Humor ohne Ende

Richtige Trauer wollte bei mir nicht aufkommen.
Mit 93 Lebensjahren hatte mein Vater das Alter zum Sterben. Und besonders gut verstanden haben wir uns eigentlich nie.
Bevor ich in die Friedhofskapelle ging, stand er da: Mein Vater in etwas jüngeren Jahren. Der abgewetzte schwarze Anzug flatterte um seinen Leib. Auf dem Kopf einen Strohhut, obwohl er Hüte hasste. Ebenfalls gegen seine Gewohnheit – trug er eine grell bunte Krawatte um den Hals und eine große grüne Papierwindemühle in der Hand.
Am offenen Grab drückte er mir lange die Hand, murmelte Unverständliches, fragte nach meiner Mutter, die vor gut 20 Jahren starb, und hielt mir die Windmühle vor den Mund. „Blaahsen!“ raunte er und nickte aufmunternd. „Blaahsen! Das Leben ist ein Hauch, nicht mehr!“ Und sein für meinen Vater ungewohntes Lächeln zauberte Melancholie auf das schlecht rasierte Gesicht.
Da ich nicht blies, pustete er. Die grünen Papierflügel begannen sich zu drehen. Dann war Schweigen zwischen uns, angenehm, leicht und schwingend.
Schweigen herrschte oft zwischen meinem Vater und mir, allerdings spannungsgeladen wie Schwüle vor dem Gewitter.
Da ich nichts Anderes zu sagen wusste, lud ich ihn kurzerhand zum anschließenden Leichenschmaus. „Natürlich komme ich. Wenn Väter gestorben sind, besonders gern. Und wieder lächelte er.
In der Kneipe „Zur ewigen Lampe“ wird er von meiner Verwandtschaft misstrauisch beäugt. Lächelnd setzt er sich, ohne zu fragen, an meinen Tisch mir direkt gegenüber, gießt sich Kaffee ein, trinkt einen Schluck, pustet kurz die Papierwindmühle an und beginnt mit melodischer Stimme zu erzählen.
„Mein Vater jedenfalls – er starb vor erst fünf Jahren – kommentierte alle meine pubertären Verzweiflungstaten mit der Drohung: „Du wirst noch in einer Anstalt landen! Manchmal wache ich jetzt noch nachts plötzlich auf, weil ich ihn wieder höre!“
Dabei lässt er zum Glück offen, welche von beiden Anstaltsarten er meinte – die Erziehungs- oder die Irrenanstalt.“
Diesmal bläst er heftig auf die Windmühle ein.
„Natürlich nahm ich an, es gehe in einer Anstalt für Irre wesentlich lustiger und selbstverständlich verrückter zu als in einer, in der nur erzogen wird.“
Mit seinen braunen Augen sieht er mich lächelnd an. „Übrigens, wenn ich mit meinem Gequatsche störe, sagen Sie es nur!“
Automatisch hält er mir die Windmühle hin. „Bitte ganz, ganz vorsichtig!“
Ich blase ein wenig. Zufrieden tätschelt er mir die Schulter und erzählt weiter. “Als mich vor fünf Jahren – ich war wenige Tage nach dem Tod meines Vater gerade fünfzig geworden – meine Novemberdepression überfiel und im Jahr darauf die bei mir im Februar übliche Weltuntergangsstimmung einsetzte und mich darüber hinaus im Gesicht sprießende eitrige Pickel verunstalteten, begann ich regelmäßig und mit unerklärlichen Lust den Westfriedhof zu besuchen. Sobald eine Trauergemeinde die Friedhofskapelle verlässt, reihe ich mich ein, um dem unbekannten Verstorbenen, der mir immer sehr bekannt vorkommt, das letzte Geleit zu geben. Mein Gesicht passt einfach besser auf Trauerfeiern als zu Karnevalssitzungen. Obwohl Karnevalsnarren es oft auch sehr ernst meinen.
Natürlich habe ich schon überlegt, Bestattungsunternehmer zu werden. Aber Selbstständige dieser Geschäftsgattung sind nicht wirklich so traurig, wie sie aus professionellen Gründen auszusehen versuchen. Schließlich können sie auch frohlocken bei den Preisen, die sie angeblich für die Ausrichtung einer Beerdigung nehmen müssen!“ Seine Gesichtszüge entgleiten zu breitem Grinsen, erstarren aber sofort wieder zur Trauermiene und entspannen sich dann zum gewohnten melancholischen Lächeln.
„Ich mache lieber alles umsonst. Mancher Witwe drückte ich schon mein Mitempfinden aus. Leider fehlen dem deutschen Wortschatz die richtigen Begriffe für wahre Trauer, was mich manchmal zu Wortschöpfungen wie Traumaluma oder Mamahalamah verführt. Keine der Witwen oder ihre Begleitung kam jemals auf die Idee, mir deswegen einen Psychiater zu empfehlen. Im Gegenteil. Alle pusteten meine Papierwindmühle an. Alle. Und sollte ich irgendwann tatsächlich in die Klapsmühle kommen, kann ich mir dort unter Verrückten ungestraft noch ganz andere Verrücktheiten leisten, zum Beispiel lauthals aus vollem Herzen über den Tod zu lachen – nicht schrill natürlich. Bin ja kein Hysteriker!“
Er haucht die Windmühle an, springt auf, wiegt sich in den Hüften und macht ein paar ungeschickte Tanzschritte.
„Ich bin schon jetzt gespannt, ob sie mich wegen meines besonders herzlichen Lachens sofort wieder aus der Anstalt entlassen?!“
Schwankend bleibt er stehen, kommt lächelnd auf mich zu und hält mir die grüne Papierwindmühle hin. „Wollen Sie auch noch mal?“
 
lieber Karl F.,

hier hast du eine sehr vielschichtige, skurile geschichte geschrieben die mir viel spaß bereitet hat.
für mich ist übrigends wesenlich entscheidend, ob ich eine geschichte zu ende lese, wie flüssig diese geschrieben und zu lesen ist. auch dies ist dir gut gelungen.
heike
lieben gruß heike
 
Lieber Karl,

deine geschichte ist im stil und in ihrer erzählung etwas ganz besonderes. Sie nahm mich emotional mit, beschäftigte, verwirrte mich noch eine ganze weile. ich konnte so spontan einfach keine bewertung setzen weil sich für mich deine story einfach nicht wirklicheinstufen läßt. ich bin immer noch verwirrt und begeistert zugleich.
heike
 
Liebe Heike,
mit der Geschichte geht es mir um die Verwirrung eines Verwirrten, der seine (ihm vom Vater übertragene) Verwirrung zu leben versucht, als habe er damit eine lebenslange Aufgabe angenommen.
Dass dich das verwirrt, wundert mich nicht.
Übrigens werde ich selbstverständlich deine Erzählung lesen und dir etwas dazu schreiben.
Bis auf Weiteres liebe Grüße
Karl
 



 
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