Hunger

4,00 Stern(e) 5 Bewertungen

untilted

Mitglied
Ein altes Fahrrad lehnte an der Hauswand. Die in der Morgensonne glitzernden Katzenaugen erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie schlich geschmeidig durch den Garten. Sie hatte Übung darin. Wobei, es war kein Garten mehr. Dichtes Gestrüpp grenzte ein Haus vom nächsten ab. Der fein säuberlich gestutzte Rasen hatte sich mit der Zeit zur Blumenwiese gewandelt. Noch etwas später war aus der Blumenwiese grünes Dickicht geworden. Sie sah die morschen Streben eines Klettergerüsts; Farbe abgesplittert, in unförmig und bedrohlich aufragende Teile zerbrochen. Irgendwo im grünen Unterwuchs, wohl noch das eine oder andere vergessene Spielzeug.

Sie erinnerte sich an die Kinder, an "ihre" Kinder. Sie liebte es, mit ihnen zu spielen. Sie vermisste die Momente wo sie Nähe suchten, sie ganz eng umklammerten. Manchmal war sie von ihnen genervt. Aber das war nur allzu verständlich. Die Eltern waren froh wenn sie die Kinder ablenkte, mit ihnen Zeit verbrachte. Sie verbrachte viel Zeit mit ihnen.

Sie stand nun vor dem Haus. Zerbrochene Fenster und rußige Stellen ließen die Fassade bedrohlich erscheinen. So wie jede andere Fassade auch in diesem Viertel. In dieser Stadt. Ihr Magen knurrte. Sie hatte seit Tagen nichts mehr Nahrhaftes gefunden. Langsam tastete sie sich näher an die Haustüre. Das Versprechen einer möglichen Mahlzeit beruhigte ihre Angst. Zu Beginn hatten sie die Ruinen noch verstört, mit der Zeit wurden ihr diese jedoch vertraut. So wie ihr einst der tägliche Rythmus des vorstädtischen Familienlebens vertraut war.

Als es begann saßen sie und ihre Familie auf dem Sofa. Gebannt verfolgten sie die Nachrichten, die über den Bildschirm flimmerten. Sie verstand nichts von dem, was vor sich ging. Die Kinder quengelten. Die Eltern waren nervös ... und genauso ahnungslos wie der Rest.

Sie lugte durch die angelehnte Tür. Dunkelheit. Wie zu erwarten. Sie wusste, was sie erwartete. Langsam schob sie sich durch den engen Spalt in das Innere. Es dauerte bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es machte jedoch keinen Unterschied. Der Anblick konnte sie nicht mehr überraschen. Zerbrochene Möbel, verstreute Kleider, Chaos. Irgendwo im Haus eine Leiche. Oder mehrere.

Zuerst kam Hektik, dann Verzweiflung und letztendlich Hoffnungslosigkeit. Für einige war diese Sequenz in Sekunden erledigt, für andere dauerte es Tage, Wochen. Jede und jeder fand sich jedoch in diesem Schema wieder. Die ersten Schüsse fielen noch am selben Abend. Die bereits-Hoffnungslosen entschieden sich für einen vorzeitigen Abschied - oftmals zum Leid ihrer Familien, oftmals mit ihren Familien, oftmals ohne deren Zustimmung.

In den ersten Tagen schien es noch so, als wäre es eine überwindbare Krise. Polizei, Rettung, Feuerwehr erschienen bei den aus dem Leben Geschiedenen. Nachbarn kümmerten sich um die unglücklichen Angehörigen. Es herrschte Hektik. Viele versuchten sich vorzubereiten auf die Zeit, die folgen würde. Geschäfte wurden geleert, Vorräte gebunkert, Notfallpläne erstellt und zur Umsetzung gebracht.

In den ersten Tagen waren jedoch bereits die ersten Haarrisse in der glatten Oberfläche des Alltags zu erkennen. Die Einsatzkräfte folgten seltener den Notrufen, bevor sie es ganz bleiben ließen. Die Verzweifelten riefen seltener um Hilfe, bevor sie es ebenso bleiben ließen. Die Schüsse mehrten sich. Diesmal waren es nicht mehr die Hoffnungslosen, sondern die Plünderer. Lagerhallen waren geleert, Vorräte verbraucht, Notfallpläne gescheitert.

Der Zustand wurde unerträglich. Die Ausnahme zur Normalität. Eine kollektive Hoffnungslosigkeit bahnte sich ihren Weg. Aus Haarrissen war ein tiefer Abgrund geworden.

Als es zu Ende war, saßen sie und ihre Familie auf dem Sofa. Gebannt starrten sie auf den Bildschirm. Aus Nachrichten war ein statisches Rauschen geworden. Sie verstanden nichts von dem, was vor sich ging. Die Bilder kehrten nicht mehr zurück.

Das modrige Dunkel im Inneren verbarg das Geschehene nur unzulänglich. Sie lugte in die einzelnen Zimmer auf der Suche nach Nahrung. Erfolglos. Kurz streifte ihr Blick einen Spiegel. Für einen Augenblick konnte sie sich erkennen: struppig, ausgezehrt, fremd.

Noch bevor sie das Zimmer am Ende des Gangs betreten hatte, wusste sie was sie vorfinden würde. Der Geruch hatte es verraten. Sie kannte ihn nur zu gut. Der Tote saß am Tisch über seine Mahlzeit gebeugt. Offenbar war er erst vor kurzem gestorben.

Mit großen Augen trat sie näher. Sie war vorsichtig. Sie sog den Duft ein. Essbares. Sie schlang ein Stück seines Fleisches hinunter.

Als sie das Haus verließ, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Sie erinnerte sich an die Nachmittage mit den Kindern. Als sie in der Sonne lagen und sich wärmen ließen - fett und satt und ahnungslos. Sie wärmte sich - dürr, aber satt und voller Ahnung.

Trippelnd lief sie durch den Garten. Ein letztes Mal blieb sie stehen und blickte zurück. Sie würde dieses Haus nie wieder betreten. Lediglich blutige Spuren ihrer Pfoten verblieben als Zeugnis.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo untilted, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Du führst den Leser geschickt auf eine falsche Fährte - sprachlich gut umgesetzt. Ich würde nur ein paar Absätze entfernen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
Oben Unten