Ich habe einen modernen Arbeitsplatz

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spurloewe

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Ich habe einen modernen Arbeitsplatz. Meine Basis ist zwar im Unternehmen, aber ich darf in erheblichem Umfang frei zu Hause arbeiten. Soziale Kontakte gehen dabei in mancher Hinsicht über die Wupper, weil ich zu Hause ja nicht mit Arbeitskollegen reden kann, dafür freut sich mein Arbeitgeber über konzentriertes, beständiges, pausenarmes und letztlich effektiveres Arbeiten.

Mit den sozialen Kontakten ist das so eine Sache. Im Grunde rede ich schon. Nein, nicht mit mir selbst, sondern mit den vielen Firmen, die im Laufe des Tages anrufen. Viele sind bestimmt überrascht, dass ich zu Hause bin. Aber gut geschulte „Call-Girls" und „Call-Boys" können damit selbstverständlich umgehen.

Ich habe einen modernen Arbeitsplatz. Das sage ich auch immer zu mir, wenn ich Stellung nehme zu Fragen der Energieversorgung, zum Telefonverhalten, zur Absicherung im Alter, zur Körperhygiene, zu Einkaufsgewohnheiten bis hin zur Frage, welches WC-Desinfektionsmittel ich benutze. Am besten sind die Versicherungsgesellschaften:

„Herr Kaiser hätte Sie gerne mal gesprochen."
Ich will ihn zwar nicht sprechen, frage aber höflicherweise: „Warum?"
Flötende Antwort der Mitarbeiterin des Versicherungsunternehmens:
„Wir machen uns Gedanken um Ihren Haftpflichtversicherungsschutz und haben ein einmaliges Angebot für Sie."
Entgegnung von mir (Interesse vortäuschend): „Oh, dann lassen Sie mal hören."
„Nein, das können wir nur persönlich mit Ihnen besprechen. Wann darf Herr Kaiser Sie besuchen und Sie persönlich beraten?"
„Nein, vielen Dank; auf Hausbesuche stehe ich nicht. Außerdem bin ich bestens haftpflichtversichert."

Ich habe fast wöchentlich die Wahl, ob ich meinen Telefon- oder Internetanbieter oder sogar beides zusammen zu einem unheimlich günstigen Paketpreis wechseln möchte. Mein derzeitiger Anbieter hat mit mir schon zwei Mal einen Tarifwechsel durchgeführt. Das Möbelhaus rief an und stellte erfreut fest, dass ich die bestellten Möbel am nächsten Tag gegen 12 Uhr mittags „selbstverständlich" entgegennehmen könnte. Das Möbelhaus probierte es nach der Lieferung telefonisch noch einmal, um sich zu erkundigen, ob denn auch alles in Ordnung sei.

Ja, ich bin da. Ich bin da für Marktforschungsunternehmen, Telekommunikationsriesen und BHW & Co KG. Nur meine Arbeit wird durch diese meist dusseligen Gespräche unnötigerweise unterbrochen. Falls sich eine Studie auf eine repräsentative Meinungsforschungsumfrage bezieht, können Sie davon ausgehen, dass ich meinen Senf dazu gegeben habe. Dies führt mich zu der widerlegbaren Behauptung, dass mehr als 50 % der im Rahmen der Meinungsforschung erhobenen Daten schlichtweg falsch sind, weil Menschen wie ich irgendeinen Blödsinn von sich gegeben haben, nur um endlich wieder zur Arbeit oder sonst wohin zurückkehren zu können.

Aber ich habe einen modernen Arbeitsplatz. Und ich freue mich auch schon auf säuselnde Worte aus der Hörmuschel wie „Guten Tag, mein Name ist Gerlinde Piepenkötter von der Gesellschaft zur Vermeidung von Hühneraugen. Wir machen gerade eine Umfrage zum Thema Fußpilz, da können Sie doch sicherlich etwas beisteuern ..."

Kann ich.
 



 
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