Hornapfel

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SiraB

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Hornapfel

Horst Hornapfel war Buchhalter. Seit fast zwanzig Jahren spielte sich sein Leben in einem Büro der stadtbekannten Weinholdwerke und einer nicht mehr nagelneuen Neubauwohnung am Stadtrand ab. Hornapfel war anspruchslos und zufrieden.
Dann, an einem lauen Spätsommerabend, gab ein unscheinbarer Zufall, Hornapfels Leben eine merkwürdige Wendung:
Ahnungslos hockte Hornapfel auf der harten Kante seines Bettes und fixierte den glänzenden Jogginganzug, der ihm gegenüber am Kleiderschrank hing. Aus dem linken Ärmel baumelte ein Schildchen: 50%. Ein Schnäppchen.
Hornapfel war kein sportlicher Typ, doch hasste er es, zu Hause in den unbequemen Büroklamotten herumzusitzen. Dummerweise war sein alter Trainingsanzug vorgestern in einem zu heißen Waschgang vollkommen aus der Form geraten. Also war Hornapfel nichts anderes übrig geblieben, als sich mal etwas Neues zu leisten.
Er erhob sich von der Bettkante, löste den Gürtel seiner Anzughose, streifte sie von seinen hageren Beinen und stieg in die neue Jogginghose. Dann befreite er sich von Krawatte und Hemd und zog die Sportjacke über. Vor dem großen Schrankspiegel drehte und wiegte er sich nun hin und her. Er war mit seinem Kauf zufrieden.
Gerade wollte er rüber ins Wohnzimmer, da spürte Hornapfel in der linken Jackentasche etwas Hartes. Er tastete ins Tascheninnere und zog ein Zellophantütchen hervor, in dem ein rundes Plastikteil und ein kleines Heftchen eingeschweißt waren. Neugierig riss er das Tütchen auf, nahm das Heftchen, blätterte und las:
„Werden Sie fit, tun sie etwas für ihre Gesundheit. 10.000 Schritte täglich, das sollte Ihr Minimum sein.“
Hornapfel stutzte. 10.000 Schritte pro Tag? Wer bitteschön soll denn Zeit und Lust haben seine Schritte zu zählen. Eine absurde Vorstellung. Man könnte ja auch seine Atemzüge, Kaubewegungen oder sonst was zählen und käme am Ende vor lauter Zählen zu gar nichts mehr. Die gesamte Weinholdsche Buchhaltung bliebe womöglich liegen. Nicht auszudenken.
Hornapfel las weiter: „Wenn sie weniger als 3000 Schritte am Tag tun gehören sie zu den Risikomenschen. Herz, Kreislauf, Krebs… Mit mangelnder Bewegung wächst das Risiko in jeder Hinsicht. Der Schrittzähler motiviert Menschen dazu, sich mehr zu bewegen und dadurch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken. Pro zusätzlichen 2.000 Schritten täglich kann das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse um 8 Prozent gesenkt werden.“
Hornapfel wurde von Unbehagen erfasst, denn ihm kam die letzte Routineuntersuchung bei Dr. Kurt, seinem Hausarzt, in den Sinn. „Bewegung, mein Lieber, Bewegung, die erspart Ihnen vieles“. Mit diesen Worten und einem kumpelhaften Schlag auf die Schulter hatte Dr. Kurt ihn vor zwei Wochen aus dem Behandlungszimmer verabschiedet. Muss der gerade sagen, hatte Hornapfel sich noch geärgert, denn Dr. Kurt, der ein recht dicker Mensch war, begann bei seinen Untersuchungen, wenn er das kühle Stethoskop auf Brust und Rücken seiner Patienten presste, selbst kurzatmig vor sich hin zu schnauben.
Vielleicht aber, dachte Hornapfel nun, vielleicht hatte der betagte Doktor, auch wenn er in Lebensführung längst kein Vorbild mehr war, trotzdem Recht.
In der Tat hatte Hornapfel seit einiger Zeit ein wenig zugelegt. Die Anzughosen drückten, stärker als sonst in die fleischigen Hüften. Und als er heute Nachmittag im Kaufhaus die defekten Rolltreppen hinauf zur Sportabteilung steigen musste, war er ganz und gar außer Puste geraten und in ein unangenehm heftiges Keuchen verfallen.
Hornapfel überflog die Anleitung, nahm das runde Plastikteil zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte den rechten blauen Knopf. Sogleich blinkte auf dem Display eine „0“. Er steckte das Teil am Bund seiner Jogginghose fest und ging zwischen Haustür und Wohnzimmer mehrmals auf und ab. Zweiundvierzig Schritte zählte er. „42“ blinkte es nun auch auf dem Display. Das Ding funktionierte tatsächlich.
Hornapfel rechnete: Angenommen er würde diesen kurzen Weg an einem normalen Wochentag zehn Mal zurücklegen, so kam er auf 420 Schritte. Rundet man großzügig auf legte er in seiner Wohnung am Tag wohl so um die 600 Schritte zurück. Der Weg zur Bushalltestelle betrug schätzungsweise 400 bis 500 Schritte. Im Büro saß er dann, abgesehen von dem mittäglichen Gang zur Kantine, fast den ganzen Tag auf seinem Drehstuhl fest. Machte gut gemeint knapp 2000 Schritte.
„Wenn sie weniger als 3000 Schritte zurücklegen gehören sie zu den Risikomenschen“ hallte es in Hornapfels Kopf nach und sein Unbehagen wandelte sich in heftiges Unwohlsein, ein Ziehen oder eher starkes Drücken direkt unter der Brust.
Hornapfel stand am Fenster und starrte verunsichert und besorgt in die Dämmerung. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, stellte den Schrittzähler wieder auf null und verließ die Wohnung. Anstatt wie üblich den Aufzug zu benutzen, stieg er das Treppenhaus hinab und ging dann strammen Schrittes zur Bushaltestelle am anderen Ende der Straße. Dort kontrollierte er: „406“ blinkte es auf dem Display. Hornapfel machte sich auf den Rückweg.
Abermals verkniff er sich den Fahrstuhl, doch schon auf dem ersten Treppenabsatz musste er schnaufend und mit hämmerndem Herzen innehalten. Nach kurzer Pause stieg Hornapfel, immer noch laut keuchend, weiter in den dritten Stock hinauf. „812“ meldete der Schrittzähler auf seiner Türschwelle. Er rechnete kurz nach und war beeindruckt, von der Präzision seiner Schritte. Hin und zurück exakt die gleiche Anzahl. Nur, es waren eindeutig zu wenige.
Als Hornapfel sich an diesem Abend im Bett hin und her wälzte und keine Ruhe fand, kreisten seine Gedanken unentwegt um die Sache mit den Schritten und der Gesundheit. Es war kurz nach Mitternacht als er entschied die Sache in Angriff zu nehmen: 10.000 Schritte sollten machbar sein.

Schließlich war es einfacher als gedacht: Auf dem Weg zu seiner Arbeit stieg er eine Haltestelle später in den Bus ein und eine früher aus, womit er auf einen Schlag auf fast 5000 Schritte kam. Plus die 600 in seiner Wohnung, fehlten noch 4400. Im Büro nahm er nun jede Gelegenheit wahr, um kleinere Gänge zu übernehmen oder einfach nur auf und ab zu schreiten, wodurch bei seinem mürrischen Bürogenossen Schulz, mit dem er jeden Tag das Büro teilte und nur wenige Worte wechselte, ein griesgrämisches Zucken um die Mundwinkel entstand. Den Gang zur Kantine begann Hornapfel zu meiden. Stattdessen kaute er bei einem mittäglichen Alleingang ums Weinholdsche Bürogebäude an einem selbst geschmierten Butterbrot. Das trug ihm ein Plus von immerhin 1556 Schritten und ein Sympathieminus bei seinen Kollegen ein. Die Schritte noch fehlenden Schritte erlief er nach getaner Arbeit auf ausgedehnten Abendspaziergängen.
Noch nicht Mal eine Woche später hatte Hornapfel sein angestrebtes Pensum, 10.000 Schritte täglich, geschafft und Feuer gefangen.
Tatsächlich, er fühlte sich besser. Das unangenehme Schnaufen und das besorgniserregende, drückende Gefühl im Herz-Brust Bereich wurde allmählich schwächer.
Hornapfel war entschlossen mehr herauszuholen.

Mittlerweile, fast zwei Monate waren seit besagtem Spätsommerabend verstrichen, stand Hornapfel jeden Morgen um fünf Uhr auf. Bevor er losmarschierte befestigte er stets den Schrittzähler gewissenhaft am Gürtel seiner Anzughose. Draußen war es meist noch dunkel. Er verzichtete inzwischen ganz auf den Bus, was ihm einen Gewinn von mehr als 7000 Schritten einbrachte. 3000 brauchte er noch um die 20.000 vollzukriegen. Das Laub wehte durch die Straßen und die Tage wurden kürzer.
Hornapfel legte seine Wege stets strammen Schrittes zurück. Für Schlendereien oder Flaneurallüren hatte er weder Sinn noch Zeit. Schließlich musste er pünktlich sein, die Buchhaltung bei Weinhold war eine nicht zu unterschätzende Angelegenheit.
Doch trotz zielstrebigen Schritten und buchhalterischem Pflichtbewusstsein ließ Hornapfel sich, getrieben von einem ausufernden Schritt-Ehrgeiz, mehr und mehr zu Umwegen verleiten. Irgendwann begann er zu spät zur Arbeit zu kommen.
Die ersten Male kümmerte das niemanden, doch nach einiger Zeit zog Scholz, der mürrische Kollege, seine buschigen Augenbrauen immer bedrohlicher zusammen.
Eine Woche später wurde Hornapfel in das Büro seines Vorgesetzten zitiert.
Der Vorgesetzte, ein fülliger, großer Mann, thronte hinter einem blanken Schreibtisch. Während er Hornapfel aufforderte sich zu setzten, kullerte ein schwarzer Füller zwischen seinen dicken Händen hin und her. Er räusperte sich und begann:
Äähh… man schätze ihn, Hornapfel, als langen, äußerst zuverlässigen Mitarbeiter. Aber leider sei er, ääh seit einiger Zeit durch mehrmalige Unpünktlichkeit aufgefallen, wobei es sich, ääh, wohlgemerkt nicht nur um wenige Minuten, sondern manchmal auch um mehr als eine Stunde gehandelt habe. Ääh dies sei, auch von daher inakzeptabel, da Hornapfel weiterhin pünktlich um 16.00 Uhr das Büro verlasse.
Hornapfel fixierte die Tischkante. Es strengte ihn an, den Worten seines Gegenübers zu folgen. Er hatte nie zuvor bemerkt wie zerhackt und unbeholfen sein Vorgesetzter sprach. Auf dem aufgedunsenen Gesicht glitzerten winzige Schweißperlen. In Hornapfel regte sich ein Anflug von Mitleid.
Des Weiteren, ääh, habe Kollege Scholz sich über zunehmende Unruhe, das heißt ein ständiges Auf- und Abgehen Hornapfels im Büro beklagt. Sollte er Probleme, ääh, irgendwelcher Art haben, ließe sich darüber reden, ääh, und sicher eine Lösung finden.
Wie viele Schritte, dachte Hornapfel, wie viele Schritte mag dieser fette Mensch pro Tag zurücklegen? Gewiss zählte auch er zu den Risikomenschen. Der Vorgesetzte klammerte seine kurzen, wurstigen Finger ineinander und ließ sie auf und ab wippen. Hornapfel hätte gerne etwas zu seiner Verteidigung gesagt. Ihm fiel nichts ein. Sein Mund war trocken und verklebt. Da erhob sich der Vorgesetzte unerwartet, wischte mit einem verknüllten Stofftaschentuch über sein rotes Gesicht und reichte Hornapfel versöhnlich die Hand. Sie war feucht, schlaff und kalt.

Nach diesem Stelldichein kehrte Hornapfel nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte das Gefühl zu viele Jahre auf dem Drehstuhl über Zahlenkolonnen und Büchern gesessen zu haben. In dem langen, stickigen Flur fühlte er sich auf einmal seltsam und fremd. Suchend fingerte er an seinem Gürtel, der Zähler saß korrekt. Als er das Gebäude durch die gläserne Drehtür verließ, schlug ihm die beißende Kälte des Winters entgegen. Ein Martinshorn näherte sich. Es roch nach Schnee. Hornapfel dachte nur an eines: 30.000 Schritte am Tag, das würde sein nächstes Ziel sein. Später vielleicht sogar 40.000 oder mehr. Hornapfel ahnte, dass sich das mit der Buchhaltung nur schwer vereinbaren lassen würde.
Die Krankenwagensirene verstummte. Hornapfel schaute noch einmal zurück. Vor dem Haupteingang rotierten die Blaulichter. Er atmete tief durch. Seine Schritte wurden schneller.

Am nächsten Morgen, als Hornapfel sein Tagesprogramm mit einem Spaziergang begann, sprangen ihm in den Kästen der Boulevardpresse fette Schlagzeilen ins Auge:
„Tod am Schreibtisch. Abteilungsleiter der Weinholdwerke im Büro zusammengebrochen.“
Hornapfel zuckte zusammen und seine Beine legten einen Gang zu.
 

Wipfel

Mitglied
Hi Sira,

du beschreibst das versuchte Ausbrechen eines Angestellten aus seinem Alltag. Ich finde, das gelingt dir gut. Auch wenn es viele solcher Texte gibt.

einer nicht mehr nagelneuen [strike]Neubau[/strike][blue]W[/blue]ohnung
Grüße von wipfel
 

SiraB

Mitglied
Hallo Wipfel,

feut mich, dass dir die Geschichte vom Hornapfel gefallen hat. Die Neubauwohnung korrigiere ich.
Danke
SiraB
 

SiraB

Mitglied
Hornapfel

Horst Hornapfel war Buchhalter. Seit fast zwanzig Jahren spielte sich sein Leben in einem Büro der stadtbekannten Weinholdwerke und einer nicht mehr nagelneuen Wohnung am Stadtrand ab. Hornapfel war anspruchslos und zufrieden.
Dann, an einem lauen Spätsommerabend, gab ein unscheinbarer Zufall, Hornapfels Leben eine merkwürdige Wendung:
Ahnungslos hockte Hornapfel auf der harten Kante seines Bettes und fixierte den glänzenden Jogginganzug, der ihm gegenüber am Kleiderschrank hing. Aus dem linken Ärmel baumelte ein Schildchen: 50%. Ein Schnäppchen.
Hornapfel war kein sportlicher Typ, doch hasste er es, zu Hause in den unbequemen Büroklamotten herumzusitzen. Dummerweise war sein alter Trainingsanzug vorgestern in einem zu heißen Waschgang vollkommen aus der Form geraten. Also war Hornapfel nichts anderes übrig geblieben, als sich mal etwas Neues zu leisten.
Er erhob sich von der Bettkante, löste den Gürtel seiner Anzughose, streifte sie von seinen hageren Beinen und stieg in die neue Jogginghose. Dann befreite er sich von Krawatte und Hemd und zog die Sportjacke über. Vor dem großen Schrankspiegel drehte und wiegte er sich nun hin und her. Er war mit seinem Kauf zufrieden.
Gerade wollte er rüber ins Wohnzimmer, da spürte Hornapfel in der linken Jackentasche etwas Hartes. Er tastete ins Tascheninnere und zog ein Zellophantütchen hervor, in dem ein rundes Plastikteil und ein kleines Heftchen eingeschweißt waren. Neugierig riss er das Tütchen auf, nahm das Heftchen, blätterte und las:
„Werden Sie fit, tun sie etwas für ihre Gesundheit. 10.000 Schritte täglich, das sollte Ihr Minimum sein.“
Hornapfel stutzte. 10.000 Schritte pro Tag? Wer bitteschön soll denn Zeit und Lust haben seine Schritte zu zählen. Eine absurde Vorstellung. Man könnte ja auch seine Atemzüge, Kaubewegungen oder sonst was zählen und käme am Ende vor lauter Zählen zu gar nichts mehr. Die gesamte Weinholdsche Buchhaltung bliebe womöglich liegen. Nicht auszudenken.
Hornapfel las weiter: „Wenn sie weniger als 3000 Schritte am Tag tun gehören sie zu den Risikomenschen. Herz, Kreislauf, Krebs… Mit mangelnder Bewegung wächst das Risiko in jeder Hinsicht. Der Schrittzähler motiviert Menschen dazu, sich mehr zu bewegen und dadurch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken. Pro zusätzlichen 2.000 Schritten täglich kann das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse um 8 Prozent gesenkt werden.“
Hornapfel wurde von Unbehagen erfasst, denn ihm kam die letzte Routineuntersuchung bei Dr. Kurt, seinem Hausarzt, in den Sinn. „Bewegung, mein Lieber, Bewegung, die erspart Ihnen vieles“. Mit diesen Worten und einem kumpelhaften Schlag auf die Schulter hatte Dr. Kurt ihn vor zwei Wochen aus dem Behandlungszimmer verabschiedet. Muss der gerade sagen, hatte Hornapfel sich noch geärgert, denn Dr. Kurt, der ein recht dicker Mensch war, begann bei seinen Untersuchungen, wenn er das kühle Stethoskop auf Brust und Rücken seiner Patienten presste, selbst kurzatmig vor sich hin zu schnauben.
Vielleicht aber, dachte Hornapfel nun, vielleicht hatte der betagte Doktor, auch wenn er in Lebensführung längst kein Vorbild mehr war, trotzdem Recht.
In der Tat hatte Hornapfel seit einiger Zeit ein wenig zugelegt. Die Anzughosen drückten, stärker als sonst in die fleischigen Hüften. Und als er heute Nachmittag im Kaufhaus die defekten Rolltreppen hinauf zur Sportabteilung steigen musste, war er ganz und gar außer Puste geraten und in ein unangenehm heftiges Keuchen verfallen.
Hornapfel überflog die Anleitung, nahm das runde Plastikteil zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte den rechten blauen Knopf. Sogleich blinkte auf dem Display eine „0“. Er steckte das Teil am Bund seiner Jogginghose fest und ging zwischen Haustür und Wohnzimmer mehrmals auf und ab. Zweiundvierzig Schritte zählte er. „42“ blinkte es nun auch auf dem Display. Das Ding funktionierte tatsächlich.
Hornapfel rechnete: Angenommen er würde diesen kurzen Weg an einem normalen Wochentag zehn Mal zurücklegen, so kam er auf 420 Schritte. Rundet man großzügig auf legte er in seiner Wohnung am Tag wohl so um die 600 Schritte zurück. Der Weg zur Bushalltestelle betrug schätzungsweise 400 bis 500 Schritte. Im Büro saß er dann, abgesehen von dem mittäglichen Gang zur Kantine, fast den ganzen Tag auf seinem Drehstuhl fest. Machte gut gemeint knapp 2000 Schritte.
„Wenn sie weniger als 3000 Schritte zurücklegen gehören sie zu den Risikomenschen“ hallte es in Hornapfels Kopf nach und sein Unbehagen wandelte sich in heftiges Unwohlsein, ein Ziehen oder eher starkes Drücken direkt unter der Brust.
Hornapfel stand am Fenster und starrte verunsichert und besorgt in die Dämmerung. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, stellte den Schrittzähler wieder auf null und verließ die Wohnung. Anstatt wie üblich den Aufzug zu benutzen, stieg er das Treppenhaus hinab und ging dann strammen Schrittes zur Bushaltestelle am anderen Ende der Straße. Dort kontrollierte er: „406“ blinkte es auf dem Display. Hornapfel machte sich auf den Rückweg.
Abermals verkniff er sich den Fahrstuhl, doch schon auf dem ersten Treppenabsatz musste er schnaufend und mit hämmerndem Herzen innehalten. Nach kurzer Pause stieg Hornapfel, immer noch laut keuchend, weiter in den dritten Stock hinauf. „812“ meldete der Schrittzähler auf seiner Türschwelle. Er rechnete kurz nach und war beeindruckt, von der Präzision seiner Schritte. Hin und zurück exakt die gleiche Anzahl. Nur, es waren eindeutig zu wenige.
Als Hornapfel sich an diesem Abend im Bett hin und her wälzte und keine Ruhe fand, kreisten seine Gedanken unentwegt um die Sache mit den Schritten und der Gesundheit. Es war kurz nach Mitternacht als er entschied die Sache in Angriff zu nehmen: 10.000 Schritte sollten machbar sein.

Schließlich war es einfacher als gedacht: Auf dem Weg zu seiner Arbeit stieg er eine Haltestelle später in den Bus ein und eine früher aus, womit er auf einen Schlag auf fast 5000 Schritte kam. Plus die 600 in seiner Wohnung, fehlten noch 4400. Im Büro nahm er nun jede Gelegenheit wahr, um kleinere Gänge zu übernehmen oder einfach nur auf und ab zu schreiten, wodurch bei seinem mürrischen Bürogenossen Schulz, mit dem er jeden Tag das Büro teilte und nur wenige Worte wechselte, ein griesgrämisches Zucken um die Mundwinkel entstand. Den Gang zur Kantine begann Hornapfel zu meiden. Stattdessen kaute er bei einem mittäglichen Alleingang ums Weinholdsche Bürogebäude an einem selbst geschmierten Butterbrot. Das trug ihm ein Plus von immerhin 1556 Schritten und ein Sympathieminus bei seinen Kollegen ein. Die Schritte noch fehlenden Schritte erlief er nach getaner Arbeit auf ausgedehnten Abendspaziergängen.
Noch nicht Mal eine Woche später hatte Hornapfel sein angestrebtes Pensum, 10.000 Schritte täglich, geschafft und Feuer gefangen.
Tatsächlich, er fühlte sich besser. Das unangenehme Schnaufen und das besorgniserregende, drückende Gefühl im Herz-Brust Bereich wurde allmählich schwächer.
Hornapfel war entschlossen mehr herauszuholen.

Mittlerweile, fast zwei Monate waren seit besagtem Spätsommerabend verstrichen, stand Hornapfel jeden Morgen um fünf Uhr auf. Bevor er losmarschierte befestigte er stets den Schrittzähler gewissenhaft am Gürtel seiner Anzughose. Draußen war es meist noch dunkel. Er verzichtete inzwischen ganz auf den Bus, was ihm einen Gewinn von mehr als 7000 Schritten einbrachte. 3000 brauchte er noch um die 20.000 vollzukriegen. Das Laub wehte durch die Straßen und die Tage wurden kürzer.
Hornapfel legte seine Wege stets strammen Schrittes zurück. Für Schlendereien oder Flaneurallüren hatte er weder Sinn noch Zeit. Schließlich musste er pünktlich sein, die Buchhaltung bei Weinhold war eine nicht zu unterschätzende Angelegenheit.
Doch trotz zielstrebigen Schritten und buchhalterischem Pflichtbewusstsein ließ Hornapfel sich, getrieben von einem ausufernden Schritt-Ehrgeiz, mehr und mehr zu Umwegen verleiten. Irgendwann begann er zu spät zur Arbeit zu kommen.
Die ersten Male kümmerte das niemanden, doch nach einiger Zeit zog Scholz, der mürrische Kollege, seine buschigen Augenbrauen immer bedrohlicher zusammen.
Eine Woche später wurde Hornapfel in das Büro seines Vorgesetzten zitiert.
Der Vorgesetzte, ein fülliger, großer Mann, thronte hinter einem blanken Schreibtisch. Während er Hornapfel aufforderte sich zu setzten, kullerte ein schwarzer Füller zwischen seinen dicken Händen hin und her. Er räusperte sich und begann:
Äähh… man schätze ihn, Hornapfel, als langen, äußerst zuverlässigen Mitarbeiter. Aber leider sei er, ääh seit einiger Zeit durch mehrmalige Unpünktlichkeit aufgefallen, wobei es sich, ääh, wohlgemerkt nicht nur um wenige Minuten, sondern manchmal auch um mehr als eine Stunde gehandelt habe. Ääh dies sei, auch von daher inakzeptabel, da Hornapfel weiterhin pünktlich um 16.00 Uhr das Büro verlasse.
Hornapfel fixierte die Tischkante. Es strengte ihn an, den Worten seines Gegenübers zu folgen. Er hatte nie zuvor bemerkt wie zerhackt und unbeholfen sein Vorgesetzter sprach. Auf dem aufgedunsenen Gesicht glitzerten winzige Schweißperlen. In Hornapfel regte sich ein Anflug von Mitleid.
Des Weiteren, ääh, habe Kollege Scholz sich über zunehmende Unruhe, das heißt ein ständiges Auf- und Abgehen Hornapfels im Büro beklagt. Sollte er Probleme, ääh, irgendwelcher Art haben, ließe sich darüber reden, ääh, und sicher eine Lösung finden.
Wie viele Schritte, dachte Hornapfel, wie viele Schritte mag dieser fette Mensch pro Tag zurücklegen? Gewiss zählte auch er zu den Risikomenschen. Der Vorgesetzte klammerte seine kurzen, wurstigen Finger ineinander und ließ sie auf und ab wippen. Hornapfel hätte gerne etwas zu seiner Verteidigung gesagt. Ihm fiel nichts ein. Sein Mund war trocken und verklebt. Da erhob sich der Vorgesetzte unerwartet, wischte mit einem verknüllten Stofftaschentuch über sein rotes Gesicht und reichte Hornapfel versöhnlich die Hand. Sie war feucht, schlaff und kalt.

Nach diesem Stelldichein kehrte Hornapfel nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte das Gefühl zu viele Jahre auf dem Drehstuhl über Zahlenkolonnen und Büchern gesessen zu haben. In dem langen, stickigen Flur fühlte er sich auf einmal seltsam und fremd. Suchend fingerte er an seinem Gürtel, der Zähler saß korrekt. Als er das Gebäude durch die gläserne Drehtür verließ, schlug ihm die beißende Kälte des Winters entgegen. Ein Martinshorn näherte sich. Es roch nach Schnee. Hornapfel dachte nur an eines: 30.000 Schritte am Tag, das würde sein nächstes Ziel sein. Später vielleicht sogar 40.000 oder mehr. Hornapfel ahnte, dass sich das mit der Buchhaltung nur schwer vereinbaren lassen würde.
Die Krankenwagensirene verstummte. Hornapfel schaute noch einmal zurück. Vor dem Haupteingang rotierten die Blaulichter. Er atmete tief durch. Seine Schritte wurden schneller.

Am nächsten Morgen, als Hornapfel sein Tagesprogramm mit einem Spaziergang begann, sprangen ihm in den Kästen der Boulevardpresse fette Schlagzeilen ins Auge:
„Tod am Schreibtisch. Abteilungsleiter der Weinholdwerke im Büro zusammengebrochen.“
Hornapfel zuckte zusammen und seine Beine legten einen Gang zu.
 

Vagant

Mitglied
Hallo Sira, gern gelesen.
ein wenig störten mich die vielen adjektive und der umstand, dass alles einen namen hat: horst hornapfel, kollege scholz, weinholdwerke, etc.
aber das ist eine geschmacksfrage (ich denke, für solche spirenzchen hat eine kurzgeschichte einfach keine zeit ;-).
vagant.
 



 
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