Ich darf mich nur darauf konzentrieren

SuperHeldin

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Das Heft klappte ich schnell zu, zog im Aufstehen meine Jacke an und warf es der Lehrerin auf den Tisch, ohne ihren verdutzten Blick noch zu bemerken. Ich hatte mir meinen Text nicht mehr durchgelesen, obwohl wir noch eine viertel Stunde Zeit hatten und meine Mitschüler noch fleißig am Schreiben waren. Ich war mit meinen Gedanken am Ende. Englisch war nie mein Fach gewesen, da würde mein eigenes Korrigieren auch nichts mehr helfen. Ich eilte die Stufen hinunter, als hinter mir eine Tür zuklappte. Erschrocken drehte ich mich um und blickte in ein fremdes Gesicht, welches meinen plötzlich schnellen Herzschlag verlangsamte.
Wo schrieb er denn nochmal? War es im Gebäude nebenan? Mein Bauch fühlte sich an, als hätte ich einen Schwarm Insekten geschluckt, während meine Kehle sich zuschnürte. Ich hatte ihn heute noch gar nicht gesehen.
Englisch. Warum muss man eigentlich Sprachen können? Ich war mir sicher, dass ich nach meinem Abitur in einem halben Jahr nie wieder Englisch brauchen werde. Ich hatte hohe Ziele, ich wollte Medizin studieren. Operieren und Menschenleben retten.
Eine rote Jacke! Mein Herzschlag pulsierte in den Ohren, als ich auf den Schulhof trat. Blonde Haare! War er das? Oder doch nicht? Unbewusst lief ich schneller, doch erkannte plötzlich an seinem Gang, dass er es nicht war. Er würde dort auch nicht lang gehen. Ich hatte ihn heute noch nicht gesehen, das fraß wie ein Ungeziefer an mir, mir wurde richtig schlecht davon. Nur einmal sein Gesicht sehen.
Muss ich heute viel lernen? Wie immer, ja natürlich. Wir sind in der anstrengenden Klausurenzeit, man hat kaum noch Zeit für einen freien Kopf. Überall wird einem gesagt, dass man nun langsam anfangen sollte zu lernen. Es war nur Stress. Keine ruhige Minute.
Ich trat in die Kantine. Da stand er. Er schaute scheu rüber und blickte schnell wieder weg, ich glaube, dass er lächelte. Mir wurde schwindelig, sodass ich auch kurz wegschauen musste. Die Röte in meinem Gesicht verbarg ich mit meinen Haaren, während ich die Übelkeit in meinem Bauch unterdrückte. Ich trat zu meinen Freunden, umarmte eine Freundin, die ich in dem Stress lange nicht mehr gesehen hatte und spaßte mit ihr. Das hab ich vermisst. Er wurde ganz stumm und blickte umher. War es ihm unangenehm, dass ich hier war? War er mit seinen Gedanken wieder bei seiner Facharbeit? Er tat mir so leid. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und nie wieder losgelassen. Er sah so müde und erschöpft aus und er hatte mir nächtelang von dem Stress erzählt, der ihn nicht schlafen lässt. Wie gerne wäre ich bei ihm und würde ihm helfen, doch er schließt sich ein. Ich kannte keinen so gut wie ihn, sein Gesicht war ein offenes Buch, ich wusste was er dachte und was er meinte, selbst wenn kein anderer ihn verstand. Wir waren immer füreinander da gewesen und hatten keine Geheimnisse voreinander.
„Du? Ich muss den Kopf frei bekommen. Du kannst mir nicht immer durch den Kopf gehen. Ich muss lernen und meine Facharbeit beenden. Ich darf mich nur darauf konzentrieren. Wir bleiben aber Freunde. Nur meine Gedanken schweifen immer ab, wenn wir weiter miteinander reden.“
Dies waren die Worte, die er vor Tagen zu mir gesagt hatte. Dies waren die Worte die in meinem Kopf nachhallten, wann immer ich ihn sah. Er schaute mich wieder an. Ja, ich verstand ihn, doch dies änderte nichts an dem Zerren und Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich ihn sah. Oder an dem Verlust des Sprechens, wenn er mir direkt in die Augen schaute. Wir waren beste Freunde gewesen, doch das ist alles nicht mehr so einfach. Es war kompliziert. Es war unmöglich.
Dachte er genauso wie ich? War es auch für ihn mehr geworden als Freundschaft? Ich weiß es nicht. Ich wusste nur, dass ich lernen musste. Ich wollte Medizin studieren.
 



 
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