Ich danke dir

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Dank an meinen Vater
Fast fehlen mir die Worte. Was hast du mir nicht alles mitgegeben. Ich trage deine Narben. Innerlich und äußerlich. Die äußerlichen sind verheilt. Aber...
Vielen Dank für die schlaflosen Nächte. Es war wunderschön an deinem Bett zu sitzen, und die Geister deines Deliriums vom Bettlaken zu pflücken. All die Spinnenmonster deines benebelten Gehirns.
Ich danke dir für die Angst, die du wie einen Nebel auf alle übertragen hast, die in deiner Nähe waren. Die Angst war die Melodie meiner Kindheit. Lachen war dir zuwider. Das Lachen zeigte dir, was du verlernt hattest. Hast dich gehasst. Uns. Alles Lebendige.
Ich danke dir für unsere gemeinsamen Mahlzeiten. Kein Wort durfte gesprochen werden. Kann mich noch an dieses eine Essen erinnern. Es schmeckte mir nicht. Hast mich immer wieder angeschrien. Was auf den Tisch kommt, wird aufgegessen. Ich hätte mich nicht weigern sollen. Wortlos nahmst du den Teller. Er landete in meinem Gesicht. Ich danke dir für die Narben.
Was warst du für ein toller Anblick. Wie habe ich deinen morgendlichen Anblick geliebt. Kamst in die Küche und legtest dir ein Handtuch um den Hals. Dein Plan. Wie sollte die Tasse Asbach nur den Mund finden. Tasse ums Handtuch gewickelt und am anderen Ende zum Mund gezogen. Schlaues Kerlchen. Der Suff hat immer seinen Weg gefunden. Hat dich gefunden.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du mich immer zur Schau gestellt hast. Im Matrosenanzug. Dein Sohn! Habe immer gelächelt. Kann man im Lächeln die Schattierungen der Angst erkennen? Mein Lächeln war eine Maske des Grauens.
Ich war vier Jahre alt. Stand mit meinem Freund am Fenster zur Straße. Draußen spielten Kinder. Wir lachten mit ihnen. Im Hintergrund warst du, oder besser gesagt, dass was von dir übrig war. Auf einmal lag ich auf der Straße.
Alles war rot. Ich war aus dem ersten Stock gefallen, könnte man sagen. Als ich zur Besinnung kam, sah ich dich am Fenster. Ich konnte deine Gedanken lesen. Warum ist er nicht tot? Ich war vier Jahre alt. Und wurde innerhalb einer Sekunde erwachsen. Mein Lächeln war wohl zu laut gewesen. Hast dich in mir erkannt. Das, was du einmal warst. Ein unschuldiges, lächelndes Kind. Konntest es nicht ertragen. Ich danke dir dafür, dass deine Hand mich meiner Kindheit beraubt hat.
1963 hatte meine Mutter endlich die Kraft gefunden, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen. Sich von seiner Macht zu lösen. Seiner Ohnmacht.
Sechs Jahre der intensiven Liebe meines Vaters.
Mit 16 bekam ich einen Brief vom Sozialamt. Mein Vater war mittellos im Altenheim gelandet. Man verlangte von mir Unterstützung für dich.

Ich danke Dir.
 

kostho3

Mitglied
"Die Narben auf unseren Seelen bestimmen den Gang des Lebens, Hand aufs Herz spürst Du den Schmerz? ..."
und
"Wer Böses sät, wird Onkelz ernten ..."

Hat mich berührt Deine Geschicht, las da sehr viel zwischen den Zeilen.

Gruß kostho(Sohn eines Vaters)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aua

menno, da ist ja jeder satz ein peitschenhieb! volle punktzahl und den höchsten ausdruck meiner bewunderung. die geschichte wird mich gewiß tagelang verfolgen. ganz lieb grüßt
 

Piet

Mitglied
2 Möglichkeiten:
1. Autobiographie, dann mein tief empfundenes Beileid. Die Welt ist schlecht, das wissen wir, aber so schlecht?

2. Dichtung, dann keine schlechte böse Ironie am Ende, aber wie deprimierend muss es denn sein? Und passt es denn so richtig in die Aufgabenstellung? Will ja nicht knickrig sein, aber......
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
@ Piet....

Die Welt ist schlecht. Leider! Gruß Otto

P.S.: Anhand der Aufgabenstellung hättest du die Antwort auf deine Fragen finden können
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Diese "Geschichte" war wie ein Baum. Und die Jahresringe Erinnerungen...

Die Geburt des ersten Rings

Bei meiner Geburt war ich ein zerbrechlicher Setzling. Die Erde, in die man mich pflanzte war gut. Man wusste um meine Zerbrechlichkeit. Meine Muttererde bestand aus Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit. Ein Schutzwall wurde um meine zarte Rinde gebaut. Die Welt hatte noch keine Chance, meine Wurzeln zu vergiften.

Der Baum der vier Ringe

Warum haben sie meinen Schutzwall brüchig werden lassen. Wie soll ich gegen diese Urgewalten bestehen. Ich kämpfe. Nein Wind! Meine Wurzeln sind stark. Du wirst es nicht packen, mich nicht entwurzeln. Nein Regen! Auch wenn du mir meine Muttererde weggeschwemmt hast. Meine Wurzeln wirst du nicht freilegen. Ich bin ein Spielball der Gewalten. Sie zehren an mir.

Der Baum der sechs Ringe

Ein neuer Wall? Nein! Es ist eine Mauer. Sie ist beschriftet. Neue, fremde Wörter. Misshandlung, Macht, Ohnmacht, Lügen, falsche Liebe. Lernen mit allem zu leben. Jetzt erkenne ich die Mauer. Es ist eine Tafel. Für mich errichtet um mir meinen Weg zu weisen. Immer wieder diese Wörter. Verbunden mit Erinnerungen. Falsches Lernen, falsche Wörter. Tagelang, monatelang, jahrelang. Meine Rinde wird hart. Meine Wurzeln sind stark. Ich glaube, verstehe, lerne. Ständig dieser Schrei in mir. Augenblicke des Verstehens. Nein, nein, nein!!

Der Baum der siebzehn Ringe

Ich verlasse die Baumschule. Geprägt, gedemütigt, allein, einsam. Man hat mir schon meinen Platz im Wald der Oberflächlichkeit zugeordnet. Der Wald der Ignoranz. Ein Baum unter vielen. Der Schrei in mir ist verklungen. Alles ist gut. Ich schaue mich um. Sie sind zufrieden. Und ich? Ab und an, wenn die Stürme an mir zehren, wehre ich mich. Ich spüre meine Wurzeln und eine schreckliche Angst überkommt mich.

Der Baum der zwanzig Ringe

Was habt ihr getan?!
Gepflanzt, erzogen, getötet.
Attrappe, Verpackung, Hülle.
Gefühle? Angst!
Persönlichkeit? Welche? Alle!
Wieder taucht das Wort Liebe auf. Ich verstehe es nicht mehr.
Die "Um"welt hat mich vergiftet.
Die Umwelt? Ich bin die Umwelt. Das Gift!


Der Baum der achtundzwanzig Ringe

Ich schaue mich an und sehe mich nicht mehr. Alles Maske, Theater, Kulisse. Ich spiele das Spiel, weil es zu meinem Leben geworden ist. Die Wurzeln sind zu tief verankert um gegen den Wahnsinn anzukämpfen. Ich sterbe ab. Die Rinde wird brüchig. Überall Risse.

Ein neuer Tag

Wieder spüre ich meine Wurzeln. Und da sind auch wieder diese Ängste. Aber da sind auch neue Gefühle. Erwartung, Neugier, Hoffnung, Vertrauen. Ich schaue mich an.
Morgenwald im Herbst.
Nebel, Schattierungen, Muster.
Der Lebensbaum ist zum Todesbaum geworden. STIRB! Ich weine dir keine Tränen nach.

Entstanden während meines Aufenthaltes im Klinikum Eichberg. 1984/85
8 Monate Drogenentzug
 

Arkona

Mitglied
Oh weh, oh weh,

Lieber Otto,
leider werden Erinnerungen wach, die ich lieber verdränge...
Diese Wunden heilen nie! Ich denke spontan an einen Song von Bettina Wegner: "Kinder"
Am liebsten würde ich Dich jetzt in den Arm nehmen und mit Dir zusmmen weinen,und dann ist alles wieder gut!

Kinder

Sind so kleine Hände,
winzge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen,
die zerbrechen dann.

.....

Sind so kleine Seelen,
offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen,
gehn kaputt dabei.


Ist so'n kleines Rückrat,
sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen,
weil es sonst zerbricht.


Grade, klare Menschen
wär'n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückrat
hab'n wir schon zu viel.



Ganz liebe Grüße
 

Anna Marie

Mitglied
Die Welt ist schlecht!
Oft halt.
Je nachdem, was man gerade sehen will davon, oder?
Toll geschrieben, übrigens.
Marie
 
C

casy01

Gast
mit Tränen zu lesen

zwischen Schock und Deiner Fähigkeit es niederzuschreiben

stockt der Atem
schlucke schweige

verdammt tiefe Einblicke in verdammt tiefe Wunden
und schmerzt dabei mir auch mein Herz

das ist nicht nur gut geschrieben
es ist gut das Du es geschrieben hast
 
C

casy01

Gast
Arkona ich umarme und weine mit

und das obwohl meine Kindheit wunderbar war...
welch ein Glück dessen Wert man doch zu selten schätzt
 

wolfgang

Mitglied
Hallo Otto,

habe in Deinen Beträgen gestöbert und viel Interessantes gefunden. Dieser Beitrag brachte mich aber besonders ins Grübeln. Nicht weil ich ähnliche Probleme habe, sondern weil ich keine derartigen Probleme habe und trotzdem eine klare Vorstellung Deines Problems bekommen habe. Bin auf weitere Beiträge gespannt.

Bis dann!

wolfgang
 

HerbertH

Mitglied
Was da die Aufgabe war, weiss ich nicht.

Aber so echt schreibt nur die Erfahrung.

Der Text ist unheimlich packend und erschütternd.

Meine Hochachtung und liebe Grüße

Herbert
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo,

ich danke dir für diese Biographische Skizze.

Wie eine Peitsche knallen die Sätze auf mich ein.
ich bin erschüttert und begeistert.
Selten war ich als Leser von Kurzprosa so nah dran.

lg
ralf
 

revilo

Mitglied
Ich habe diesen Text meiner Frau vorgelesen. Sie war so beeeindruckt, daß sie ihn ausgedruckt und in die Küche an den Kühlschrank gepinnt hat. ( Die Oberfläche des Kühlschrankes ist unser Nachrichten- und Lesedomizil)...............LG revilo
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es fällt mir ganz schwer, etwas zu diesem Text zu sagen. Er verschwindet ja nicht, ist immer da. Ich spüre die Narbe auf dem Kopf, sehe die Narbe an meinem Auge und spüre die Narben tief drinnen, jeden Tag.
 



 
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