Hora, die Wüstenfrau

Andrasch

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Hora, die Wüstenfrau


Langsam rieselte ihr der letzte Augenblick durch die Hände. Sie schloss für einen kurzen Moment ihre von Falten übersäten Augen. Dies hier war kein schöner Augenblick, aber ein wichtiger. Sie hörte das Ticken der einzigen Uhr im Raum. Eine große holzige Uhr, geschnitzt aus dem afrikanischen Lebensbaum, dem Baobab. Ihr dünner Zeiger ging unaufhaltsam voran und die alte Frau hörte darin wieder einmal den Herzschlag tausender Menschen, gebündelt zu einem einzigen, heißen Pochen, das sie nun in ihren Fingerspitzen fühlte. Sie schaute auf ihre narbigen Hände, auf denen jetzt nur noch ein paar letzte weiße Körner übrig geblieben waren. Dieser letzte Augenblick, er war etwas Besonderes, auch wenn er viel zu schnell durch ihre Finger glitt, aber daran hatte sie sich gewöhnt. Ihre Augen gingen die vielen Regale in ihrer Hütte entlang. Lange Reihen mit winzig, kleinen Gefäßen. Sanduhren.
Manche kupferfarben, silbern oder aus dem gleichen hellen, unvernarbten Holz, wie ihre große Schwester. Die meisten dieser Sanduhren waren mit bunten Edelsteinen besetzt. Feueropale, Mondsteine und Sternrubine leuchteten um die Wette und die Strahlen der Wüstensonne erweckten die dunkle Hütte zum Leben und ließen sie in den Farben des Regenbogens erstrahlen. Einige wenige Gefäße waren aus purem Gold. Es gab nur noch wenig Sand oberhalb dieser Uhren und sie schienen besonders wertvoll zu sein. Kostbare Gefäße, mit noch wertvollerem Inhalt, denn ihre Tage waren gezählt. Ein Wüstenräuber hätte sein Glück kaum fassen können, ob all dieser gelagerten Kostbarkeiten, doch niemand vermutete in ihrer einfachen Holzhütte all dies. Selbst wenn, es wäre dem Dieb, wie wohl den meisten Menschen nicht möglich gewesen den wirklichen Schatz zu erkennen, der sich hier verbarg. Es war der Sand, der durch diese Uhren lief. Weißer, feiner Sand. Wie ein fortwährender Strom suchte er sich unerbittlich seine Bahn. Dieser Sand war das kostbarste Gut, das es auf dieser Welt gab.

Hora, war die Hüterin all dieser Gefäße und sie nahm ihre Aufgabe sehr ernst. Niemand hätte vermutet, welche Kraft dieser Frau innewohnte, die jetzt schwerfällig aufstand. Es war die Kraft der Zeit, die sie beherrschte und nur derjenige, der jemals erlebt hatte, wie ein einziger Augenblick ein ganzes Leben verändern konnte, wusste, welche Macht sie barg. Ihr Rücken schmerzte und eine leichte Traurigkeit überfiel sie. Es viel ihr nicht leicht, die vergangen Augenblicke nun endgültig loszulassen, auch nach all den Jahren nicht. Sie hatte sie lieb gewonnen, jedes einzelne Sandkorn und die Zeit, die sie mit all den Menschen verbrachte. Ihr einziges Tor zur Welt.
Hora hatte über all die Jahre fast den Glauben an die Menschen verloren. Die meisten verbrauchten unzählige Sandkörner, bevor sie begriffen wie wertvoll jedes einzelne davon war. Dünen über Dünen stapelten sich ihre verlorenen Träume vor ihrer Türe. Die Wüste war voll davon und nur manchmal erhoben sie sich ein letztes Mal als flirrendes Bild einer Fata Morgana, unerreichbar für jeden, der es zurückholen wollte. Ja, sie hätte wirklich, fast den Glauben an die Menschen verloren, hätte es nicht immer wieder die ein oder andere gegeben, deren Herz groß genug war, dass Hora ihr diese Erkenntnis schenken konnte. Schwestern im Geiste, nannte sie sie im Stillen, denn es waren oft Frauen, denen sie auf ihre ganz besondere Art begegnete. Ihre Augenblicke hielt sie besonders gerne in ihren Händen – ganz wie eine Hebamme ihr neugeborenes Kind. Wenn der Ghibli, ein heißer, staubiger Wüstenwind, wie so oft in diesen Tagen an den Holzpanelen der Fenster riss, dann glaubte sie manchmal ihren ersten heißen Atemzug zu fühlen, der ihre Hände über die Jahre schwielig und rissig hatte werden lassen.
Hora schlurfte mit müden Schritten zur Tür. Ihr langer Rock zog eine Spur durch den weiß gefärbten Boden. Das helle Licht der Sonne blendete ihre Augen und sie musste sie kurz schließen, bevor sie mit einem Seufzen zu ihrem Lieblingsplatz am Brunnen ging. Die knorrigen Äste des Baobab spendeten ihr ein wenig Schatten. Langsam beugte sie sich nach vorne und trank einen Schluck warmes Wasser aus dem Eimer, dann tauchte sie ihre schmerzenden Hände in das Nass und wusch ihr Gesicht. Mit einem letzten Seufzen lehnte sie sich gegen die knorrige Rinde des Baums und schloss ihre Augen.


Irgendwo im fernen Deutschland saß Petra an ihrem Holztisch und sortiere einen Stapel Papiere. Kopfschüttelnd blickte sie auf den Wust vor sich. Rechnungen, nichts als Rechnungen. Sie hatte das Gefühl überhaupt keine andere Post mehr zu bekommen und der Briefträger, den sie früher oft im Sprung auf der Flurtreppe getroffen hatte, war längst schon nicht mehr der Überbringer guter Nachrichten, sondern zu einem stillen Feind geworden. Wenigstens war es jetzt ruhig in ihrer Wohnung. Die beiden Kleinen schliefen. Die Fertiglasagne stand unberührt und vertrocknet auf dem Herd. Ihre große Tochter bockte gewiss immer noch und lag abgeschnitten für die Worte ihrer Mutter, mit verstöpselten Ohren auf ihrem Bett. Genervt stieß Petra den unliebsamen Stapel über den Holztisch, was nicht mehr bewirkte, als dass auf der anderen Seite der Mathetest ihrer Tochter hinunterfiel. Fünf plus. Darüber hatte sie sich mit Rebecca den ganzen Abend gestritten. Als wäre es ein Weltuntergang, dass ihre Tochter, wie sie sagte, absolut keine Zeit mehr für die letzten Aufgaben von der blöden Lüttges-Lüdenscheid und somit auch keine Punkte bekommen hatte. Es gab wirklich Schlimmeres, dachte Petra nun mit ein bisschen Abstand. Viel Schlimmeres. Vor ein paar Wochen hätte sie auch noch die Kraft gehabt, tröstend den Arm um ihre Tochter zu legen. Vielleicht hätten sie sogar über den übertrieben Augenaufschlag von Frau Lüttges-Lüdenscheidt gelacht, den Rebecca so wunderbar nachmachen konnte. Vor ein paar Wochen war Helge auch noch da gewesen und hatte mit Rebecca geduldig Mathe geübt, wann immer sie Hilfe brauchte. Jetzt lebte er gerade mal ein paar Straßen weiter mit seiner neuen Freundin, die so verdammt hübsch war, dass Petra es selbst in ihrer größten Wut nicht hatte übersehen können. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Meine Güte, sie liebte ihn immer noch so sehr. Sie liebte seine geflüsterten Worte, die sie morgens so oft geweckt hatten, zärtliche, kosende Worte, perlend, wie flüssiges Gold. Ein endloser Strom, von dem sie nie geglaubt hatte, dass er jemals versiegen könnte. Doch diese Zeit war vorbei, bevor sie auch nur ansatzweise gemerkt hatte, dass sie endlich war. Petras Brust krampfte sich zusammen, wie so oft in letzter Zeit und sie spürte wieder diesen altbekannten Stich. Sie wusste, sie musste endlich ihre Tage etwas langsamer angehen, sie brauchte dringend Schlaf, doch das Leben war so verdammt schnell geworden. Seit Wochen hatte sie das Gefühl immer den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun und dennoch nicht anzukommen. So schnell sie auch rannte, sie kam einfach nicht an. Früher hätte sie sich Fertiggerichte und verpatzte Mathetests als Mutter verzeihen können, aber nun erkannte sie darin ihr Versagen auf ganzer Linie. Petra stieß die Luft aus ihren Lungen und bemerkte das Zittern in ihrem Atem. Nein, sie wollte jetzt nicht weinen. Wenn sie sich einer Sache sicher war, dann dass ihre Tränen Helge nicht zurück brachten. Und sie brachten sie auch nicht näher an ihre Tochter.

Rebecca war eingeschlafen und lag eingerollt in ihrer Decke. Ein Ohrstöpsel lag auf dem Kopfkissen, der andere hatte sich in ihrem langen Haaren verfangen. Petras Herz weitete sich vor Liebe, als sie Rebecca dort liegen sah. War sie nicht beschenkt mit diesem Kind, mit all ihren Kindern? Diese Liebe konnte ihr keiner nehmen. Vage fühlte sie Hoffnung in sich aufsteigen. Vielleicht würden sie es ja auch ohne Helge schaffen? Vielleicht würde dieser Schmerz irgendwann aufhören und nicht mehr sein als eine Erinnerung? Sie beugte sich über ihre Tochter und gab ihr einen Kuss. Für einen kurzen Moment glaubte sie ihren eigenen heißen Atem zu schmecken, der ihr von der kühlen Wange ihrer Tochter entgegenschlug. Sie spürte die Hitze nun am ganzen Körper. Irritiert schloss sie ihre Augen und mit einem Mal schoss ein roter Blitz durch die Dunkelheit, riss sie mit sich fort und es war, als würde sich ihr das gesamte Weltall offenbaren und blutrot auf sie niedersenken.


Am anderen Ende der Welt hielt Hora das kleine goldene Gefäß in ihren schwieligen Händen und betrachtete voller Liebe den funkelnden Sternrubin, in dem sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten. Mit Wehmut stellte sie es in das Regal zurück und ging mit schlurfenden Schritten in die Ecke ihrer Hütte, in der angelehnt der alte Reisigbesen stand. Es gab noch einiges an Arbeit zu tun. Bald würde es dunkel werden und sie würde sich beeilen müssen, wenn sie vor Einbruch der Nacht noch fertig werden wollte.
Sie hatte schließlich keine Zeit zu verlieren.
 



 
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