Ich habe noch nicht gelebt

Federkiel

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Ich habe noch nicht gelebt


Da stehen sie nun. Mutter und Tochter, die schon viel zu bald getrennt werden würden. Unausweichlich. Hinter ihnen erhebt sich das wuchtige, kalte Krankenhaus, ein Riese aus Beton und Glas. Sie warten. Der Vater möchte sie abholen. Von der Diagnose weiß er noch nichts. Sie hatte sich nicht getraut, es ihm am Telefon zu sagen. Dass sie ihren Kampf verloren hatte, sein „starkes Mädchen“ war nicht stark genug gewesen...
Mutter steht neben ihr, sie schweigt, muss ständig schlucken. Die Tränen laufen unaufhörlich über ihre blassen Wangen, als würde sie auslaufen. Sie selber kann nicht weinen. Ihr Kopf fühlt sich taub an, ihr Körper, ihre Beine. Als stecke sie in einer Kapsel, abgeschottet von allem, den Ärzten, dem Krankenhaus, der Leukämie, die ihren Kampf jetzt gewonnen hatte – einfach nur lebend. Lieber Taubheit als Tod, oder?

5 Jahre. 5 verdammte ganze Jahre habe ich gekämpft und wofür? Seit der grauenvollen Diagnose hatte ich nie aufgegeben, doch jetzt war es aussichtslos. Wofür habe ich dann gekämpft?

Immer wieder kreisen ihre Gedanken um das „Wofür“. Warum. Wieso. Weshalb. WOFÜR?!
Die Sonne lugt hinter den Wolken hervor, ein Sonnenstrahl blitzt über die Straße. Pfützen schimmern wie kleine Sternenhimmel.
Es hatte geregnet, als der Arzt kam… die Diagnose verkündete…
Der Regen fiel wie Mutters Tränen. Jetzt schimmert die nasse Straße so friedlich, als wollte die Sonne das Mädchen verhöhnen, ihr zeigen, dass alles auch ohne sie ging. Sie schließt die Augen, damit sie es nicht mehr mit ansehen muss. Das „Wofür“ geistert immer noch durch ihre müden Gedanken – müde von dem Gewicht auf ihren Schultern, dem Gewicht der mitleidigen Blicke, der Trauer ihrer Eltern, ihrer eigenen Taubheit.

Was wird wohl jetzt aus mir?

Sie öffnet die Augen. Am Straßenrand liegt ein Beet. Strahlende Blumen, die blühen, als würden sie dafür bezahlt. Sie spürt keine Freude mehr. Stellt sich vor, wie sie tief in der Erde verrottete und oben blühen Blumen.

Werde ich jetzt verrückt? Wie soll man denn mit dem Tod umgehen? Gibt es da eine Regel? 5 Jahre hätte ich mich darauf vorbereiten können, doch ich hatte mich an diese verdammte Hoffnung geklammert, wie eine Ertrinkende. Ist meine Taubheit normal – sollte ich nicht weinen, so wie Mama?

Kurz wirft sie einen Blick zur Seite. Mutter wirkt plötzlich ausgelaugt und alt.

Wenn ich tot bin, wird es fast so sein, als wäre ich nie da gewesen. Eigentlich hatte ich nichts erreicht – als habe ich noch nicht zu leben angefangen.

Ein trauriges, verzweifeltes Lächeln verzerrt ihr Gesicht.

Tja“, denkt sie, „So ist das halt, wenn man glaubt, dass man noch ZEIT hat…

Das Auto des Vaters biegt in die Straße, hält am Bürgersteig vor ihnen. Dem Mädchen fällt auf, dass an der Tür langsam der Lack abblättert.

Doch wahrscheinlich wird es noch länger auf dieser Welt sein als ich…

Mutter schluchzt und wimmert unter Tränen. Das schüchterne Lächeln auf Vaters Gesicht verschwindet. Er weint, steigt aus, nimmt sie beide in die Arme.
Ihre eigenen Tränen wollen immer noch nicht kommen.

Wofür denn auch?“, denkt sie und schaut in die Sonne.
Lässt sich blenden und wünscht, dass es bald vorbei ist.
 



 
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