Hommage an M.C. Escher, 2. Fassung

Metamorphosen

Hommage an Maurits Cornelis Escher (1898 – 1972)

Von Stefan Seifert


Mrs. Winter hatte für die Fahrt von Sorrent nach Amalfi ein Automobil mit Chauffeur gemietet. Sie und ihre Begleiterin Emma fuhren mit offenem Verdeck, um möglichst viel von der Landschaft zu sehen.

Mrs. Winter war die Witwe eines britischen Kolonialbeamten. Sie liebte den Süden und verabscheute England, hauptsächlich wegen des Klimas. Sie litt unter Rheumatismus und das naßkalte englische Wetter war Gift für sie. Sie war nicht reich, aber ihr verstorbener Mann, he may rest in peace, hatte ihr neben der Pension eine komfortable Rente hinterlassen, die ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichte. So verbrachte sie den größten Teil des Jahres auf Reisen in südlichen Ländern.

Emma war eine junge Frau aus Deutschland, mit dunklem, modisch kurzgeschnittenem Haar, die es in jener Zeit, in den Jahren zwischen den beiden großen Weltkriegen, nach Italien verschlagen hatte. Mrs. Winter hatte sie in Neapel kennengelernt. Emma aß dort oft in einer kleinen Trattoria in der Nähe des Hafens zu Mittag. Eines Tages setzten sich zwei Damen an ihren Tisch, zwei Engländerinnen.

Die ältere der beiden, eine kleine, zierliche und lebhafte Person mit einem fliederfarbenen Tuch um den Hals, war Mrs. Winter.

Die andere war etwas jünger, groß und knochig. Sie hatte ein Gesicht, das sofort an ein Pferd denken ließ, mit dem entsprechenden Gebiß. Ihr Name war Miss Thompson. Sie war Mrs. Winters Reisebegleiterin. Mrs. Winter hatte sie über eine Agentur engagiert.

Wegen ihres Rheumatismus wollte Mrs. Winter eine Fahrt auf die vor Neapel gelegene Insel Ischia unternehmen, zu den dortigen vulkanischen Thermalquellen. Sie litt unter Schmerzen, was aber ihrer Unternehmungslust kaum Abbruch tat. Gelegentlich zog sie unter Miss Thompsons mißbilligendem Blick aus ihrem Täschchen eine flache silberne Flasche hervor und nahm einen Schluck daraus.

„That’s my painkiller,“ sagte sie und lächelte.
Sie trank Gin mit Tonic, um die Schmerzen erträglicher zu machen. Emma erwiderte ihr Lächeln.

Bald unterhielten sie sich lebhaft. Sie sprachen über Mrs. Winters Reisepläne.

Nach ihrem Aufenthalt auf Ischia wollten sie und Miss Thompson an die amalfitanische Küste fahren. Später vielleicht nach Ägypten.

Sie vereinbarten, daß sie sich nach der Rückkehr von Ischia noch einmal treffen wollten.

Miss Thompson sagte steif: „O yes, indeed.“


Zwei Wochen später stand Mrs. Winter vor Emmas Tür und sagte:

„I beg your pardon?!“

Miss Thompson war nicht mehr in ihrer Begleitung. Sie war nach England zurückgekehrt. Sie hatte wohl Heimweh nach merry old England bekommen, nach Porridge und Plumpudding.

Mrs. Winter fragte Emma, ob sie nicht Lust habe, sie auf ihrer Reise zu begleiten. Sorrent, die amalfitanische Küste, Ägypten.

Mrs. Winter hatte keine Kinder. Eine Tochter wie Emma hätte sie gerne gehabt. Aber auch eine Freundin wie Emma.

Emma war einverstanden.


Die Straße war in das Gestein der steilen, schluchtenreichen Berge geschlagen und ungewöhnlich kurvenreich. Vor jeder Biegung hupte der Chauffeur laut, um entgegenkommende Fahrzeuge zu warnen.

Rechts war das Meer. Es war sehr klar, man konnte in Ufernähe auf den Grund sehen. Seine Farben spielten von zartem Smaragdgrün über tiefes Blau bis ins Violette hinein. Vereinzelte Felsen ragten aus dem Wasser.

Dann sahen sie Positano vor sich, wie von einer Woge ans Ufer geworfen. Mrs. Winter ließ den Chauffeur anhalten und sie stiegen aus, um den Anblick zu genießen.

Zahllose Häuser, weiß, gelb und rosa, schmiegten sich, übereinander getürmt, an den Fels. Sie waren durch steinerne Treppen, Brücken und Bögen miteinander verbunden.
Tief unten leuchtete die Majolikakuppel einer Kirche.
Auf Terrassen und Hängen grünte und blühte es.
Wehrtürme bewachten die Bucht, in alten Zeiten zur Verteidigung gegen Seeräuber, Normannen und Sarazenen errichtet.
Zahlreiche Segelboote waren auf dem Wasser. Sie fuhren aufs Meer hinaus oder die Küste entlang. Rote und blaue Ruderboote, mit bunten Bändern geschmückt, legten vom Strand ab.

Sie fuhren weiter auf der gewundenen Straße, sahen romantische Schluchten, idyllische Fischerdörfer, Ansichten, die jedes Auge zum Malerauge werden ließen.

Schließlich führte die Straße hinab nach Amalfi. Sie stiegen an der Piazza aus, unweit des Domes. Zunächst logierten sie in einem Albergo.
Da sie vorhatten, etwas länger zu bleiben, beschloss Mrs. Winter, daß sie sich eine Wohnung suchten.

Sie streiften durch verschachtelte Gassen und Durchgänge, über Treppen und Höfe. Amalfi erschien ihnen als ein verwirrendes Labyrinth, in dem die Gesetze der Schwerkraft und der Perspektive durch eine vertrackte Architektur durcheinander geraten waren.

Schließlich standen sie vor einem Haus, das ihnen gefiel. Sie fragten nach dem Eigentümer, der sogleich herauskam.
Si, sagte der Padrone erfreut, es wäre eine Wohnung frei.
Sie waren sich bald einig. Man ließ das Gepäck aus dem Albergo kommen.

Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern mit einer kleinen Küche und einem Balkon, auf den Emma und Mrs. Winter hinaustraten.

Vor ihnen lag, tief blau und leuchtend, das Meer.

Von unten grüßten die schon vertrauten Majolikakuppeln einer Kirche herauf. Davor ragte ein Glockenturm empor.
Man sah ein Stück der gewundenen Uferstraße. Eine in Stein gehauene steile Treppe führte in die tiefer gelegenen Teile der Stadt.

Nachdem Emma und Mrs. Winter ihre Sachen ausgepackt und sich eingerichtet hatten, beschlossen sie, Zeichen- und Malutensilien zu kaufen. Sie hatten nicht den Ehrgeiz, Kunstwerke zu schaffen, aber sie wollten etwas Besonderes mitnehmen aus dieser eigenartigen Welt von Amalfi, etwas, was nur ihnen gehörte, keines der gewöhnlichen Souvenirs.

Von nun an waren sie während der kühleren Vormittagsstunden in den malerischen Gassen unterwegs auf der Suche nach Motiven. Am Nachmittag saßen sie dann auf dem Balkon und aquarellierten.

Der Balkon der Nachbarwohnung grenzte unmittelbar an den Ihren. Dort wohnte ein richtiger Maler, ein professioneller Künstler. Er war Holländer und hieß Cornelius. Emma wußte nicht, ob das sein Vor- oder Nachname war.

Dieser Cornelius war ein Sonderling. Er war groß, hager, blond und trug einen üppigen Bart. Seine intensiven, fast stechenden Augen lagen unmittelbar unter dichten Augenbrauen und einer gewölbten Stirn. Er war von verschlossenem Wesen und man konnte Angst vor ihm haben, wenn man ihn nicht kannte. Hatte man aber erst einmal seine Bekanntschaft gemacht und sein Vertrauen erlangt, erwies er sich als der sanfteste Mensch, den man sich vorstellen konnte.

Auch er schätzte Amalfi wegen des Reichtums an Motiven. Besonders von den verwinkelten und verschachtelten Durchgängen und Treppen zeichnete er Skizzen mit Kohle oder Pastellkreide. Danach fertigte er in seinem Studio Holzschnitte und Stiche an und machte davon Druckabzüge.

Vor das Fenster des Zimmers, das ihm als Studio diente, war in einigem Abstand eine Schnur als Wäscheleine gespannt. Daran hängte er Fäden mit Erdnüssen. Die Vögel versuchten zunächst, flatternd an diese Erdnüsse zu gelangen, aber das funktionierte nicht. Ihre einzige Möglichkeit, an das begehrte Futter zu kommen, war, sich mit dem Kopf nach unten an die Schnur zu hängen und nach den Erdnüssen zu picken. Freilich gab es auch Faule, die sich einfach eine Etage tiefer aufhielten und das aufpickten, was von oben herunterfiel.

Cornelius beobachtete interessiert die verkehrt herum hängenden Vögel und zeichnete sie sogar. Auf der Zeichnung sah man dann Vögel, die aufrecht standen und andere, bei denen die Schwerkraft scheinbar anders herum wirkte.

Was Cornelius am meisten beklagte, war das Unvermögen der Menschen, zu staunen.
Als Beispiel diente ihm der Mond. Die meisten sahen in ihm nur eine starke, aber unzuverlässige Lampe, die mal zunahm, mal abnahm und manchmal gar nicht leuchtete.
Dabei war der Mond eine schwere, kompakte Masse von enormer Größe. Er könnte das ganze Mittelmeer ausfüllen, und schwebte doch scheinbar gewichtlos da oben am Himmel.
Und niemand staunte darüber.

Das erzählte Cornelius Emma und Mrs. Winter später, als sie sich angefreundet hatten.

Cornelius war sehr scheu, und dennoch war er es, der den Kontakt zu ihnen herstellte. Er tat es auf seine Weise.

Eines Abends hörten Emma und Mrs. Winter eine eigenartige Musik. Sie traten hinaus und sahen Cornelius im Mondlicht auf seinem Balkon sitzen. Er spielte auf einer Zither, die er vor sich auf dem Schoß hatte.
Als der letzte Ton verklungen war, applaudierten sie und man machte sich miteinander bekannt.

Cornelius hatte kaum eigene Einkünfte, da er nur selten ein Bild oder einen Druck verkaufen konnte. Seine Eltern bestritten seinen Unterhalt.

Er war mit einem Frachtschiff, das auch Passagiere aufnahm, nach Italien gekommen. In seiner kalten und nassen Heimat hatte er es nicht mehr ausgehalten.
Er hatte der Schiffahrtsgesellschaft angeboten, ihn auf eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer mitzunehmen. Bezahlen wollte er mit Graphiken, die er während der Reise anfertigte.

Erstaunlicherweise war die Schiffahrtsgesellschaft auf sein Angebot eingegangen.

Als er in Spanien war, besuchte er die Alhambra. Ihn faszinierten die raffinierten filigranen Muster und er machte viele Studien, die er in späteren Bildern verwendete.

Einmal zeichnete er eine alte Festungsanlage. Ein spanischer Polizist beobachtete ihn dabei und brachte ihn als vermeintlichen Spion auf die Polizeiwache. Dort hielt man ihn fest. Im Hafen tutete der Dampfer, man wollte abfahren. Der Kapitän schickte einen Unterhändler. Schließlich ließen sie ihn laufen, aber die Zeichnungen behielten sie. Noch jetzt wurde Cornelius bei dem Gedanken böse.

Die Zither hatte Cornelius hier im Süden immer bei sich, sie war sein Medium, um mit den Menschen zu kommunizieren.
In den ländlichen Regionen Süditaliens begegneten man ihm zuweilen wegen seines Äußeren mit Mißtrauen. Insbesondere alte Frauen glaubten, er habe den „male occhia“, den bösen Blick, oder er wäre besessen.

An einem warmen Tag im Mai war er mit seiner Staffelei in einer sehr armen Gegend in Kalabrien unterwegs. Manche Dörfer dort hatten nicht einmal einen Brunnen und keinen Platz, um die Toten zu bestatten. Sie stapelten deshalb deren Gebeine in Höhlen oder Beinhäusern auf. Die Menschen aßen hartes Brot, das sie in Ziegenmilch aufweichten.

Gegen Abend kam Cornelius in ein Dorf, um dort die Nacht zu verbringen. Die Menschen starrten ihn feindselig an, manche schlugen das Kreuzzeichen und murmelten Verwünschungen.
In der Gastwirtschaft drehten ihm die Bauern den Rücken zu, die Frau des Wirts bediente ihn nur widerwillig. Cornelius war sich nicht sicher, ob man ihn nicht nachts im Schlaf erschlagen würde.

Da holte er die Zither aus dem Futteral und begann zu spielen. Langsam wandten ihm die Bauern ihre Gesichter zu. Als er geendet hatte, standen sie um ihn herum, lachten und spendeten Beifall. Sie klopften ihm auf die Schulter und traktierten ihn mit Wein. Er trank viel zu viel, was ihn den Bauern noch sympathischer machte. Am nächsten Tag schied er als guter Freund.

Ein andermal war er mit Freunden bei einem Weinbauern zu Gast. Sie verkosteten gründlich dessen Kellervorräte und als sie sich auf den Weg zur nächsten Bahnstation machten, waren sie in ausgelassener Stimmung.
Auf dem Bahnhof holte Cornelius seine Zither hervor und begann zu spielen. Bald war ein kleines Fest im Gange, die Wartenden und der Bahnhofsvorsteher tanzten. Weinflaschen kreisten, Brot, Käse und Hühnerkeulen wurden ausgepackt.
Schließlich fuhr der Zug ein. Aber niemand ließ sich dadurch stören. Die Fahrgäste stiegen aus und gesellten sich zu den Feiernden. Ebenso der Zugführer.
Erst viel später fuhr man in bester Stimmung weiter und der Zugführer ließ bei der Abfahrt lange die Signalpfeife ertönen.

Von den Zügen in Süditalien erwartete ohnehin niemand Pünktlichkeit.


Als Cornelius hörte, daß Emma und Mrs. Winter ebenfalls malten und zeichneten, äußerte er sich zustimmend.
Er verstand nicht, daß Menschen Bilder kauften oder in Galerien besichtigten. Warum malten sie nicht selber welche?

Emma wandte ein, daß es nicht allen Menschen gegeben sei, malen oder zeichnen zu können. Ihre eigenen Versuche, zum Beispiel, fand sie recht kläglich.

„Unsinn,“ sagte Cornelius über das Balkongeländer hinweg. „Jeder Mensch kann malen. Man muß dabei nur einige einfache Regeln beachten, dann ist es ganz leicht. Warten Sie einen Moment.“

Er verschwand in seinem Studio und kam sogleich mit einem großen Zeichenblock und einem Stück Zeichenkohle wieder.

„Malen ist Täuschung, weiter nichts,“ sagte er.

„Was vorne ist, ist groß.“ Er machte mit der Kohle einen senkrechten großen Strich in der linken Hälfte des Bildes.
„Und was weiter weg ist, ist klein.“ Er setzte einen kleineren senkrechten Strich weiter rechts.
„Sie müssen nur darauf achten, daß alles, was Sie malen, sich in die Fluchtlinien einpaßt, die von einem bestimmten Punkt ausgehen.“
Er setzte einen Punkt in die Mitte des oberen Viertels des Bildes. Dann zog er von diesem Punkt Linien zum Rand, in die sich die zwei senkrechten Striche einpaßten.

„Jetzt haben Sie schon eine Perspektive für Ihr Bild. Zeichnen Sie die vorderen Konturen etwas stärker,“ er verstärkte den „vorderen“ aufrechten Strich mit der Kohle, „die hinteren etwas schwächer,“ er verwischte den „hinteren“ mit dem Finger, „und schon haben Sie die beabsichtigte Täuschung.“

Tatsächlich war jetzt auf dem schlichten weißen Blatt der Eindruck räumlicher Tiefe entstanden.

„Das gleiche machen Sie mit den Schatten.“

Er zeichnete dem größeren Strich einen langen kräftigen, dem kleineren, „entfernten“ einen kürzeren Schatten, den er wieder mit dem Finger verwischte.

„Sie müssen natürlich darauf achten, wo Ihre Lichtquelle ist. Die Sonne zu Beispiel. Und daß die Schatten in die gleiche Richtung fallen.“

Er malte ein kleine Sonne in die linke obere Ecke des Bildes.

„Wenn Sie farbig arbeiten, können Sie auch warme Farben wie Braun oder Orange für den Vordergrund und kühle Farben, Blau oder Blaugrün, für den Hintergrund nehmen. Das verstärkt den Effekt.“

Emma hörte genau zu und merkte sich, was Cornelius sagte. Sie wandte es dann auf ihre eigenen Versuche an und konnte bald beachtliche Fortschritte feststellen. Cornelius hatte recht. Es war nicht schwer, Effekte zu erzielen, beinahe wie das Vorführen von Zauberkunststücken.

Bald wagte sie es, sich mit ihrer kleinen Staffelei auf die Piazza zu stellen und den Dom zu malen. Mit Aquarellfarben.
Neugierige traten zu ihr und schauten ihr über die Schulter. Niemand lachte über sie. Anerkennende Rufe ertönten.

„Bene. Che bello, questo quadro!“

„O, how nice. Isnt‘ t it wonderful?“

Mrs. Winter staunte nicht schlecht über Emmas ständig wachsende kleine Galerie. Sie selber hatte sich in weiser Selbstbeschränkung auf das Variieren einiger weniger Motive spezialisiert: Das Meer, Felsen, eine Pinie.

Einmal ging Emma mit Cornelius zusammen auf Motivsuche. Das geschah sehr selten, weil Cornelius eigenbrötlerisch und, was seine Kunst betraf, geradezu geheimniskrämerisch war.

Sie saßen nicht weit voneinander entfernt und Emma zeichnete mit dem Blick auf die Dächer von Amalfi. Sie glaubte, Cornelius täte das gleiche. Als sie einmal zu ihm hinüberschaute, bemerkte sie, daß eine große Heuschrecke auf seinem Zeichenblatt saß. Cornelius ließ sich dadurch nicht stören, sondern zeichnete ruhig weiter. Die Heuschrecke blieb sitzen bis sie aufbrachen.

Emma sah sich Cornelius‘ Blatt an. Er hatte ein detailgetreues Bild der Heuschrecke gezeichnet.

Noch am gleichen Tag begann er, nach der Zeichnung einen Holzschnitt anzufertigen. Er arbeitete sehr schnell, genau und konzentriert.

Einen Tag später machte er den ersten Abzug.

Cornelius hatte keine Druckerpresse. Mit einer Rolle färbte er den Druckstock mit Druckerfarbe ein.
Dann legte er das Papier darauf und mit Hilfe eines elfenbeinernen Löffels rieb er die Stellen des Papiers glatt, die auf dem Holz auflagen.

Dieses Verfahren war mühselig und zeitaufwendig. Aber die Drucke hatten eine Qualität, die mit Hilfe einer Druckerpresse nicht zu erreichen gewesen wäre. Außerdem blieben die Druckstöcke mit ihrem empfindlichen Holz länger erhalten.

Cornelius schenkte Emma einen Abzug von dem Bild mit der Heuschrecke.

„Als Dank, weil sie sie nicht verjagt haben,“ sagte er.


Jeden Abend saßen Emma und Mrs. Winter auf ihrem Balkon und blickten aufs Meer. Sie genossen den Anblick der zahlreichen Fischerboote, die mit Laternen am Bug als leuchtende Punkte die Wasserfläche bevölkerten.

Manchmal kam auch Cornelius auf seinen Balkon heraus und spielte einige Takte auf der Zither.
Dann unterhielten sie sich mit ihm. Sie sprachen fast ausschließlich über Malerei, denn an anderen Themen war Cornelius wenig interessiert.

„Was bedeutet Ihnen die Kunst?“ fragte ihn Emma einmal.

Er überlegte eine Weile, dann sagte er:

„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.

Vor langer Zeit lebte in China ein Maler. Er hatte in seiner Kunst die größte Vollkommenheit erreicht, die einem Menschen möglich ist.
Wenn er eine Blume malte, kamen Bienen und Schmetterlinge und setzten sich auf das Bild. Malte er eine schöne Frau, verliebten sich junge Männer in das Gemälde und begingen vor ihm Selbstmord.

Der Ruhm des Malers verbreitete sich und die Kunde von seiner Meisterschaft drang bis zum Kaiser.

Der befahl ihn zu sich. Als der Maler vor dem Kaiser erschien, sagte dieser zu ihm:

‚Ich habe von deiner großen Kunstfertigkeit die erstaunlichsten Dinge gehört. Vernimm nun, welche Aufgabe ich für dich habe.

Ich besitze viele ausgedehnte und schöne Gärten. Aber ich möchte einen Garten hier drinnen im Palast haben, an dem ich mich auch im Winter ergötzen kann. Male mir ein großes Bild von einem Garten, mit Teichen, verschlungenen Pfaden, anmutigen Hainen und zierlichen Pavillons. Sollte es stimmen, was man von dir erzählt und dein Werk Gefallen vor meinen Augen finden, will ich dich belohnen.‘

Der Maler wurde in einen Saal geführt in dem er ausreichend Farben und alles nötige Malgerät vorfand. Er machte sich sogleich ans Werk und begann, eine ganze Wand zu bemalen.

Als der Kaiser glaubte, daß ausreichend Zeit vergangen war, begab er sich mit seinen Ministern und den Hofbeamten zu dem Maler. Der hatte sein Werk gerade vollendet.

Der Maler hatte einen Garten gemalt, der an Schönheit alles übertraf, was der Kaiser und sein Gefolge jemals gesehen hatten.

Der Kaiser war entzückt, ja zu Tränen gerührt. Er sagte zu dem Maler:

‚Das ist das Schönste, was meine Augen jemals erblickt haben. Dem soll auch meine Belohnung entsprechen. Nenne mir einen Preis und ich will ihn noch überbieten, wenn es in meiner Macht steht.‘

Der Maler antwortete ihm:

‚Ich brauche keine Belohnung. Dieses Bild malen zu dürfen, war mir Belohnung genug.‘

Daraufhin verbeugte er sich vor dem Kaiser und dem Hofstaat, ging auf das Bild zu und in das Bild hinein.

Er ging einen von ihm selbst gemalten Gartenweg entlang, drehte sich noch einmal zu den versammelten Menschen um und winkte ihnen zu. Dann bog er um eine Biegung des Pfades und verschwand. Man hat ihn nie wieder gesehen.“

Cornelius schwieg einen Moment und sagte dann:

„Ich will diese elende Wirklichkeit hinter mir lassen. Sie erlaubt mir nicht, frei zu sein. Immer wieder zwingt sie mir ihr Gesetz auf. Bei jedem neuen Bild frage ich mich selber: Darf man das? Darf man so etwas machen? Ist das ernsthafte Arbeit?
Sehen Sie, meine Eltern lieben mich und ich liebe sie. Sie unterstützen mich und werden es immer tun. Aber sie werden niemals verstehen, was ich tue. Sie glauben, ich vertrödele mein Leben mit unnützen Dingen.“

„You are an excellent artist,“ sagte Mrs. Winter.

„Vielleicht, aber niemand will meine Bilder,“ sagte Cornelius. „Sie sind nicht schön, sie entsprechen nicht dem Zeitgeschmack.
Ich will auch gar keine schönen Bilder malen. Schönheit ist nichts Absolutes. Die Schönheitsideale verändern sich ständig. Bilder, die vor fünfzig Jahren höchste Preise erhielten verstauben heute in den Archiven.“

„Was wollen Sie denn schaffen, wenn es nicht Schönheit ist?“ fragte Emma.

„Ich will zeigen, daß es Welten gibt, die man bisher für unmöglich hielt, weil man zu dumm, zu träge und zu oberflächlich war. Man muß sich nur die Mühe machen, die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten zu finden.
Die Menschen sollen staunen, wenn sie meine Bilder sehen. Sie sollen das Staunen wieder erlernen. Sie sollen lernen, so fundamentale Begriffe wie oben und unten, links und rechts, Ursache und Wirkung in Frage zu stellen.“

„Ich will Ihnen etwas zeigen,“ sagte er nach einer Weile.

Er ging in sein Studio und kam mit einem großen Kristall wieder. Er war klar und durchsichtig mit einem Übergang ins Violette und funkelte. Einige Teile ragten wie Obelisken hervor, andere bildeten raffinierte Vielecke.

Er reichte ihn Emma über das Geländer des Balkons hinweg. Sie nahm ihn vorsichtig in ihre gewölbten Handflächen.

„Dieser Kristall existierte schon Millionen von Jahren bevor es Menschen auf der Erde gab,“ sagte Cornelius.

„Seine Formen sind von reiner, mathematisch exakter Vollkommenheit. Aus ihnen kann man alle existierenden Formen ableiten.“

Nachdem sie den Kristall bewundert hatten fuhr Cornelius fort:

„Es müßte möglich sein, ein Bild zu malen, das ganz wie ein Kristall aufgebaut ist. Es würde sich aus einer Vielzahl von Flächen zusammensetzen, die alle ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Perspektive haben. In einem solchen Bild könnte man umhergehen wie in einer Landschaft, in der unsere herkömmlichen Vorstellungen und Begriffe außer Kraft gesetzt sind.“


Nach diesem Abend bekamen sie Cornelius kaum noch zu Gesicht. Auch seine Zither war verstummt.
Gleichwohl war er anwesend. Er arbeitete intensiv.

Emma machte weiter Fortschritte. Sie malte jetzt in Öl. In einem Geschäft, dessen Kundschaft fast ausschließlich aus Ausländern bestand, vorwiegend Engländern und Amerikanern, kaufte sie Leinwände, die sie auf Keilrahmen spannte und grundierte. Darauf machte sie eine Kohleskizze, die sie mit in Terpentin aufgelöster brauner Farbe weiter ausführte und mit Schatten versah. Auf dieses Gerüst setzte sie dann schichtweise die Farbflächen, die später das Bild ausmachten.

Sie wandte dabei das an, was sie von Cornelius über die Grundlagen der perspektivischen Malerei gehört hatte, die dieser freilich „nichts als eine simple Täuschung“ nannte. Mit der Zeit machte sie beim Malen auch ihre eigenen Entdeckungen, fand Tricks und Kniffe, mit deren Hilfe sie Probleme der Darstellung überwinden konnte. Sie entwickelte, zunächst von ihr selbst unbemerkt, einen eigenen Stil.

War sie mit einem Bild fertig, ließ sie es auf dem Balkon trocknen und überzog es später mit durchsichtigem Firnis. Es roch jetzt bei ihnen wie in einem richtigen Atelier.

Sie bekam Angebote von Touristen, die ihre Bilder kaufen wollten.


Eines Abends erschien Cornelius wieder auf seinem Balkon und spielte die Zither. Er wirkte erschöpft, aber glücklich.

Emma und Mrs. Winter fragte ihn nach dem Stand seiner Arbeit.

Er ging in sein Studio und kam mit einem langen Bogen Papier wieder.

Es handelte sich um den Druckabzug eines Holzschnitts von ungewöhnlichem Format. Er hatte ihn unter Verwendung mehrerer Druckstöcke angefertigt.

Ganz rechts sah man die Figur eines Chinesen mit einem kegelförmigen Strohhut. Ging man auf dem Blatt nach links, teilte sich die Figur und löste sich in geometrische Formen auf, bis in der Mitte des Bildes drei würfelförmige Kristalle entstanden waren, die in Kuben übergingen. Diese Kuben verwandelten sich zum linken Bildrand hin in die würfelförmigen Häuser von Amalfi.

Da war das Haus, in dem sie wohnten, der Glockenturm, die Majolikakuppeln, die Uferstraße, der Felsen, der ins Meer abfiel.

„Sehen Sie,“ sagte Cornelius. „Alle Formen können ineinander übergehen. Die Kristallstruktur ist das Medium, das sie bei ihren Metamorphosen durchlaufen müssen. Auf diese Weise ist es möglich, zweidimensionale in dreidimensionale Formen zu verwandeln und umgekehrt. Das ist das Geheimnis des chinesischen Malers.
Damit ist das Grundproblem der Malerei gelöst. Die Perspektive und all diese Täuschungen waren dagegen nur Taschenspielertricks, armselige Scheinlösungen.“

„Was werden Sie nun machen?“ fragte Emma.

„Die Menschen zum Staunen bringen,“ antwortete Cornelius.


Eines Nachmittags trat Cornelius mit einem Gast auf den Balkon. Es war ein älterer chinesischer Herr in traditioneller Kleidung. Er trug ein bis auf den Boden reichendes schwarzes Seidengewand mit sehr weiten Ärmeln. Es war mit breiten farbigen Borten abgesetzt und mit einem ebensolchen Gürtel gerafft. Auf dem Kopf trug der Herr eine eigenartig geformte Kappe. Oberlippe und Kinn zierten feine Barthaare.

Sie gingen auf und ab und waren offenbar in Gedanken versunken. Obwohl sie kaum sprachen, schienen sie doch lebhaft zu kommunizieren, denn sie warfen sich immer wieder Blicke zu und lächelten vielsagend. Abends stellten sie einen Tisch mit einem Schachbrett auf den Balkon. Dort saßen sie sich lange still gegenüber, ins Spiel vertieft.

Seine Nachbarn, Emma und Mrs. Winter, schien Cornelius völlig vergessen zu haben. Nach ein paar Tagen beschlossen diese, die Initiative zu ergreifen.
Mrs. Winter lud Cornelius und seinen fernöstlichen Gast zum Tee ein. Five o’clock, if you please.

Cornelius nahm die Einladung an und erschien zur vereinbarten Zeit mit dem Chinesen. Sie nahmen im Wohnzimmer Platz und Emma schenkte den Tee ein.

Der Chinese behielt seine merkwürdige Kappe auf und lächelte fortwährend milde.
Er war offensichtlich ein alter Mann, aber etwas ging von ihm aus, das jeden Gedanken an Gebrechlichkeit abwegig erscheinen ließ. Eine ruhige, nach innen gekehrte Kraft.

Emma fragte, in welcher Sprache man sich mit dem Gast unterhalten könne. Cornelius sagte, er wolle vermitteln.

„Können Sie denn Chinesisch?“ fragte Emma.

Cornelius verneinte. Aber er könne sich dennoch mit dem Chinesen gut verständigen, intuitiv, anhand von Andeutungen in der Mimik und Gestik, durch Blicke und einzelne Worte. Eine Art Telepathie. Unter verwandten Seelen sei so etwas möglich.

Emma fragte, ob der Chinese wie Cornelius Maler sei.

Ja, aber nicht ausschließlich, antwortete Cornelius. Er sei vor allem ein bedeutender Kalligraph. In China sei die Kalligraphie die angesehenste Kunst und die Malerei ihr untergeordnet.
Außerdem sei Herr Tsching, so war sein Name, ein berühmter Dichter und Philosoph, was in China gewissermaßen Synonyme seien.

Er sei zudem Astrologe, Verfasser kanonischer Auslegungen religiöser Texte, Astronom, Mathematiker und ein genialer Baumeister.
Er beherrsche die Kriegskunst, die Rechtslehre, die Wirtschafts- und die Verwaltungswissenschaft.

„Dabei ist er kein Tausendsassa,“ sagte Cornelius. „Für ihn stellen alle diese Künste und Wissenschaften eine Einheit dar.“

Herr Tsching war lange Zeit Gouverneur seiner Geburtsprovinz Tschu im Süden Chinas gewesen.
Dann entsagte er den Freuden der Macht, der Tafel und des vielfachen Beischlafs und zog sich in einen Pavillon inmitten eines seiner Gärten zurück, um sich ausschließlich den Freuden des Geistes zu widmen und um sein Meisterwerk, ein Labyrinth, zu schaffen.

„Was für ein Labyrinth?“, fragte Emma. „Handelt es sich um eine Gartenanlage? Oder ist es ein Bauwerk?“

Cornelius wechselte mit Herrn Tsching lächelnd einen bedeutungsvollen Blick des Einverständnisses und gegenseitigen Verstehens.

„Es ist, so merkwürdig es für uns klingen mag, ein kalligraphisches Werk,“ sagte Cornelius. „Es vereinigt die bildnerische Kunst mit der des Wortes und ist insofern meinen eigenen Werken um zumindest eine Dimension überlegen. Schon Plato und Aristoteles wußten, daß der Name eines Wesens oder Gegenstandes in seinem Innern als unsichtbarer Kern verborgen liegt.
Aber nicht das Material oder die äußere Form des Werkes ist entscheidend, sondern seine geistige Dimension. Tschings Labyrinth zielt, ebenso wie meine Bilder, auf den spielerischen Umgang mit den Gesetzen des Raumes und der Perspektive, aber ebenso mit denen der Zeit.

Die Zeit ist in Tschings Labyrinth kein gleichmäßiger Fluß, dem alles in gleicher Weise unterworfen ist.
Vielmehr gibt es unendlich viele mögliche Zeitreihen und Zeitzyklen, die sich, theoretisch unendlich, verzweigen.
In Tschings Labyrinth kann man sich relativ frei in der Zeit bewegen. Es gibt Knotenpunkte, vergleichbar den Kristallen meiner Metamorphosen. Man könnte sie auch platonische Ideen nennen oder Idealkörper. Von dort aus kann man sich in jede Zeitebene projizieren.“

Übrigens war Herr Tsching anfangs sehr erstaunt, daß ausgerechnet ein westlicher Barbar wie Cornelius Zugang zu seinem subtilen System gefunden hatte.

„Ich denke, das Verständnis seiner Weisheit ist nur bedingt an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur gebunden,“ fuhr Cornelius fort. „Zwei Weise aus noch so entfernten Kulturen oder Zeiten verstehen einander besser als ihre Zeitgenossen und Nachbarn, ja ihre eigenen Verwandten.“

Herr Tsching lächelte und sagte mit heller, hoher Stimme etwas auf Chinesisch.

Cornelius verstand ihn offenbar.

„Der Weise betrachtet das Dunkle, für andere Verborgene und gibt ihm einen Namen. So ist er in der Lage darüber zu sprechen.
Doch das, worüber er sprechen kann, ist nur ein Bruchstück der Wahrheit. Über das Eigentliche kann man nicht sprechen. Darüber kann man nur schweigen.“

Cornelius lächelte wieder Herrn Tsching an und der lächelte zurück.

„Was ist ein Weiser?“ fragte Emma. „Worin unterscheidet er sich von anderen Menschen?“

„Ein Weiser,“ sagte Cornelius, „tut nichts Überflüssiges. So fördert er das Leben und stört die Dinge nicht bei ihrer Entfaltung. Reine Stille gibt der Welt das rechte Maß zurück. Der Weise belehrt ohne Worte.“

Mrs. Winter reichte Biskuits. Sie fragte, wie alt Mr. Tsching sei.

Wieder wechselten Cornelius und Herr Tsching lächelnd verschwörerische Blicke.

„Wer dahingeht, ohne zu vergehen, lebt ewig,“ sagte Cornelius. „Mit diesem Rätsel müssen wir fürs erste vorlieb nehmen.“

Cornelius erkundigte sich nach Emmas Malerei und lobte ihre Fortschritte. Er gab ihr noch einige praktische Ratschläge, die Emma später mit großem Nutzen anwendete.



Einige Tage darauf beschlossen Emma und Mrs. Winter einen Ausflug nach Ravello zu unternehmen, um dort im Garten der Villa Rufolo vor dem Ausblick auf den Golf von Salerno zu aquarellieren.
Sie nahmen ihre Malsachen unter den Arm und machten sich auf den Weg.

Gleich hinter dem Ortsausgang von Atrani führte die Straße hinauf nach Ravello, das auf einer Felsenspitze etwa 300 Meter über dem Meer liegt.

Sie kamen direkt zur Piazza, von der aus sie die Villa Rufolo durch einen von Zypressen umgebenen rechteckigen maurischen Turm betraten.

Sie gingen an Klingsors Schloß mit dem Zaubergarten vorbei.
Dann betraten sie die Gartenanlage der Villa, von der aus man einen freien Blick auf das Meer und den Golf hat.
Unter sich sahen sie die zwei Kuppeltürme einer kleinen Kirche und eine Pinie.
Sie stellten ihre Staffeleien auf und begannen zu malen.

Das Meer schien in der Ferne mit dem Himmel flimmernd zu verschmelzen. Die Luft war weich und warm. Eine heitere Ruhe schien alle Dinge und Lebewesen zu durchdringen.

Emma verstand jetzt, was Cornelius gemeint haben konnte, als er sagte:
Reine Stille gibt der Welt das rechte Maß zurück.

Als sie einmal den Blick seitwärts wandte, glaubte sie in der perlmuttartigen Luft Cornelius und den Chinesen zwischen den duftenden Pflanzen des Gartens wandeln zu sehen. Vielleicht waren sie ihnen gefolgt oder sie waren schon länger hier.
Beide schwiegen, denn über das Eigentliche kann man nicht reden. Dennoch schienen sie in ein tiefes, langes Gespräch versunken zu sein. Sie lächelten.


Bald darauf war Cornelius plötzlich abgereist. Er war über Nacht verschwunden.
Dem Hauswirt hinterließ er einen Brief, in dem er ihm schrieb, er könne die Wohnung nach Ablauf des Monats wieder vermieten.
Zur Begleichung seiner Schulden hinterließ er ihm mehrere Originaldrucke von hoher Qualität mit der Signatur des Künstlers.

Der Padrone, Signore Sammartino, war nicht sehr glücklich über den Handel. Nicht, daß er die Qualität der Drucke in Frage stellte. Aber sie gefielen ihm nicht, ja sie waren ihm geradezu unheimlich. Unter keinen Umständen wollte er sie in seinem Haus aufhängen und er glaubte auch nicht, daß er Käufer für die Blätter finden würde.

Emmas Bilder hingegen gefielen ihm und er hätte mit ihnen gern die Zimmer seines Hauses geschmückt.

Da machte Emma ihm einen Vorschlag. Sie bot ihm mehrere ihrer Bilder zum Tausch für die Drucke von Cornelius an.

Der Padrone war einverstanden. Er suchte mit Emma zusammen einige ihrer Bilder aus und ließ sie gleich zum Rahmen bringen.

Emma nahm die Mappe mit der Hinterlassenschaft ihres vormaligen Nachbarn und zog sich in einen Winkel zurück, um diese in Ruhe zu studieren.

Gleich auf dem ersten Blatt traf sie eine alte Bekannte wieder, die Heuschrecke. Jetzt war sie freilich um ein Vielfaches vergrößert und saß als ein greulicher Nachtmahr auf der Brust einer schlafenden Figur.

Auf weiteren Blättern erkannte sie Motive der verschachtelten Höfe und Durchgänge von Amalfi. Doch änderten sich innerhalb eines Bildes ständig die Perspektiven. Oben wurde zu unten, links zu rechts. Menschen gingen mit dem Kopf nach unten oder mit dem Fußboden an der Seite.

Besonders eigenartig war ein Vogel mit einem Menschenkopf, der in einer Mondlandschaft stand. Er wiederholte sich in verschiedenen Perspektiven, die zu verschiedenen Welten zu gehören schien, die jeweils ihrem eigenen Gravitationsgesetz folgten.

Auf dem nächsten Blatt waren Reptilien abgebildet, die aus den geometrischen Figuren einer Zeichnung hervorkamen, über auf dem Tisch liegende Gegenstände krochen und dann wieder in der Fläche des Skizzenblocks verschwanden.

Auf einem Druck, der aus mehreren aneinandergereihten Blättern bestand, verwandelten sich Bienen, die aus Waben schlüpften, in Vögel, die Vögel in Fische, diese wieder in Schiffe. Daraus entstanden schließlich Kuben, die zu den Häusern von Amalfi wurden. Das Ganze endete in einem Schachbrett mit Figuren. Dessen Quadrate gingen über in das Wort „Metamorphose“, das im Grau verschwamm. Die Schöpfung wurde zu einem Schachspiel, das sich am Ende mitsamt dem Schöpfer in Nichts auflöste.


Emma und Mrs. Winter verbrachten den ganzen Sommer und den frühen Herbst in Amalfi.
Emma entwickelte sich in dieser Zeit zu einer gefragten Malerin und konnte zahlreiche ihrer Bilder verkaufen, darunter etliche an ihren größten Bewunderer, den Padrone Signore Sammartino.
Wahrscheinlich schmücken ihre Bilder noch heute das Innere seines Hauses.

Als sie an einem milden Oktobertag abreisten, versprachen sie, im nächsten Jahr wiederzukommen. Der Padrone brachte sie mit seiner ganzen Familie noch bis zur Piazza, wo sie wieder in ein Automobil stiegen, das sie mit ihrem Gepäck nach Neapel brachte.

Dort bestiegen sie ein Schiff, das Kurs auf Alexandria nahm.
Dunkle Wolken lagen über dem Golf. Emma stand am Heck des Schiffes und beobachtete, wie Neapel hinter ihnen zurück blieb.
Den Vesuv sah sie noch lange dunkel dräuen mit seinem charakteristischen buckligen Doppelgipfel und dem Rauchwölkchen darüber. Möwen folgtem dem Schiff und stießen hin und wieder auf die Wasseroberfläche herab. Als wollten sie sich in Fische verwandeln.
 

Benedictus

Mitglied
M.C. Escher

Einfach super. Eine sehr gute Erzählung für einen sehr guten Künstler. Über fast alle Kunst lässt sich streiten. Escher bildet da eine Ausnahme. Seine Drucke fesseln einfach jeden Betrachter. Die philosophischen Gedanken, die in der Geschichte stecken sind gut, der Hintergrund in dem Escher auftritt ist gut, die Sprache auch, es ist nur etwas verwirrend, dass im ersten Teil Mrs. Winter, dann Cornelius und schließlich Emma im Mittelpunkt stehen. Versuche vielleicht einmal eine Sichtweise beizubehalten. Warum wird Mrs. Winter beim Nachnamen, Emma beim Vornamen genannt? Sonst super
Benedictus
 
Benedictus zu Hommage an M.C. Escher

Hallo Benedictus,
vielen Dank für Deine Kritik. Ich werde sie bei einer eventuellen Neufassung berücksichtigen. Ich habe schon geahnt, daß die Geschichte Schwachstellen haben muß, da sie eigentlich keine richtig eigenständige Geschichte ist. Sie war vielmehr Teil einer größeren Erzählung, in der eine junge Frau namens Emma Anfang der zwanziger Jahre Reisen unternimmt, zum Teil als Gesellschafterin, also Angstellte, einer Mrs. Winter. Auf diesen Reisen hat Emma Begegnungen mit merkwürdigen Personen, unter anderem z. B. mit Hans Castorp, der den 1. Weltkrieg, von seinem Lungenleiden gesundet, überlebt hat :)! Emma fungiert dabei mehr als ein Katalysator als eine ausgearbeitete Figur. Ich habe die Sache dann wieder beiseite gelegt, aber (exklusiv für die Leselupe!) dieses Kapitel als eigene Geschichte auszuführen versucht.
Nochmals Danke für die gute und hilfreiche Kritik.
Stefan Seifert
 

Benedictus

Mitglied
Hi Stefan,

kurz bevor ich deine Antwort gelesen habe, wurde mir klar, wie genial deine Geschichte ist. Deine Wandlung der Geschichte von einer Hauptperson zu anderen ist doch wie ein Bild von M. C. Escher, die sich ja auch verändern.
Daraus musst du unbedingt etwas großes machen.
dein Benedictus
 



 
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