Humpe

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amuseme

Mitglied
Humpe war fett und grau. Die dünnen Haare hingen ihm strähnig
ins Gesicht, und sein rechtes Auge sah matschig aus, als hätte
er eine Bindehautent-
zündung. Die drei Zähne oben und der eine unten waren längst
nicht mehr weiß. Er roch nach Tabak, altem Schweiß und
harzigem Holz. Wenn er sprach, was selten vorkam, rasselte
seine tiefe Stimme wie eine Ankerkette. Ich mochte Humpe.

An meinem siebten Geburtstag, als ich mit meinen Freundinnen
auf dem Friedhof spielte, rettete er mein Leben: Die Mädchen –
ich voran – liefen auf der drei Meter hohen Mauer in Richtung
des großen Eingangstores. Als eine nach mir rief, drehte ich
mich um, stürzte hinunter und wurde von den schmiedeeisernen
Spitzen aufgespießt wie eine Silberzwiebel von einer
Cocktailgabel.

Auf Fragen zu antworten, war Humpes Sache nie. Als ich wissen
wollte, ob ich sterbe, lächelte er nur. Ich spürte keinen
Schmerz, aber seine Hände, die meinen Körper von unten
stützten. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist die Sirene
der Feuerwehr und dass ich dachte, es brennt.

Für mich fiel der Rest des Schuljahres aus. Stattdessen lag
ich mit einem asthmatischen und einem krebskranken Mädchen
monatelang in einem Zimmer des Städtischen Krankenhauses. Wir
hatten viel Spaß damit, ihre leidenden Großmütter nachzuahmen,
wie sie uns in unseren weißen Metallbetten ansahen, den Kopf
schüttelten und leise murmelten: „Armes, armes Kind“.

Eines Tages kam Humpe zu Besuch. Er hatte ein Holzauto
geschnitzt, das er mir zusammen mit einer Tafel Schokolade
schenkte. Viel hatte er nicht zu sagen, eigentlich nur, dass
das Spielen auf der Friedhofsmauer und dem ganzen Gelände
verboten sei. Aber das wusste ich schon.

In meiner neuen Klasse war ich die Älteste und die Einzige,
die mit zwei großen Löchern in Brustkorb und Rücken angeben
konnte. Mich störten sie nicht besonders, ich hoffte, die
beiden vorderen würden mit Busen zuwachsen, hinten war egal.
Die Jungs ließ ich zahlen, wenn sie die Löcher sehen wollten.
Anfassen war nur für meinesgleichen.

Ich fand keine neuen Freunde. Also stromerte ich alleine auf
dem weitläufigen Friedhofsgelände umher, manchmal auch in der
Nähe von Humpes Haus und der Sargschreinerei, die ihm gehörte.
An warmen Abenden saß er in seinem Garten mit einer Flasche
Bier in der rechten und einem Zigarillo in der linken Hand.
Wie man einfach nur dasitzen, trinken und rauchen konnte,
verstand ich nicht, also schlenderte ich rüber, um ihn zu
„N´abend, Herr Humpe“, sagte ich.
„Verschwinde, s’spät.“
Ich machte einen zweiten Anlauf und bedankte mich für das
Holzauto.
„S’recht“, antwortete er und ging ins Haus.

Eine Woche später sah er mich am großen Brunnen, als ich für
Oma Dierling gegen Geld Wasser schleppte. Was ich auf dem
Friedhof zu suchen hätte, wollte er wissen, und ob ich schon solch schwere Gefäße tragen dürfte
Mit bösem Blick sah er die Dierling an, die verlegen auf den Boden blickte.
„Ich brauch das Geld.“ Humpe machte mit der Hand eine
wegwerfende Bewegung und ging weiter.
„Lass mal Kindchen, ich trage die Kanne selbst zum Grab“,
sagte Frau Dierling, und ich war meinen Job los. Auch die
anderen Witwen wollten meine Hilfe nicht mehr; die Sache mit
Humpe hatte sich rasch im „Café Käthe“ rumgesprochen.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich dann bei Humpe anfing zu
arbeiten. Es gab auch kein Geld fürs Fegen der Werkstatt. Aber
um mein Essen brauchte ich mir keine Sorgen mehr machen.
Humpes Vorratskammer war größer als ein Doppelgrab. Ich
entdeckte darin so viele Dinge, die ich nur aus den Regalen im
Supermarkt kannte – zum Beispiel: Frühstücksfleisch,
Dosensuppen, Kekse, Milchmädchen Kaffeeweißer, Grieß, Hering
in Tomatensoße, Englische Bonbons, Mayonnaise, Haferflocken,
Schokolade, Tee, Sirup, Dosenpfirsiche, Remoulade in Tuben,
Kakao und Marmelade. Als er mich das erste Mal in die Kammer
schickte, stand mir vor Staunen der Mund offen. Da, wo ich
wohnte, lag im Kühlschrank literweise Fideles Äffchen und drei
Fläschchen Nagellack. Im Vorratsschrank hing ein Zettel:
Versorg dich selbst. Du bist alt genug.

Später zahlte Humpe mir Lohn. Acht Mark die Stunde – 1973 ein
Vermögen. Ich erledigte alle Schreibarbeiten, weil Schreiben
nicht seine Sache war. Telefonieren mochte er auch nicht.
Wäschewaschen fand er überflüssig, ich aber liebte den Geruch
von schäumendem Waschpulver. Irgendwann fingen die Leute an,
über uns zu reden, und Jahre später hat er mir erzählt, dass
eine Frau vom Jugendamt bei ihm war, um zu erfahren, was vor
sich geht. Er hat ihr gesagt, das solle sie meine Mutter
fragen, aber die war selten zuhause, deshalb hat das wohl
nicht geklappt.

Humpe fehlt mir. Jeden Tag. Und abends, wenn ich in seinem
Garten sitze hinterm Haus, das jetzt mir gehört. Die
Sargschreinerei habe ich aufgegeben, seit ich vom Schreiben
leben kann. Vielleicht schreibe ich eines Tages eine
Geschichte über uns.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo amüseme,

herzlich willkommen im LL-Forum.

Ist dein Text autobiografisch?
Was mir auffiel:

Eine Woche später sah er mich am großen Brunnen,
Da du aus Sicht des Prot. schreibst, sieht dieser Humpe (meinetwegen wie dieser zum Prot. schaut)- sonst stimmts nicht mit der Perspektive.

Leichte Lektüre, die ich gern gelesen habe, wenn mir persönlich auch ein Hinweis darüber fehlt, was die Jahre bis Humpes Tod passiert ist und wieso der Prot. alles von Humpe übernommen hat.

LG KaGeb
 



 
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