Ich höre ihn, diesen Satz

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Ich höre ihn, diesen Satz ...

Ich höre ihn, diesen Satz: „Weil ich immer weniger Zeit für dich habe“, wie aus der Ferne an mein Ohr dringen. Noch ist er kaum wahrnehmbar für mich. Aber mit jedem Bruchteil einer Sekunde höre ich ihn lauter werden, immer lauter. Er brennt sich in mein Gehirn ein. Dieser verdammte Satz. Er schwingt in meinem Kopf nach und mit jeder Schwingung scheint er Kraft aufzunehmen, um sich noch tiefer und lauter einzugraben, festzusetzen in meinem Hirn und in meinem Ohr. Er lässt mich nicht mehr los, dieser eine Satz: „Weil ich immer weniger Zeit für dich habe“.
Ich spüre, wie dieser Satz mit hoher Intensität meine Neuronen erregt. Hin und her zischen sie in meinem Kopf. Höre es klicken, wenn eines dieser kleinen Teilchen durch Verzweigungen in meinem Hirn Synapsen bildet mit mehreren anderen Nervenzellen, um diese Nachricht, diesen für mich so elementaren Satz, auch ja schnell an seinen Bestimmungsort zu bringen, meinem Bewusstsein. Und ich mache ihn mir bewusst, diesen Satz.
Die Reizfrequenz hat ihren Optimalwert bei mir erreicht. Es läuft ein kalter Schauer über meinen Rücken. Es fröstelt mich. Mein Blutdruck sackt ab. Mein Herz rast, mein Puls jagt. Schweißausbruch! Mein Kopf dröhnt. Will mich setzen, aber weit und breit keine Gelegenheit dazu. Die Beine sind kurz davor, mir ihren Dienst zu verweigern. Krampfhaft halte ich mich am Türrahmen der Eingangstür fest. Meine Hand ist angespannt bis zum Äußersten, die Sehnen treten hervor, die Fingernägel krallen sich ins Holz, blutleer sieht sie aus, meine Hand. Die Tür sie ist auch nicht mehr weiß, alles um mich herum ist auf einmal in Braun getaucht, Wirklichkeit!? Sehe alles nur noch in Erdtönen.
Du stehst in diesem Türrahmen, ein Hund ist an deiner Seite. Ein Hund, groß, braun mit aufrechten, spitz zu laufenden Ohren und einer buschigen Rute. Die ist steil aufgestellt. Eine imponierende Erscheinung dieser Hund. Er knurrt mich an, seine Nackenhaare sind gesträubt und stehen senkrecht, seine Lefzen sind nach hinten zurückgezogen und ich kann sie sehen, seine weißen, spitzen, kräftigen, mir drohenden Zähne …
Du hältst ihn fest an seinem Halsband. Ich frage mich gerade, seit wann du diesen Hund besitzt, als mir in den Sinn kommt, dass du mich nicht halten kannst, wenn mir meine Beine den Dienst verweigern, und mich die Kräfte verlassen. Denn würdest du mich halten, oder stützen wollen, um einen Sturz meinerseits zu verhindern, müsstest du sein Halsband loslassen und dann …Ich will es mir gar nicht erst ausmalen in meinem Kopf, was dann ist, oder sein könnte. Erstaunlich, was da überhaupt so in dieser kurzen Zeit an Gedanken durch einen Kopf gehen können.
Ich hoffe darauf, dass meine Nerven sich beruhigen und ich in der Lage bin diese Anspannung auszuhalten, sonst …
Nicht einmal zu dir herein bittest du mich und dieser Hund an deiner Seite, der will das auch nicht, das zeigt er mir deutlich.
Noch ein Satz dringt an mein Ohr, oder ist das der erste und ich wollte ihn nur nicht hören!? Jetzt nehme ich alle wahr.
„Es ist Schluss. Ich werde dich auch nicht mehr anrufen, weil ich immer weniger Zeit für dich habe. Glaub mir, es ist besser so, auf jeden Fall ist es das für mich.“ Schneidend und eiskalt ist deine Stimme, ohne Mitgefühl, ohne jegliche Regung der Zuneigung, ohne Farbe, ohne Wärme, eben eiskalt.
Nur mühsam halte ich mich noch auf den Beinen, aber dieses Gebiss von diesem Hund ist so beeindruckend, so furcht einflößend, dass alles in mir, was noch lebt und widerstand leisten kann, mobilisiert ist, meinen schwindenden Kräften nicht nachzugeben. Aber wie lange noch?
Ich schreie dich an: „Warum tust du mir das an, warum behandelst du mich so? Ich liebe dich. Ich …“. Und wieder höre ich diesen Satz: „Weil ich immer weniger Zeit für dich habe“.
Es ist, als würde eine Dampflok auf mich zu rasen. Die schweren Kolben bewegen sich immer schneller auf und ab. Wasserdampf zischt heiß und laut aus dem Schlot. Der Heizer gibt sein Bestes und versorgt die Lok mit Energie. Er schaufelt die Kohle ohne Unterlass in den riesigen Heizkessel des schwarzen Ungetüms. Die Gleise vibrieren, stärker immer stärker beben sie. Gleich hat sie mich erreicht, diese schwarze Dampflok. Ich will weglaufen, will dieses Geräusch und diesen Satz endlich aus meinem Gehirn, meinem Ohr verdrängen, loswerden. Vergebens! Verzweifelt schaue ich mich um. Wohin? Wohin kann ich fliehen? Wohin kann ich mich retten? Rechts und links neben mir kein Platz, keine Ausweichmöglichkeit. Gleich wird sie mich erfassen, die Lok. Nein, will noch nicht aufhören zu leben, schon gar nicht so …
Gleich, gleich, jetzt ...Mein Atem stockt, meine Fingernägel rutschen quietschend den Türrahmen hinunter, meine Beine geben nach …Alles vorbei.
Dunkelheit empfängt mich, als ich die Augen aufschlage. Es ist still, ganz still im Haus, in meinem Schlafzimmer, in meinem Bett, nur die Bettdecke ist ziemlich zerknautscht und ich, ich bin schweißgebadet, und es ist Nacht …
Ein Albtraum war es. Gott sei Dank.
 



 
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