Hotel Post

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Der neue Gast betritt das Hotel durch den Caféeingang. Vom Personal ist nur eine junge Serviererin da, die an einem entfernten Tisch kassiert. Er wartet am Tresen, bis sie zu ihm kommt. Ob er ein Einzelzimmer für zwei Nächte haben kann? Sie verstaut zunächst die pralle Geldtasche in der Servierschürze und sagt dann mit ausdrucksloser Stimme, er solle mitkommen, sie werde ihn zur Rezeption bringen. Wie üblich geht es dahin durch viele Nebenräume, mit einzelnen Gästen, mit geschlossenen Gesellschaften, durch ganz verlassene Räume, über kurze und lange Flure, um Ecken herum, Stufen hinauf und hinab, durch Pendeltüren und solche, die ruckartig hinter einem zufallen. Erstaunlich, wie viel Innenleben so ein alter Landgasthof besitzt. Sie geht, trotz des engen schwarzen Rocks, rasch vor ihm her. In dunklen Ecken signalisiert ihm ihre weiße Schürze, wo es langgeht. Seine Aufmerksamkeit ist stark gefordert.
Endlich stehen sie in einem kleinen Kabuff mit Tür nach draußen. Das ist der Hoteleingang, hier hätte er hineingehen sollen.
„Gustl, haben wir ein Einzelzimmer für den Herrn?“ Der Angesprochene, ein hübscher Schwarzhaariger, sicher noch keine zwanzig, erhebt sich eilfertig. Dann steht er schief hinter dem Tresen und sieht Gast wie Kollegin treuherzig an.
„Schau halt im Buch nach!“ fordert sie ihn auf. – „Schau ich im Buch nach …“ Er nimmt den abgewetzten schwarzen Folianten und beginnt, unsystematisch zu blättern. Die Kollegin findet schließlich heraus, dass die Siebzehn frei ist.
„Und jetzt, Gustl, der Meldezettel!“ – „Mein Herr, darf ich bitten …“
Der Gast füllt den Bogen mit raschen Zügen aus. Gustl sieht ihm dabei argwöhnisch zu und fragt, als der Gast genialisch unterzeichnet hat: „Muss ich auch unterschreiben?“ – „Aber geh’, Gustl! Führ den Herrn jetzt aufs Zimmer.“
„Würden Sie mir bitte folgen?“ Er lacht gleich hinterher, es scheint ihm wohl seltsam, dass einer sich ihm anvertrauen solle. Richtig, als beide die Treppe zum Oberstock hinaufgehen, verfehlt er die vorletzte Stufe und schlägt der Länge nach hin. Der Koffer des Gastes wird dabei einige Meter weit auf den Dielenboden des sich anschließenden Flures geschleudert.
„Jo, die Stuf do!“ schimpft er - er muss sie schon länger kennen. Der Gast bemerkt außerdem, dass er den weichen Akzent des Unterlandes hat.
„Haben Sie sich verletzt?“ Er hat sich nichts getan, auch der Koffer ist unbeschädigt. Sie finden das Zimmer am Ende des breiten Flures.
„Es ist ein Doppelzimmer. Unsere Einzelzimmer sind alle belegt. Das andere Bett bleibt dann halt frei. Aber wo ist jetzt die Dusche?“ Sie stecken gemeinsam jeder seinen Kopf durch die seitliche Tür in den Baderaum und ziehen ihn dann rasch wieder zurück. Gustl zuckt noch verlegen mit den Schultern und empfiehlt sich mit unartikuliertem Brummen.
Der Gast tritt an eines der beiden Fenster. Zum Glück liegt das Zimmer nach hinten, nicht zur lauten Dorfstraße. Man sieht keine anderen Häuser mehr, und hinter dem Garten beginnen schon die Wiesen. Und da ist es, das Ochsenhorn, das er morgen besteigen will. Er denkt: Auf der Abbildung im Buch sah es anders aus, gewaltiger. Der Berg interessiert ihn auf einmal nicht mehr. Er beschließt auszupacken, doch gegen seine Gewohnheit lässt er sich stattdessen auf einem Sessel nieder. Er sieht auf die Betten: In welchem will ich schlafen? Hier, wo es so ruhig ist, einmal am Fenster.
Dann muss er an Gustl denken – unmöglich, der Junge. So unbeholfen, so tollpatschig. Ein Praktikant oder eine Aushilfe? Der Gast, der auf Reisen abends gern ein wenig psychologisiert, würde ihn sich gern erklären. Da scheint einer ständig ausdrücken zu wollen: Helft mir, unterstützt mich, damit ich euch nützlich sein kann. Rührend und komisch ist so etwas, und er scheint sich dessen gar nicht bewusst. Eben, sagt der Gast halblaut zu sich selbst, ein unbewusster Reiz und daher so stark.
Dann packt er doch aus. Später entdeckt er eine direkte Verbindung seines Flures mit dem Speisesaal und kommt also an diesem Abend nicht mehr an der Rezeption vorbei. Im Saal ist er der Erste zum Abendessen. Als serviert wird, es war nicht die Kellnerin aus dem Café, bietet man ihm an, den Fernsehapparat für ihn einzuschalten. Dankend lehnt er ab, halb belustigt, halb ärgerlich. Nach dem Essen liest er auf dem Zimmer und geht früh schlafen.

Als er am anderen Morgen den Schlüssel an der Rezeption abgibt, findet er die Patronin vor, eine stattliche Vierzigerin von milder Würde und zeitweiliger Leutseligkeit. Mit scheinbarer Teilnahme fragt sie nach seinen Plänen für den Tag, sobald er aber darüber zu sprechen beginnt, zeigt sich ihr Desinteresse. Er findet, sie funktioniert wie jene Alarmanlagen, die auf Infrarotstrahlen empfindlich reagieren – bei Wärme und Annäherung treten die Sicherungsvorkehrungen in Kraft.
In seinem Buch hat der Hotelgast gelesen, neunundvierzig Prozent des Bezirkes sind unproduktiv, worunter man Ödland, Fels und Geröll zu verstehen hat. Durch diese unnützen Gegenden steigt er vier Stunden hinauf, um oben auf einer schmalen Steinrippe zu sitzen und auf die produktiven Täler hinabzusehen, deren Erzeugnisse er dabei heißhungrig verspeist. Er teilt diesen Ess- und Aussichtsplatz mit zwei lachlustigen jungen Frauen und einem verschlossenen Mann Ende dreißig, wohl Einzelgänger wie er selbst auch. Man sitzt eng beisammen, notgedrungen, bleibt aber für sich, aus freien Stücken. Für den Spätnachmittag sind Gewitter angesagt. Der Gast beeilt sich, ins Dorf zurückzukehren.
Nun hat er es hinter sich und fühlt sich befreit, befriedigt. Die Rezeption ist unbesetzt. Er nimmt den Zimmerschlüssel vom Bord und geht die Treppe hinauf. Als er die gestern von Gustl verwünschte Stufe erreicht, sieht er, dass er erwartet wird. Er hat wenig Umgang mit Kindern und kann das Alter des Jungen kaum schätzen – vielleicht acht oder neun. Nichts an ihm erscheint auffallend, zwei Tage später wird er sich nicht mehr an sein Aussehen erinnern. Nur die Stimme bleibt ihm länger im Ohr, eine ernsthafte Stimme, die akzentfreies Hochdeutsch spricht. Das ist ungewöhnlich für das Gebirge, falls der Junge nicht zu norddeutschen Feriengästen gehört. Aber dafür tritt er zu sicher auf, scheint zu vertraut mit der Umgebung. Gehört er nicht zum Haus, muss er hier schon oft und lange zu Besuch gewesen sein.
„Guten Tag“, sagt das Kind vom Treppenende her. Es spricht wie auf dem Theater. Der Gast grüßt zurück. Sie mustern sich gegenseitig – oder vielmehr wird nur der Gast einer intensiven stummen Prüfung unterzogen, ein bis zwei Minuten lang, er lässt das eigenartig berührt über sich ergehen.
Dann sagt das Kind: „Sie sind schön.“ Der Gast erschrickt, spürt Verlegenheit in sich aufsteigen, wie aus der Brust heraus in immer neuen Wellen Körper und Kopf überflutend. Er denkt: Darauf muss ich irgendetwas sagen, doch was nur? Und wie er mich ansieht …
Der Junge greift jetzt nach den Händen des Gastes, fährt an dessen entblößten Unterarmen hinauf und fingert an den umgekrempelten Hemdsärmeln herum. Etwas scheint ihn zu stören, er kann es nicht richtig ausdrücken. Der Gast hört nur: „Aber … nicht …“ Dann wieder Schweigen. Der Gast nimmt die letzte Stufe und das Kind zieht sich langsam zu einer unscheinbaren Tür zurück. Ist da eine Besenkammer? „Auf Wiedersehen.“
Der Gast geht aufs Zimmer, duscht, zieht ein frisches Hemd an und geht essen. Der Abend verläuft in der gleichen Weise wie tags zuvor.

Die sonderbaren, teils auch lächerlichen Vorfälle setzen sich fort. Am folgenden Morgen tritt er auf den Flur und sieht vor der gegenüberliegenden Zimmertür einen Mann auf dem Boden hocken, etwa wie es ein Junge beim Murmelspielen tut. Eine dunkle Ecke, aber der Gast erkennt in dem anderen doch sogleich den Herrn: Geschäftsuniform, dunkle Hose, helles Oberhemd, teure Markenschuhe, die Krawatte noch nicht umgebunden. Regelmäßig erinnert ihn ein solcher Anblick an einen Tadel seiner Großmutter: „Du siehst ja gar nicht aus wie ein richtiger Herr!“ Das war eben der durch nichts zu verwischende Unterschied. Dieser Herr da, auf dem rustikalen Boden hockend, hantiert mit einem Elektrorasierer in der Rechten und einem Taschenspiegel in der Linken. Natürlich, gut gekleidete, gut genährte Herren mittleren Alters begeben sich nicht ohne triftigen Grund in derart närrisch unbequeme Stellungen. Unter keinen Umständen unrasiert zum Kunden fahren! Versagt die Steckdose im Bad, versucht man es dort, wo sonst nur der Staubsauger angeschlossen wird.
Sich ein Grinsen verbeißend, grüßt der Gast den Herrn, indem er bloß ein Kopfnicken andeutet. Er kommt sich dabei selbst recht taktvoll vor. Aber er schmunzelt, während er die Treppe hinuntergeht, und er grinst in sich hinein, solange er frühstückt. Als er nachher seinen Koffer packt, sagt er sich, es sei schlecht sich am Schaden anderer zu weiden. Ach, er war chronisch schadenfroh, und das von Kindesbeinen an. Er ruft sich jetzt uralte Episödchen ins Gedächtnis unter dem Vorwand, sich schämen zu müssen für diesen Charakterfehler, und amüsiert sich doch bloß über Geschichten, die dreißig Jahre her sind.

Er will abreisen und geht wieder die Treppe hinunter. Ob Gustl jetzt an der Rezeption ist? Aber sie ist wieder unbesetzt. Und in zwanzig Minuten geht schon sein Zug … Da kommt das Kind von gestern durch eine offen stehende Seitentür. „Guten Tag“, sagt es, heute ganz unbefangen, und fügt mit großem Nachdruck hinzu: „Wir haben uns ja gestern schon kennengelernt.“ Der Gast nickt ihm bloß zu: Der Junge wird doch nichts Missverständliches von sich geben, das fehlte noch … Ist doch gar nichts gewesen.
Gleich darauf kommt auch die Chefin durch die kleine Tür und drängt das Kind in die Privaträume dahinter zurück. Es soll nicht weiter am Tresen stören. Seine Rechung ist schon ausgestellt, er hat es passend. Sie sagt noch: „Kommen Sie bald wieder“, aber er merkt, sie hat es schon tausendmal gesagt.
Dann steht er auf der Straße und ist kein Gast mehr, sondern wieder Reisender geworden. Und als er zum Bahnhof geht, scheint ihm wieder einmal, er hat irgendetwas versäumt.
 

Ofterdingen

Mitglied
Dies ist keine Geschichte, in der sich Großartiges und Dramatisches ereignet, nein, es sind unaufgeregt wiedergegebene Reiseimpressionen, ziemlich gewöhnlich eigentlich, doch freut man sich als Leser an einer Reihe von genauen Beobachtungen und an einigen hübschen Episoden.

Gruß,

Ofterdingen
 

petrasmiles

Mitglied
Mhm, da findet man einen gut geschriebenen Text, der es schafft, einen zu fesseln und man denkt, Mensch, da muss ich doch mal ein bisschen Begeisterung mitteilen ... und da sagt der Autor, sind ja nur frühe Fingerübungen. Mhm. Kann ich mir das jetzt sparen? Bringe ich den Autor jetzt quasi in Verlegenheit, wenn ich etwas gut finde, das er nicht so recht zu schätzen scheint? Mhm.
Ich kann mir nicht helfen, irgendwie hat dieses statement den Text kleiner gemacht. Sehr sehr schade.
Nichts für ungut.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, hat mich doch gefreut. Und: Die einschränkende Ergänzung "nur" ist von dir. Ich wollte kein Understatement betreiben, sondern nur Ofterdingen darin recht geben, dass der Text ausschließlich Alltagssituationen wiedergibt. Es gibt keinen Plot im strengen Sinn.

Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Einen Plot brauchtest Du auch nicht - was für mich die Kunst ausmacht. Es könnte 'endlos' so weitergehen und am Ende wäre es Literatur. Schön, dass Dich die Rückmeldung gefreut hat.
Liebe Grüße
Petra
 
Der neue Gast betritt das Hotel durch den Caféeingang. Vom Personal ist nur eine junge Serviererin da, die an einem entfernten Tisch kassiert. Er wartet am Tresen, bis sie zu ihm kommt. Ob er ein Einzelzimmer für zwei Nächte haben kann? Sie verstaut zunächst die pralle Geldtasche in der Servierschürze und sagt dann mit ausdrucksloser Stimme, er solle mitkommen, sie werde ihn zur Rezeption bringen. Wie üblich geht es dahin durch viele Nebenräume, mit einzelnen Gästen, mit geschlossenen Gesellschaften, durch ganz verlassene Räume, über kurze und lange Flure, um Ecken herum, Stufen hinauf und hinab, durch Pendeltüren und solche, die ruckartig hinter einem zufallen. Erstaunlich, wie viel Innenleben so ein alter Landgasthof besitzt. Sie geht, trotz des engen schwarzen Rocks, rasch vor ihm her. In dunklen Ecken signalisiert ihm ihre weiße Schürze, wo es langgeht. Seine Aufmerksamkeit ist stark gefordert.
Endlich stehen sie in einem kleinen Kabuff mit Tür nach draußen. Das ist der Hoteleingang, hier hätte er hineingehen sollen.
„Gustl, haben wir ein Einzelzimmer für den Herrn?“ Der Angesprochene, ein hübscher Schwarzhaariger, sicher noch keine zwanzig, erhebt sich eilfertig. Dann steht er schief hinter dem Tresen und sieht Gast wie Kollegin treuherzig an.
„Schau halt im Buch nach!“ fordert sie ihn auf. – „Schau ich im Buch nach …“ Er nimmt den abgewetzten schwarzen Folianten und beginnt, unsystematisch zu blättern. Die Kollegin findet schließlich heraus, dass die Siebzehn frei ist.
„Und jetzt, Gustl, der Meldezettel!“ – „Mein Herr, darf ich bitten …“
Der Gast füllt den Bogen mit raschen Zügen aus. Gustl sieht ihm dabei argwöhnisch zu und fragt, als der Gast genialisch unterzeichnet hat: „Muss ich auch unterschreiben?“ – „Aber geh’, Gustl! Führ den Herrn jetzt aufs Zimmer.“
„Würden Sie mir bitte folgen?“ Er lacht gleich hinterher, es scheint ihm wohl seltsam, dass einer sich ihm anvertrauen solle. Richtig, als beide die Treppe zum Oberstock hinaufgehen, verfehlt er die vorletzte Stufe und schlägt der Länge nach hin. Der Koffer des Gastes wird dabei einige Meter weit auf den Dielenboden des sich anschließenden Flures geschleudert.
„Jo, die Stuf do!“ schimpft er - er muss sie schon länger kennen. Der Gast bemerkt außerdem, dass er den weichen Akzent des Unterlandes hat.
„Haben Sie sich verletzt?“ Er hat sich nichts getan, auch der Koffer ist unbeschädigt. Sie finden das Zimmer am Ende des breiten Flures.
„Es ist ein Doppelzimmer. Unsere Einzelzimmer sind alle belegt. Das andere Bett bleibt dann halt frei. Aber wo ist jetzt die Dusche?“ Sie stecken gemeinsam jeder seinen Kopf durch die seitliche Tür in den Baderaum und ziehen ihn dann rasch wieder zurück. Gustl zuckt noch verlegen mit den Schultern und empfiehlt sich mit unartikuliertem Brummen.
Der Gast tritt an eines der beiden Fenster. Zum Glück liegt das Zimmer nach hinten, nicht zur lauten Dorfstraße. Man sieht keine anderen Häuser mehr, und hinter dem Garten beginnen schon die Wiesen. Und da ist es, das Ochsenhorn, das er morgen besteigen will. Er denkt: Auf der Abbildung im Buch sah es anders aus, gewaltiger. Der Berg interessiert ihn auf einmal nicht mehr. Er beschließt auszupacken, doch gegen seine Gewohnheit lässt er sich stattdessen auf einem Sessel nieder. Er sieht auf die Betten: In welchem will ich schlafen? Hier, wo es so ruhig ist, einmal am Fenster.
Dann muss er an Gustl denken – unmöglich, der Junge. So unbeholfen, so tollpatschig. Ein Praktikant oder eine Aushilfe? Der Gast, der auf Reisen abends gern ein wenig psychologisiert, möchte ihn sich erklären. Da scheint einer ständig ausdrücken zu wollen: Helft mir, unterstützt mich, damit ich euch nützlich sein kann. Rührend und komisch ist so etwas, und er scheint sich dessen gar nicht bewusst. Eben, sagt der Gast halblaut zu sich selbst, ein unbewusster Reiz und daher so stark.
Dann packt er doch aus. Später entdeckt er eine direkte Verbindung seines Flures mit dem Speisesaal und kommt also an diesem Abend nicht mehr an der Rezeption vorbei. Im Saal ist er der Erste zum Abendessen. Als serviert wird, es war nicht die Kellnerin aus dem Café, bietet man ihm an, den Fernsehapparat für ihn einzuschalten. Dankend lehnt er ab, halb belustigt, halb ärgerlich. Nach dem Essen liest er auf dem Zimmer und geht früh schlafen.

Als er am anderen Morgen den Schlüssel an der Rezeption abgibt, findet er die Patronin vor, eine stattliche Vierzigerin von milder Würde und zeitweiliger Leutseligkeit. Mit scheinbarer Teilnahme fragt sie nach seinen Plänen für den Tag, sobald er aber darüber zu sprechen beginnt, zeigt sich ihr Desinteresse. Er findet, sie funktioniert wie jene Alarmanlagen, die auf Infrarotstrahlen empfindlich reagieren – bei Wärme und Annäherung treten die Sicherungsvorkehrungen in Kraft.
In seinem Buch hat der Hotelgast gelesen, neunundvierzig Prozent des Bezirkes sind unproduktiv, worunter man Ödland, Fels und Geröll zu verstehen hat. Durch diese unnützen Gegenden steigt er vier Stunden hinauf, um oben auf einer schmalen Steinrippe zu sitzen und auf die produktiven Täler hinabzusehen, deren Erzeugnisse er dabei heißhungrig verspeist. Er teilt diesen Ess- und Aussichtsplatz mit zwei lachlustigen jungen Frauen und einem verschlossenen Mann Ende dreißig, wohl Einzelgänger wie er selbst auch. Man sitzt eng beisammen, notgedrungen, bleibt aber für sich, aus freien Stücken. Für den Spätnachmittag sind Gewitter angesagt. Der Gast beeilt sich, ins Dorf zurückzukehren.
Nun hat er es hinter sich und fühlt sich befreit, befriedigt. Die Rezeption ist unbesetzt. Er nimmt den Zimmerschlüssel vom Bord und geht die Treppe hinauf. Als er die gestern von Gustl verwünschte Stufe erreicht, sieht er, dass er erwartet wird. Er hat wenig Umgang mit Kindern und kann das Alter des Jungen kaum schätzen – vielleicht acht oder neun. Nichts an ihm erscheint auffallend, zwei Tage später wird er sich nicht mehr an sein Aussehen erinnern. Nur die Stimme bleibt ihm länger im Ohr, eine ernsthafte Stimme, die akzentfreies Hochdeutsch spricht. Das ist ungewöhnlich für das Gebirge, falls der Junge nicht zu norddeutschen Feriengästen gehört. Aber dafür tritt er zu sicher auf, scheint zu vertraut mit der Umgebung. Gehört er nicht zum Haus, muss er hier schon oft und lange zu Besuch gewesen sein.
„Guten Tag“, sagt das Kind vom Treppenende her. Es spricht wie auf dem Theater. Der Gast grüßt zurück. Sie mustern sich gegenseitig – oder vielmehr wird nur der Gast einer intensiven stummen Prüfung unterzogen, ein bis zwei Minuten lang, er lässt das eigenartig berührt über sich ergehen.
Dann sagt das Kind: „Sie sind schön.“ Der Gast erschrickt, spürt Verlegenheit in sich aufsteigen, wie aus der Brust heraus in immer neuen Wellen Körper und Kopf überflutend. Er denkt: Darauf muss ich irgendetwas sagen, doch was nur? Und wie er mich ansieht …
Der Junge greift jetzt nach den Händen des Gastes, fährt an dessen entblößten Unterarmen hinauf und fingert an den umgekrempelten Hemdsärmeln herum. Etwas scheint ihn zu stören, er kann es nicht richtig ausdrücken. Der Gast hört nur: „Aber … nicht …“ Dann wieder Schweigen. Der Gast nimmt die letzte Stufe und das Kind zieht sich langsam zu einer unscheinbaren Tür zurück. Ist da eine Besenkammer? „Auf Wiedersehen.“
Der Gast geht aufs Zimmer, duscht, zieht ein frisches Hemd an und geht essen. Der Abend verläuft in der gleichen Weise wie tags zuvor.

Die sonderbaren, teils auch lächerlichen Vorfälle setzen sich fort. Am folgenden Morgen tritt er auf den Flur und sieht vor der gegenüberliegenden Zimmertür einen Mann auf dem Boden hocken, etwa wie es ein Junge beim Murmelspielen tut. Eine dunkle Ecke, aber der Gast erkennt in dem anderen doch sogleich den Herrn: Geschäftsuniform, dunkle Hose, helles Oberhemd, teure Markenschuhe, die Krawatte noch nicht umgebunden. Regelmäßig erinnert ihn ein solcher Anblick an einen Tadel seiner Großmutter: „Du siehst ja gar nicht aus wie ein richtiger Herr!“ Das war eben der durch nichts zu verwischende Unterschied. Dieser Herr da, auf dem rustikalen Boden hockend, hantiert mit einem Elektrorasierer in der Rechten und einem Taschenspiegel in der Linken. Natürlich, gut gekleidete, gut genährte Herren mittleren Alters begeben sich nicht ohne triftigen Grund in derart närrisch unbequeme Stellungen. Unter keinen Umständen unrasiert zum Kunden fahren! Versagt die Steckdose im Bad, versucht man es dort, wo sonst nur der Staubsauger angeschlossen wird.
Sich ein Grinsen verbeißend, grüßt der Gast den Herrn, indem er bloß ein Kopfnicken andeutet. Er kommt sich dabei selbst recht taktvoll vor. Aber er schmunzelt, während er die Treppe hinuntergeht, und er grinst in sich hinein, solange er frühstückt. Als er nachher seinen Koffer packt, sagt er sich, es sei schlecht sich am Schaden anderer zu weiden. Ach, er war chronisch schadenfroh, und das von Kindesbeinen an. Er ruft sich jetzt uralte Episödchen ins Gedächtnis unter dem Vorwand, sich schämen zu müssen für diesen Charakterfehler, und amüsiert sich doch bloß über Geschichten, die dreißig Jahre her sind.

Er will abreisen und geht wieder die Treppe hinunter. Ob Gustl jetzt an der Rezeption ist? Aber sie ist wieder unbesetzt. Und in zwanzig Minuten geht schon sein Zug … Da kommt das Kind von gestern durch eine offen stehende Seitentür. „Guten Tag“, sagt es, heute ganz unbefangen, und fügt mit großem Nachdruck hinzu: „Wir haben uns ja gestern schon kennengelernt.“ Der Gast nickt ihm bloß zu: Der Junge wird doch nichts Missverständliches von sich geben, das fehlte noch … Ist doch gar nichts gewesen.
Gleich darauf kommt auch die Chefin durch die kleine Tür und drängt das Kind in die Privaträume dahinter zurück. Es soll nicht weiter am Tresen stören. Seine Rechung ist schon ausgestellt, er hat es passend. Sie sagt noch: „Kommen Sie bald wieder“, aber er merkt, sie hat es schon tausendmal gesagt.
Dann steht er auf der Straße und ist kein Gast mehr, sondern wieder Reisender geworden. Und als er zum Bahnhof geht, scheint ihm wieder einmal, er hat irgendetwas versäumt.
 



 
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