Hypnagog

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Herb verschränkte die Arme unter dem Kopf und lauschte dem Abendgesang der Vögel in der herabsinkenden milden Dämmerung des Spätapril. Die Bilder direkt vor dem Einschlafen ließ er langsam ablaufen. Es waren Miniträume, in sich logisch ablaufende Sequenzen. Die Süße des Schlafes war so verführerisch nahe, aber er wollte bewusst diese Schicht zwischen Tag und Traum wahrnehmen. Hier begannen die Gefilde des Unbewussten.. Ich gleiche einer Ahnung, die hungrig auf ihre Erfahrung ist, hörte er sich denken, bevor er mit dem Satz Ein Tag hat 150 Millionen Kubikmeter in die Mulde des Schlafes glitt.

Er hatte folgenden Traum: Die Selbstverantwortung lag gefesselt und geknebelt auf einem Pickup-Truck. Sie stöhnte leise unter der Plane, mit der man den Tennisplatz bei Regen abdeckte. Aber das machte ja nichts, es war ja bloß das Stadion Roland Garos im Sturmtief! Dann sah er Boris. Der kaute nachdenklich auf einer gerissenen Saite seines Schlägers; das Ausgleichsgewichtchen hing plärrend am Stiel. Boris hatte das gesamte mörderische Endspiel gegen Mc. Enroe bis zum Matchball geträumt, und er wusste, dass sein Gegner das gesamte Stadion, ja die ganze Nation gegen ihn aufhetzen würde. Und genau dieses Spiel war jetzt unterbrochen; es würde auch seinen Rhythmus unterbrechen. Er seufzte auf, ließ achtlos das durchgeschwitzte Hemd zu Boden gleiten und ging in die Dusche......

Herb erwachte wie auf Fingerschnips; kein Blinzeln, kein Gähnen. Die Dämmerung gebar den neuen Tag, und die Gegenstände im Zimmer warfen schon mal versuchsweise diffuse Schatten. Er wußte, daß es fünf vor fünf war, darin verschätzte er sich selten um mehr als 10 Minuten. Und während seine Augen bemüht waren, das Ergebnis am Zifferblatt der Uhr zu realisieren, durchzogen ihn die ersten Gedanken des Tages: Die Seele ist eine Festplatte und das Leben ist der CD-Brenner! Hier werden all die Eindrücke und Gefühlsnuancen gespeichert, jeder Gedanke und seine assoziativen Nebengedanken - dazu alle Träume.

Herb pfiff lautlos durch die Zähne und griff nach seinem Tagebuch. Diesen Gedanken kannte er doch, aber wo hatte er ihn notiert? Er ließ den Traum entgleiten, ohne den Zipfel des Nachthemds - der Traum trug ein Nachthemd mit Sternen- festhalten zu wollen. Er begann damit, sich den zurückliegenden Tag vorzustellen, und zwar rückwärts. Er begann am letzten Abend und arbeitete sich in Gedanken weiter zurück - oder muß man „vor“ sagen? - bis zum Morgen. Doch beim Zurückfahren auf der Zeitspur fand er sich auf Nebengleisen wieder. Jeder Gedanke barg eine Ablenkung, eine Assoziation, die ihn auf einen Seitenzweig lockte. Und war er dem abwegigen Gedanken erst einmal gefolgt, mußte er die Strecke wieder zurückgehen, um mit kriminalistischem Gespür die Stelle zu finden, wo ein Bild oder Gefühl ihn von der Hauptstrecke hatte abweichen lassen. So brauchte er mehr als eine Stunde, um die Bilder und Gefühle des vergangenen Tag vorbeiziehen zu lassen. Erstaunt bemerkte er, wie reichhaltig ein Tag an Bewegungen war, die in seinem Inneren ausgelöst wurden! „Am Schluß ist Vergangenheit nur etwas, das wir nicht verstanden oder verarbeitet haben“, dachte er. „Wie wäre es wohl, diesen Aufsatz meinem alten Deutschlehrer, Herrn Pasch, zu zeigen?“

Er lehnte sich wieder ins Bett zurück, und in den noch warmen Kissen erinnerte Herb sich an alte Verhaltensweisen und nannte sie spaßeshalber Vergangenheits-Selbste. Im hypnagogen Raum zwischen Tag und Traum erhoben sich diese plötzlich wie Gestalten aus Rauch und traten ihm entgegen. „Herzlich willkommen! Kennt ihr mich noch, ääh schon?“ Das war die falsche Frage! Die Vergangenheits-Selbste -es waren ungefähr sechs-, traten überrascht einen Schritt zurück: „Wie, du bist unser Zukunfts-Selbst? Dann gibt es Zeit also gar nicht?“ „Doch, doch“, beruhigte er jetzt als das Zukunfts-Selbst, „ kein Grund zur Aufregung. Ich jedenfalls möchte meine Solidarität ausdrücken für .....äh,...für eueren Einsatz im Prozeß der Individuation meines, äh...eures, ....na ja, .... unseres Wesens.“ Er war ins Stottern geraten. So ein Gespräch hatte er noch nie geführt. „Auf der Woge eurer Empfindungen bin ich bisher gesurft. Dafür...äh......ich danke euch.“ Verlegen ab nach Verbeugung. Die Vergangenheits-Selbste, die es nicht gewohnt waren, daß man sie lobte, fielen augenblicklich in Trance - und in den für solche Fälle vorbereiteten Zeitgleiter.
 

Rainer

Mitglied
hallo doktordigitalis,

obwohl ich sonst mit deinen texten ehrlich gesagt nicht viel anfangen kann, finde ich diesen richtig gut. vor allem gefallen mir deine betrachtungen über die pforte des bewußtseins zum traum, und das mir gut bekannte suchen nach dem ausgangspunkt eines gedankens. mit dem rest komme ich wie immer nicht so gut zurecht, aber das ist ja zum glück alles geschmackssache.

gruß

rainer
 
Hallo Rainer!
Danke für Deinen Kommentar und das Lob.
Ich habe schon öfter durch Kommentare, die ich bekommen habe, gemerkt, dass längst nicht alle Dinge, die mir aus der Feder fließen, zugänglich sind. Erleben wir doch in der Leselupe eine kompetentere Reflexion, als wir sie bei Freunden und Bekannten herauskitzeln könnten. Bei letzteren könnte man ja noch Kritik abtun mit dem Satz: Der oder die versteht nichts davon.
Je mehr ich an Kommentaren zu anderen Geschichten poste, desto mehr hoffe ich, die Fehler, die ich anderen ankreide, selbst nicht mehr zu machen.

Vielleicht kann man unsere Texte auch wie ein Block Marmor verstehen, aus dem wir als Wort-Bildhauer dann mühsam alles wegschlagen müssen, was nicht zur Story gehört?
mit kollegialem Gruße

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Take it easy, but take it!
 



 
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