Hoffnung und Verwirrung

LUPESIWA

Mitglied
Aus meiner Reihe "Geschichten über Senioren für Senioren"

Hoffnung und Verwirrung

Beschwingt läuft Schwester Birgit den Gang hinunter. Sie kann sich gar nicht satt sehen an den wunderschönen Weihnachtsgirlanden, die mit schillernden Kugeln und Engeln behangen das ganze Haus schmücken.
Nun will sie die letzten Bewohner ihrer Etage zum Adventskaffee abholen. Es sind immer dieselben, die bei angeregter Unterhaltung mal wieder die Zeit vergessen haben.
Vor einem Zimmer stutzt sie. Laute Geräusche und Gesprächsfetzen dringen heraus. Sie klopft kurz an und öffnet die Tür.
Wie ein aufgescheuchtes Huhn tippelt Frau Müller, die Bewohnerin, durch den Raum und krempelt alles um. Sie zerrt das Bettzeug zur Seite, wühlt in ihrem Kleiderschrank und sogar in der Kulturtasche im Bad herum.
„Frau Müller, was suchen sie denn, kann ich ihnen helfen?“, versucht Schwester Birgit sie aufzuhalten. „Wir wollen jetzt gemeinsam zum Adventskaffee nach unten gehen.“
„Nein, nein! Es muss hier sein. Ich habe es den ganzen Tag in der Hand gehabt, es muss hier sein. Gleich ruft Oliver an. Ich muss es finden. Ah!“, stößt sie schon ganz kurzatmig hervor, „hinten in der Sitzecke, da hab ich es sicher abgelegt.“
Und ohne die Schwester nur zu beachten, schiebt sie sich an ihr vorbei und läuft so schnell sie kann zum Ende des Ganges.
„Halt! hat jemand mein Handy gesehen oder eingesteckt?“, ruft Gretel Müller schon von weitem und stellt sich in den Weg.
„Ihr Handy, Sie haben ein Handy, wozu das denn?“, spöttelt Frau Eberlein grinsend, „können sie tatsächlich was damit anfangen?“
„Oh, Sie, Sie….“ erbost sich Gretel. Doch mitten im Satz versagt ihre Stimme und weinerlich spricht sie weiter. „Das hat mir doch mein Enkel zu Nikolaus geschenkt. Und ich warte auf seinen Anruf. Zu Weihnachten hole ich dich, das hat er gesagt.“
„Aber Gretel, Weihnachten ist doch erst in einer Woche“, versucht Johanna Helbig sie zu beruhigen und nimmt ihren Arm.
„Papperlapapp! Er kommt heute zu Weihnacht, das hat er versprochen. Oliver hat bestimmt schon angerufen“, stößt Frau Müller fast zornig hervor, schüttelt Johannas Hand ab und stolpert wieder in ihr Zimmer.
Kopfschüttelnd schauen ihr die anderen hinterher und Johanna macht sich ein wenig Sorgen. Sie verbringt viel Zeit mit Gretel und hat schon manche Ungereimtheit festgestellt.

„Nun aber los, meine Damen, der Kaffee wird doch kalt“, scheucht Schwester Birgit die laut schnatternde Frauengruppe zum Fahrstuhl. „Wir kommen gleich nach“, setzt sie noch hinzu und verschwindet in Frau Müllers Zimmer. Sie hatte sich inzwischen in der Verwaltung die Telefonnummer besorgt, die Oliver Müller für das Oma-Telefon hinterlassen hatte. Von ihrem Handy aus ruft sie die Nummer an und tatsächlich erklingt eine Weihnachtmelodie hinter der Tür zum Bad. Aus dem Wäschepuff holt Gretel Müller freudestrahlend ihr Handy heraus. Dass der letzte Anruf von ihrem Enkel vor vier Wochen war, beunruhigt sie nicht weiter. Sie
folgt Schwester Birgit in die Cafeteria und setzt sich gleich auf einen Platz an der Tür.
Wie an jedem Adventssonntag herrscht eine fröhliche Stimmung bei Weihnachtsstollen und gemeinsam gesungenen Weihnachtsliedern und keinem fällt es auf, dass der eine Stuhl nahe der Tür schon eine ganze Weile unbesetzt ist.

Tief atmet Schwester Hilde die eiskalte Winterluft ein. Sie hat Dienstschluss und freut sich auf ihre Familie. Doch im nächsten Moment erstarrt sie wie ein Eiszapfen, als sie auf der Bank neben dem Eingang eine zusammen gekrümmte Gestalt entdeckt, die mit beiden Händen einen kleinen Koffer umklammert,
 



 
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