Homophob, aber sonst gut erzogen

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Ich muss zum Bahnhof Friedrichstraße, ich werde die U-Bahn nehmen. Auf der Station unten läuft gerade ein Zug ein, schnell hinein! Aber da streitet ein Trio in der Tür, es sieht bedrohlich aus. Ein ganz Junger zetert, die beiden um die dreißig knurren - wenn sie nur nicht aufeinander einschlagen. Nein, der eine bleibt drinnen, die anderen verlassen die Bahn. Die beiden könnten Männer aus dem Süden oder Südosten sein, Migranten oder deren Söhne oder Touristen, was weiß ich. Jetzt aber in die U-Bahn!

Der Junge beugt sich an mir vorbei auf den Bahnsteig hinaus und schreit den Weggehenden hasserfüllt etwas nach: „Ihr Schwuchteln!“

„Du, hör mal“, sage ich so laut, dass die Umsitzenden es mitbekommen, „ich will das nicht hören. Ich bin selbst schwul und du hast mich auch beleidigt.“

„Sie haben in der Bahn geraucht, da haben wir gestritten“, sagt der Junge. Und dann: „Aber ich weiß, man sagt das nicht.“ Er kann Oberschüler sein, kurz vor dem Abitur, Kind deutscher Eltern, proper angezogen.

Er steigt schon eine Station weiter aus und an mir vorbeigehend entschuldigt er sich: „Tut mir leid.“ – „Ist schon in Ordnung.“ Ich frage mich danach, ob er tatsächlich bereut oder ob ihm nur die Bloßstellung peinlich war. Ehrlich gesagt, in seinem Affekt fand ich ihn überzeugender. Da war er ganz bei sich, nach dem treffendsten Schimpfwort suchend, dem, das am meisten verletzen muss, seinem Gefühl nach. Nachher gab er eher den Musterschüler, der schon weiß, was sich gehört.

Und die Umfragen? Sie glänzen mit ihren Ergebnissen, sprechen für Akzeptanz und Toleranz in hohem Grad. Ich misstraue ihnen. Da werden vermittelte Kenntnisse abgefragt und die erwarteten Antworten prompt geliefert, pflichtschuldig und fast mechanisch. Doch im gleichen Atemzug verschließen sich Herz und Hirn des Befragten – und öffnen sich wieder im Zorn.

Aber Sie werden doch nicht bestreiten, dass … Die Entwicklung der Gesellschaft ist weiter als … Wer’s glaubt.
 
A

Alberta

Gast
Lieber @Arno - Dein Text hat mich berührt und wirft Fragen auf:
Ist es nicht seltsam, dass sich Vorurteile, Ressentiments und ängstliche Abwehr über Generationen hinweg beinhart halten? Vielleicht sind wir zu "anspruchsvoll"? Vermutlich gibt es immer noch Zyniker, die sagen:" Sei doch froh, vor ...x Jahren hättest du dich im Zug in eine Ecke verkrochen und wärst froh gewesen, wenn sie dich nicht todgeprügelt hätten...!" Meine Güte: Je älter ich werde, um so mehr befremdet es mich, dass gegen Dummheit einfach kein Kraut gewachsen ist.
Nachdenklichen Gruß,
Alberta
 
Danke, Alberta, für deine Beschäftigung mit dem Text. Erfreulich für mich, wenn ich mich als Skeptiker nicht so ganz allein fühlen muss. Ich denke, dass blinder Fortschrittsglaube mehr schadet als nützt. Insofern hat der erst im August 2017 geschriebene Text ja eine Tendenz. Der Vorfall selbst liegt drei oder vier Jahre zurück.

Bei meinen Recherchen zum Thema habe ich einen interessanten Fund im Netz gemacht, den alten Zeit-Artikel "Wolken über dem Regenbogen" vom 1.4.11. Vorbemerkung: Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde in den Niederlanden 2001 eingeführt. Zehn Jahre später in Amsterdam folgende Situation, Hervorhebungen in den Zitaten durch mich:

Auch das gesellschaftliche Klima ist verändert. Belästigungen, Bedrohungen, selbst Misshandlung von Homosexuellen haben deutlich zugenommen. 2009 registrierte die Polizei 371 Fälle von Diskriminierung, 82 davon waren gewaltsame Übergriffe. 2008 lag die Quote bei 300 (54 gewaltsam). Der COC warnte schon 2007, die öffentliche Sicherheit von Lesben und Schwulen sei nicht mehr gewährleistet.

Für die COC-Vorsitzende Bergkamp hat die Welle von Homophobie ausgerechnet mit der Sichtbarkeit gleichgeschlechtlichen Alltags zu tun. Je offener und unbefangene Homosexualität in Amsterdam ausgelebt wurde, desto mehr Missbilligung und Aggression löste sie aus.


Darunter ein interessanter Kommentar aus Berlin (von Sequenzer):

Hier leider auch.
In Berlin gibt es seit Jahren diese Trends genau wie in Amsterdam.
Immer mehr Übergriffe ausf Schwule und Lesben.
Täter zu 98% Personen mit Hintergrund, die restlichen 2% verteilen sich auf Rechtsextreme, Stinos, Linksextreme.
Und die Schwulenverbände befassen sich zuerst mit Ehe, Adoptionsrecht, Steuerecht u.ä.
Bevor was dagegen getan wird, dauert es noch ein paar jahre. Man ist satt und zufrieden, seitdem es Verpartnerung in D. gibt.


Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
A

Alberta

Gast
[blue]Für die COC-Vorsitzende Bergkamp hat die Welle von Homophobie ausgerechnet mit der Sichtbarkeit gleichgeschlechtlichen Alltags zu tun. Je offener und unbefangene Homosexualität in Amsterdam ausgelebt wurde, desto mehr Missbilligung und Aggression löste sie aus.[/blue]


Lieber Arno@ - so absurd das auch klingen mag, aber genau diese Sichtbarkeit wird von Menschen mit Vorurteilen als "Provokation" empfunden - das ist bisher allen Diskriminierten so gegangen. Meine Hochachtung gilt allen, die mutig genug sind, sich "zu zeigen", Flagge zu zeigen.
Lieben Gruß,
Alberta
 

onivido

Mitglied
Homophobie. Gibt es eine Erklaerung dazu? Es muss etwas sein wie Rassismus. Eine unterschwellige Angst vor Menschen anderen Aussehens. Vielleicht gruselt es ihnen, wie vor einer Schlange oder einer Kuechenschabe. Da ich selbst kein Rassist bin, weiss ich nicht was Rassisten im Innersten wirklich denken oder fuehlen.
Die Homophobie kann ich auch nicht verstehen, kann aber nicht leugnen, dass es mir vor Homosexuellen etwas gruselt. Das Einzige was ich tun kann, ist mir nichts anmerken zu lassen und sie zu respektieren. Das ist wie bei dem Jungen in der Geschichte eine Sache des Anstands.
Auf gar keinen Fall kann ich verstehen, warum die Religionen sich herausnehmen Homosexuelle zu deskriminieren. Wenn sie wirklich Gott als den Schoepfer anerkennen, dann muessen sie alle seine menschlichen Geschoepfe respektieren und gleich behandeln
Interessantes Thema.
Beste Gruesse
Onivido
 
Danke, onivido, für deine Überlegungen und Anmerkungen, denen ich folgen kann. Ich denke, es wird da immer einen fundamentalen, biologisch begründeten Unterschied geben, mit der sich jede Generation neu arrangieren muss - und hoffentlich immer auf humane Weise.

Die "Ehe für alle" halte ich unter diesem Gesichtspunkt für eine fatale Fehlentwicklung, die sich noch rächen wird. Sie ist eben kein Anzeichen für Toleranz, sondern der zum Scheitern verurteilte Versuch, jene Differenz so klein wie möglich zu machen. Die Generation des von mir beschriebenen Jungen weist nach verschiedenen Umfragen seit ca. 2000 einerseits messbar größere Ressentiments als in der Generation davor auf, andererseits ist es diejenige Altersgruppe mit der höchsten Zustimmung zur Homo-Ehe. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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