingt mittellos und bekommt auch leicht ein passendes Kreditchen. Der eigentliche Grund seiner Entscheidung aber war: Das Haus lag, nur durch die Straße getrennt, dem Parkplatz gegenüber, auf dem Hedwig zum Opfer ihres eifersüchtigen Mannes geworden war. Er hatte ein Päckchen selbstgebastelten Sprengstoffs in den Motorraum geklebt, wo es explodierte, als sie den Zündschlüssel umdrehte, und sie in tausend Stücke zerriss.

Ja, mein Freund war in sie verliebt gewesen, er hatte ihr Gedichte zukommen lassen, die von Zärtlichkeit durchzittert waren, zugleich aber von ernster Entschlossenheit, ihre Stellung als verheiratete Frau und Mutter einer Tochter zu respektieren. Ob sie gut waren, die Gedichte? Ich bin kein Fachmann für derlei, aber wenn ich ehrlich sein soll: Es war wohl eher Beamtenlyrik mit Pensionsanspruch, rückwärtsgewandt … Nun ja, sie waren Kollegen gewesen und hatten vor, den Unterricht am Cusanus-Kolleg auf eine neue Basis zu stellen, hatten sich zu einem Arbeitsessen im Hotel Stadt Bergrath getroffen, und als sie sich ins Auto setzte, um nach Hause zu fahren, geschah es dann. Hätte sein Wagen neben ihrem gestanden, er hätte wohl auch was abgekriegt, und ich habe einmal ein Gedicht von ihm gesehen mit Anfangszeile: „Ach, hätte ich doch mit dir gehen können!“

„Warum, als ich das Krachen hörte, war ich nicht schneller bei ihr?“, fragte er mehr sich selbst als mich im Roten Ochsen, wo wir uns getroffen hatten, weil er sich von mir Ratschläge erhoffte, wie er aus der Trauer, ja, Depression herauskommen sollte, die ihn seither beherrschte. „Immer wieder sitze ich am Fenster und schaue zum Parkplatz hinüber, dorthin, wo ihr Leben so schlagartig erlosch …“ Ich fragte ihn, ob er sich eigentlich vorwerfe, mit seinen Gedichten möglicherweise zur Tatmotivation Hannos beigetragen zu haben. Den Blick, mit dem er mich anschaute, hätten Sie sehen sollen, sowas von höhnisch und verzweifelt. „Du glaubst es also auch!“, murmelte er und trank aus. Ich begleitete ihn vom Hotel nach Hause, und als wir unter der rotweißen Kletterrose hindurchgingen, die über seiner Eingangstür verschwenderisch blühte, blieb er plötzlich stehen, legte den Finger über die Lippen und lauschte. Ärgerlich blickte er zur Straße, auf der ein Auto vorbeifuhr, dann war es wieder still. Er lächelte und sah mich triumphierend an: „Hörst du es auch?“ Ich verneinte kopfschüttelnd mit stummem Bedauern, ließ ihn aber vorgehen und lauschte allein noch ein wenig, dabei beobachtete ich eine Amsel, die in der Erde stocherte.

„Seit Monaten schon höre ich ihre Stimme aus den Rosen“, gestand er mir zögernd, denn ihm war wohl bewusst, dass ich ihn für verrückt halten konnte. Das tat ich auch für einen Augenblick, sprang dann aber als guter Therapeut gleich in die Frage: „Und was sagt sie?“ „Ich weiß nicht, ob ich sie immer richtig verstehe, aber ich glaube, es ist ein Text aus dem Stück, in dem wir sie auf der Bühne gesehen haben … Erinnerst du dich noch? Sie war so toll – in ihrem schwarzen Lumpenkleid, die Augen geschminkt zu schwarz tränenden Clownsaugen … ‚Die Mühe einer Frau höret nimmer auf. Ich verabscheue Klagen, aber der Stress übersteigt die Grenzen des Vertretbaren. In der guten alten Zeit, naja, ich werde lieber nicht nostalgisch, aber du meine Güte, in der guten alten Zeit hatte man ausgebildete Hilfskräfte, Knaben mit Sense, wissen Sie, Würgeengel en masse, und die Leute sind damals viel einfallsreicher abgekratzt, Syphilis, Milzbrand, Cholera, Tuberkulose.‘ Wie liebevoll sie das alles aussprach – als wolle sie diese grässlichen Krankheiten herzen und küssen!“ Meinem Freund kamen die Tränen, er konnte nicht weitersprechen, und ich musste einsehen, dass ihm nicht zu helfen war.

Ein Vierteljahr später kam ich erneut in die Gegend, suchte die Jugendstilvilla an der Homburger Straße auf und klingelte. Es war Winter, die Kletterrose war ziemlich kahl, es meldete sich nicht gleich jemand – aber dann hörte ich eine Stimme – unverkennbar die Stimme Hedwigs, und sie sagte: „Wenn ich ein Menschengesicht betrachte, ergibt das keinen Sinn für mich: Eine eirige Kugel, oben buschig, zwei Löcher als Augen, zwei als Ohren, eins als Mund! Versuch nur mal ein Menschengesicht anzusehen, völlig unlogisch. Und diese flatternden Ohren, kleine Flügel, mit denen man nicht fliegen kann, ergeben überhaupt keinen Sinn!“ Verdammt, dachte ich, er hatte doch recht, aus diesem Dornbusch redet eine Stimme, und ich will ein anderer sein, wenn das nicht Hedwigs ist! Aber dann flog die Tür auf und mir gegenüber stand, nun, was glauben Sie?, stand ein bezauberndes junges Mädchen mit einem Huhn unter dem Arm, sie hatte einen fleischfarbenen Morgenrock übergeworfen, unter dem sie ziemlich nackt zu sein schien. „Was wollen Sie? Wir brauchen nichts. Und die Zeugen Jehovas haben sich auch schon mehrfach an uns die Zähne ausgebissen!“ Ich stellte mich vor und fragte, ob ich meinen Freund sehen könne. „Es geht ihm nicht besonders gut, er ist bettlägerig, und ich wollte ihm gerade die Zehennägel schneiden. Ich bin übrigens Laura!“ Das also war es! Laura hieß Hedwigs Tochter, aber warum war sie hier? Das erklärte sie mir umgehend: „Ich probe mit ihm das Stück, in dem Mama mitgespielt hat. Aber sie war die Frau Tod, und nun bin ich das Gretchen Globuschek. Für die Frau Tod bin ich noch zu jung!“

Mein Freund lag breit grinsend auf dem Bett, die nackten Füße ragten provozierend daraus hervor. „Sie hat die Stimme ihrer Mutter – zum Verwechseln!“ Ich berichtete von dem Schock unter der Kletterrose. „Nein, die redet nicht mehr, seit eine Amsel dies hier aus der Erde gezogen hat.“ Er langte auf seinen Nachtschrank und überreichte mir eine Schachtel, in der lag ein schwarzbrauner, leicht gekrümmter kleiner Finger auf einem seidenen weißen Kissen. Die Haut war faltig zusammengeschrumpft, der spitz zulaufende Fingernagel war deutlich zu erkennen. Fragend schaute ich ihn an. „Er muss durch die furchtbare Explosion über die Straße geschleudert worden sein!“

Laura brachte uns Tee, streute dem Huhn Körner, und dabei summte sie vor sich hin:

„Mein Mütterlein ist tot,
mein Väterlein im Knast,
mein Mund ist blutig rot,
fall ich dir auch nicht zur Last?“​

(Zitate aus George Tabori: „Mein Kampf“ in der Übersetzung von Ursula Tabori-Grützmacher)
 



 
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