Hundert Mark West

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Hundert Mark West

Der Mut meiner Mitbürger hatte sich gelohnt: die Mauer fiel, es gab Begrüßungsgeld. Zwei oder drei Tage lang habe ich es gespart und am vierten komplett ausgegeben, für zwei Schallplatten, eine absurde Sache namens Döner, Coca Cola, Süßigkeiten in bedenklichen Mengen und Batman im Kino.

Nun war ich wieder auf DDR-Münzen angewiesen, schöpfte aber Hoffnung, weil man inzwischen skandierte, dass wir ein Volk seien. Dies würde jedoch noch dauern; wahrscheinlich saß ich also zuhause gerade vor meiner leeren Colaflasche und weinte, als mein Vater mich zu sich ins Wohnzimmer rief. Sein Blick war glasig, das kam vom Alkohol und nicht selten vor. Er hielt eine japanische Uhr in der Hand, die er schon lange besaß, die aber auch schon lange nicht mehr funktionierte. Ich solle doch am nächsten Tag „in den Westen“ Berlins fahren und sie reparieren lassen. Aus seiner Brieftasche holte er einen Hundertmarkschein und gab ihn mir.
Am nächsten Morgen setzte ich mich in die S-Bahn. Bei meinen Streifzügen durch Westberlin hatte ich nahe des Karstadt an der Wilmersdorfer Straße einen Uhrenhändler gesehen und wollte auf diesem vage vertrauten Terrain bleiben, da der Westteil der Stadt für mich noch ein undurchschaubares, fremd riechendes Labyrinth war.

Den S-Bahnhof Charlottenburg verbindet eine kurze Straße, deren Name mir entfallen ist, mit der Wilmersdorfer. Ich bestaunte den Grabbelkistenladen, den zweiten Grabbelkistenladen, den Grabbel-elektroladen und das Sexkino. Der Westen, unglaublich!
Dann sah ich die beiden Männer, umringt von einer kleinen Menschentraube. Sie saßen auf dem Bürgersteig, vor sich einen Teppich, auf diesem drei Streichholzschachteln. Es wurde das Hütchenspiel gespielt. Ich drängte mich in die Traube und schaute zu. Jedesmal wusste ich, wo die Kugel lag, die gemächlich von einer Schachtel zu anderen geschoben wurde. Auch als einige weitere Männer Geld setzten und den doppelten Einsatz gewannen, lag ich immer richtig. Schnell überschlug ich meine Chancen und erging mich in Wahnvorstellungen über meine nähere Zukunft. Nach einer halben Stunde war ich sicher, dass nichts schief gehen konnte und reichte kurzentschlossen meinen Schein hinüber. Es ging los, die Hände bewegten sich auf einmal etwas flinker, und bereits wenige Sekunden später hoffte ich nur noch, wenigstens erfolgreich zu raten. Die Streichholzschachtel wurde dann gelüpft, und darunter befand sich nichts, keine Kugel, nichts, nur fremd riechende Luft.
Mich ergriff ein Gefühl, als hätte soeben ein verstorben geglaubter Verwandter angerufen.
Als ich eine Stunde später immer noch mit ratlosem und flehenden Gesicht neben dem Spielteppich stand, kam ein alter Mann vorbei, er trug einen weißen kurzen Bart und eine kluge Brille, der sah mich an und fragte, nein, stellte fest: „Du bist aus‘m Osten, hm“. Ja.

Ich war verzweifelt. Mein Vater neigte damals noch zum Jähzorn, und wenn ich ihm diese Geschichte erzählte, wäre er auch noch im Recht, was meine Pein nicht minderte. Die Fahrt nach Hause war traurig, all mein Mitleid gehörte mir, stumpf starrte ich durch die grauen Scheiben der Bahn.
Zuhause war niemand, und verkrampft überlegte ich, wie ich das sich abzeichnende Drama noch verhindern könne. Mein erster Gedanke galt dem Schlüssel zu meinem grünen Kleiderschrank. Wie ich schon Jahre zuvor festgestellt hatte, passte dieser Schlüssel in das „Geheimfach“ im elterlichen Schlafzimmer. Dieses Geheimfach hatte schon früher häufig Banknoten enthalten, die fremd und vielversprechend waren, bisweilen auch zahlreich. Vielleicht hatte ich ja Glück! Ich öffnete das Fach, und es lagen wie immer interessante Dinge darin, nur kein einziger Geldschein. Panisch durchwühlte ich alles, und was ich fand, war eine kleine Schachtel, in der Briefmarken lagen, darauf der Führer abgebildet war. Hoffnung sproß und grünte! Sollte Adolf Hitler doch noch für etwas gut sein? Diese Marken mussten doch einen ungeheuren Wert haben! Selig blickte ich auf das vertraute Antlitz und steckte zehn oder zwölf der etwa vierzig Briefmarken ein.
Am Abend mied ich das Thema Uhr und fuhr am nächsten Morgen auf den ersten Flohmarkt, den ich erreichen konnte. Es ist herrlich, im Herbst in aller Frühe in einem leeren Doppeldeckerbus vorn zu sitzen und davon zu träumen, dass alles gut wird. Die Stadt ist wunderschön, wenn sie gerade erwacht, wenn junge Sonnenstrahlen sich durch den noch dunklen Himmel stehlen und das Laub vom Winde aufgeweht wird, dergleichen dachte ich wohl, und mehr.

Der Traum hielt bis zu den Worten „Fuffzich Fennich“. Pro Marke. Die gebe es zuhauf, kräht kein Hahn nach. Mein Magen rebellierte, mein Hirn vereiste. Jetzt wusste ich keinen Ausweg mehr, sah keine Möglichkeit, irgendwie schnell genug an hundert Mark zu kommen. Alles war Schuld, Furcht und Elend. In dieser Stimmung fuhr ich nach Hause und legte die Marken wieder in die Schachtel.

Im Angesicht der Hoffnungslosigkeit meiner Lage wollte ich am Abend beichten, was geschehen war. Trübe saß ich in meinem Zimmer, verfluchte und bejammerte mich abwechselnd, doch es musste sein.
„Sohn!“, schallte es aus dem Wohnzimmer. Da ich sonst nur Schwestern habe, musste wohl ich gemeint sein. Betreten ging ich hinüber, zum Geständnis bereit. Mein Vater schaute mich mit glasigen Augen an, das kam vom Alkohol. „Meine Uhr“, sagte er, „hab‘ ich dir nicht meine Uhr gegeben zum Reparieren?“ – „Ja.“ – „Hoffentlich ist sie bald fertig. Hier, das muss ja auch bezahlt werden“, und reichte mir einen Hundertmarkschein.
 

Rainer

Mitglied
hallo alex,

sehr schöner text, so wie ich es mag: eine kaskade von geschichten hinter der vordergründigen story.
eine kleine anmerkung:
Mein Vater schaute mich mit glasigen Augen an, das kam vom Alkohol.„Meine Uhr“, sagte er, „hab‘ ich dir nicht meine Uhr gegeben zum Reparieren?“
hier würde ich die wiederholung von "...das kam vom Alkohol."
vermeiden, und einen satz aus diesen beiden machen.
etwa so:
mein vater schaute mich mit glasigem augen an "die uhr, habe ich dir nicht meine uhr zum reparieren gegeben?"
außerdem würdest du so die inflation von "meine" wenigstens etwas eindämmen...

viele grüße

rainer
 
Lieber Rainer,

freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.
Zu Deiner Anmerkung:
Die jeweiligen Formulierungen sind absichtlich gewählt - die wortgleiche Wiederholung sollte darauf verweisen, dass dergleichen häufig vor kommt (bei der zweiten Begegnung in der Geschichte ja auch das zweite Mal) und eine gewisse Resignation des Erzählers verdeutlichen.
Ähnliches lag dem "mehr - mehr" zugrunde: Meiner in diesem Bereich nicht unbeträchtlichen Erfahrung nach beschränken Betrunkene ihren Wortschatz doch ganz gewaltig und wiederholen sich häufig (was ihren Worten freilich nicht unbedingt mehr Sinn verleiht).

Was gut sein kann, ist, dass das Intendierte nicht so recht zur Geltung kommt.

Na, wie auch immer; viele Grüße,
Alex
 

Lemma

Mitglied
Lieber Alex,

wieder mal eine wunderschöne kleine Geschichte.

Bewundernd angesichts dieses schönen Talentes,
Lemma
 



 
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