Ich und Du

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Blondie

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Zuerst ist da völlige Orientierungslosigkeit.
Du weißt nicht wo du bist, du weißt nicht ob du schläfst, oder wach bist, du weißt nicht, ob du vielleicht sogar tot bist. Alles was du weißt ist, dass du wieder schlafen möchtest. Dass du Ruhe brauchst; deine Sinne nicht bereit sind, für das was kommt.
Als Zweites kommen die Schmerzen. Dein Kopf brummt, deine Muskeln schreien. Du wagst es nicht dich zu bewegen.
Der Boden ist kalt.
Die Luft ist feucht.
Kein Laut ist zu hören.
Langsam drückst du dich vom Boden hoch, deine grünen Augen weiterhin geschlossen. Du kannst sitzen, ohne dass dein Kopf an etwas stößt.
Deine Hand tastet die Umgebung ab, und spürt etwa einen Meter hinter dir eine Wand, genauso kalt wie der Boden. Vorsichtig lehnst du deinen müden Körper nach hinten. Dann öffnest du deine Augen.
Es ist weniger ein Raum mehr ein Flur, etwa 3m hoch, so schmal, dass du deine Beine gerade so ausstrecken kannst. Alles ist weiß, es gibt eine Tür am anderen Ende deiner Sitzposition. Keine Rohrleitung tropft, es gibt keine schimmeligen Stellen.
Du holst dein Handy aus deiner Manteltasche und bist verwirrt als du siehst, dass es Empfang gibt. Für einen kurzen Moment starrst du nur auf das Display, sortierst deine Gedanken, und fragst dich, was genau dir das jetzt bringt, dass du Empfang hast. Wie von selbst beginnen deine zitternden Finger die einzige Nummer einzutippen, die dir in diesem Moment in den Sinn kommt.
"Hallo Timo", sagt eine Stimme aus dem Nichts.
Und als letztes kommt die Erinnerung, so klar wie ein aufgeschlagenes Buch.


Eigentlich hast du vor übers Wochenende ein wenig an den See zu fahren. Deine Sachen sind bereits gepackt, da klingelt dein Handy und ein neuer Klient bittet um deine Hilfe.
Widerwillig versprichst du den Fall anzunehmen und bestellst Anton Range her. Er ist ein kleiner Mann mit kurzen schwarzen Haaren und einem etwas zu breiten Mund, bekannt geworden durch Jugendbücher. Seine Tochter Sarah wurde vor zwei Tagen entführt.
„Es fühlt sich an, als hätte jemand mit bloßer Hand ein Loch in mein Herz gerissen. Ich bin ein emotionsloser Haufen, ich schlafe nicht, ich esse nicht, ich habe Angst ans Telefon zu gehen, falls es der Anruf ist, dass... dass meine Kleine-.“ Antons Stimme bricht ab, und er schnaubt in ein Taschentuch. Es fiel dir schon immer schwer in solchen Situationen Menschen zu helfen, doch noch nie haben Worte dich so tief getroffen.
>Dieser Mann ist der reinste Poet<, denkst du, während du regungslos in deinem Sessel sitzt, und nicht weißt was du machen sollst.
Du fragst noch zehn Minuten lang, gräbst nach irgendetwas Hilfreichem, doch nichts bringt dich wirklich weiter, weshalb du aufgibst und den aufgelösten Vater wieder nach Hause schickst.
Dann nimmst du ein Bad und denkst nach. Wer würde ein kleines, sieben jähriges Mädchen entführen? Vielleicht ein Perverser? Nichts von dem bisschen, was Anton erzählt, hat deutet darauf hin, dass diese Tat etwas mit ihm zu tun hat, einen persönlichen Grund.
„Aber auch nichts deutet darauf hin, dass es nichts mit ihm zu tun hat“, seufzt du, holst Luft, und senkst deinen Kopf unter Wasser.

„Was wollen Sie?!“, schreist du. Die Enge des Raums drückt dich zusammen und macht dich wütend.
„Luna zu entführen war einfach, weißt du?“, erklärt die Stimme, ohne näher auf deine Frage einzugehen. „Sie ist so klein und naiv. Ein einfacher Satz hat sie in mein Auto gelockt, so naiv. Beim Töten war sie zäh. Weißt du, eigentlich hätte ich nie gedacht, dass man so lange braucht, um ein fünfjährges Kind zu ermorden.“


Gegen Abend kommt dann der Anruf. Nach einem kurzen Telefongespräch mit dem leitenden Ermittler steigst du in dein Auto und fährst zum Tatort.
Du hast schon einige schreckliche Dinge gesehen, doch diese Szenerie brennt sich in deine Netzhaut ein: Zerkratztes Gesicht, aufgesprungene Lippen, zerstochene Füße. In deinem Magen rumort es, du spürst Galle hochkommen, und musst einmal heftig schlucken, um dein Müsli von heute morgen zu behalten.
>Wer tut so etwas?< fragst du dich zum wiederholten Male, und trittst näher an die auf dem Waldboden liegende Sarah heran. In ihrer Hand liegt ein Zettel. Du beugst dich runter, schiebst ihre Hand ein wenig zur Seite, und liest: „Sie sind mein AIM.“ Für einige Sekunden bist du verwirrt, dann liest du die Nachricht ein zweites, und ein drittes Mal.
„Sie sind mein ZIEL“, murmelst du zu dir selber und schaust zu Sarah. Unter all den Verletzungen in ihrem Gesicht siehst du ein hübsches Kind von sieben Jahren, dass viel zu früh sterben musste, für eine Sache, die sie nicht getan hat. Bisher deutet alles auf einen Racheakt hin. Aber Rache wofür?
>Sie sind mein AIM.< Das scheint auf den ersten Blick keinen Kontext zu haben. Könnte das vielleicht heißen, dass Kinder sein Ziel sind? Vielleicht ein Serien-Kindermörder, der ohne Motiv mordet. Aber warum dann dieses eine englische Wort?
Dein Handy klingelt und reißt dich aus deinen Gedanken. Es ist Anton.
„Es... es tut mir so leid“, sagst du statt einer Begrüßung.
„Nichts wird diesen Schmerz, der tief in meinem Inneren sitzt jemals heilen können. Aber es geht um etwas anderes. Max, der Sohn meines Freundes Carl, ist verschwunden.“

„Bei Max hat sich das Entführen als schwieriger herausgestellt. Er ist ein kluger Bursche, musst du wissen. Verstehst du, er denkt nach, bevor er etwas macht. Ich musste mir eine Lüge einfallen lassen, doch selbst darauf hat er nicht reagiert, so ein kluger Junge. Also hab ich ihn bewusstlos geschlagen. Zähes Biest, verstehst du?“ Dir fehlen die Worte. Ja, du verstehst. Aber du willst nicht verstehen.
„Warum? Warum machen Sie so etwas?“ Vorsichtig stehst du auf, und gehst ein paar Schritte auf die Tür zu. Deine Kniegelenke bereiten dir Schmerzen.
„Du weißt warum.“


Carl Müller ist ein hochgewachsener Mann mit braunen Haaren und den größten Geheimratsecken die du je gesehen hast. Er wirkt aufgelöst, jedoch um einiges gefasster als Anton.
„Wer auch immer meinen Max entführt hat, wird dafür bezahlen.“
Du nickst nur. Mit ihm scheint nicht gut Kirschen essen, und deine Lust zu diskutieren ist sehr klein. Eigentlich bist du müde, und würdest am Liebsten an Ort und Stelle einschlafen.
„Ich will keine Umstände machen“, wendest du dich an Carls Frau Rose. „Aber könnte ich einen Kaffe haben? Ich sterbe vor Müdigkeit.“ Rose lächelt. Sie ist extrem hübsch.
„Aber natürlich.“
Du drehst dich zurück zu Carl.
„Wann haben Sie Max zuletzt gesehen?“ Aus deiner Jackentasche kramst du Stift und Papier. Dein Gegenüber denkt kurz nach. Er will gerade zur Antwort ansetzen, da wird die Zimmertür geöffnet, und ein Mann mit schulterlangen, blonden Haaren, durchdringenden, blauen Augen und einem guten Körperbau kommt herein. Du blinzelst. Irgendwoher kennst du ihn.
„Das ist Sebastian. Er, Anton und ich kennen uns seit der Grundschule. Basti, das ist Timo. Er ist der Privatdetektiv und hilft mir mit Max“, stellt Carl euch vor. Sebastian streckt seine Hand aus. Du greifst nicht zu. Etwas an ihm stößt dich ab.
„Kennen wir uns?“, fragt er.
„Nicht dass ich wüsste. Aber Sie sind doch Sebastian Stolz? Der Mörder dieser Referandarin?“
Sebastian lächelt. Du könntest ihn schlagen.
„Sie sind sehr direkt, aber ja. Ja, das ist richtig. Ich kann kaum glauben, dass sich jemand noch daran erinnert. Das ist so lange her. Diese Zeiten habe ich jedoch längst hinter mir gelassen. Heute habe ich meine Frau und meine Tochter.“
Von Carl erfährst du noch ein paar unwichtige Informationen, die dich auf Anhieb einfach nicht weiter bringen wollen. Du trinkst den Kaffee, der unglaublich gut schmeckt, verabschiedest dich und gehst.
Die Nacht verbringst du mit Nachdenken. Doch wie du es auch drehst und wendest, du findest einfach kein Motiv. Irgendwann gibst du auf und gehst schlafen.

„Nein, ich weiß nicht, ich weiß es nicht!! Ich weiß nicht warum irgendjemand so etwas tun sollte!“, schreist du. Wut und Angst treiben dich in den Wahnsinn, du schlägst mit deinen Knöcheln gegen die Wand, spürst wie dir Tränen in die Augen steigen und beißt dir heftig auf deine Lippe. Dein Herz rast, du schließt deine Augen, atmest tief durch. „Was wollen sie von mir. Na los, sagen Sie es mir, sagen Sie mir ihre Probleme ins Gesicht.“
„Du musst zuhören, okay? Du musst die ganze Geschichte hören, dann verstehst du alles, akzeptierst alles. Hör einfach weiter zu.“


Am nächsten Morgen hast du das Gefühl, du hättest gar nicht erst geschlafen. Dein Kopf brummt und du schüttest drei Tassen Kaffee in dich hinein, ohne eine Wirkung zu spüren.
Erneut lässt du dir ein Bad ein.
Den Fall von Sebastian hattet ihr in der Ausbildung besprochen. Mia, eine junge Referendarin, war von dem damals sechzehnjährigen Sebastian umgebracht worden. Sein Motiv hatte er nie genannt, der Richter gab ihm sechs Jahre.
Deine Gedanken fliegen zum gestrigen Tatort. Noch immer hast du keine Lösung für die Nachricht die auf dem Zettel stand.
>Ihr seid mein AIM.<
Warum AIM? Warum dieses eine englische Wort? Warum nicht gleich ‚Ziel‘?
Deine Gedanken flattern weiter.
Die Wärme des Wassers lullt dich ein.
Du schließt deine Augen und vergisst die Welt. AIM. AIM. AIM...
„MIA?“, fragst du laut, und schreckst mit einem Mal auf. Das Wasser schwappt über und macht den Boden nass.
>Sie sind mein MIA.<
Du springst aus der Badewanne, bindest ein Handtuch um deine Hüfte und sprintest zu deinem Handy, wo du die Nummer von Sebastian wählst. Er nimmt nach dem vierten Klingeln ab.
„Sebastian Mayer, hallo?“
„Herr Stolz? Hier ist Timo. Timo Winterstein. Ich helfe ihrem Freund beim Finden von Max.
„Ja, ich erinnere mich.“
„Ich habe eine Idee. Bezüglich des Entführers. Wissen sie, ob Mia zum Zeitpunkt ihres Todes in einer Beziehung war?“ Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Glauben Sie wirklich, dass das noch etwas mit damals zu tun hat? Das ist fast 18 Jahre her.“
„Ja, ich weiß, aber wissen sie etwas?“
„Nein, tut mir leid, ich weiß nichts. Aber warum sollte er sich jetzt rächen? Und warum an den anderen Beiden, und nicht an mir?“?„Bitte, sie müssen auf ihre Tochter aufpassen“, sagst du nur und legst auf.
Sebastian verschweigt dir etwas. Er hatte Mia umgebracht, und nie etwas verraten. Vielleicht war genau das damals sein Motiv, dass sie jemand anderen hatte? Aber jemand aus Eifersucht umbringen, in diesem Alter?
Kurzerhand wählst du die Nummer eines alten Freundes von deiner Ausblidung.
„Timooo! Nie gedacht, dass du dich mal wieder meldest!“
„Hi Ollie. Ich habe eine Frage. Ich bin zur Zeit an einem Fall dran, und...“
„Ziehst du immer noch diese Privatdetektiv-Nummer durch?“, unterbricht dich Ollie, und du hörst quasi sein Grinsen. „Wie erfolgreich bist du?“
Du lässt deinen Blick durch dein karges, langweiliges Schlafzimmer gleiten und antwortest einfach nicht.
„Hör mal, es geht um etwas Wichtiges. Kannst du dich noch an den Fall von Sebastian Stolz erinnern, den wir in unserer Ausbildung behandelt haben?“
„Ähmm... lass mich kurz nachdenken.... nein. Tut mir leid.“?„Was? Aber du fandest den Fall doch so interessant! Mit Mia, der Lehrerin, die von ihrem eigenen Schüler umgebracht wurde.“
„Kann mich echt nicht daran erinnern, sorry Man.“
„Ist okay, trotzdem danke.“ Du legst auf, hast das Gefühl nicht einen Schritt weitergekommen zu sein, und beschließt spazieren zu gehen.
Zwei Stunden später läufst du gerade die Stufen deiner Treppe wieder hoch, als dein Handy klingelt. Es ist Sebastian.
„Sie ist weg. Clara ist verschwunden. Wie konnte mir das nur passieren?“

„Ich konnte Clara quasi aus Sebastians Hand nehmen, weißt du? Er ist so ein schlechter Vater, musst du wissen. Er hat nichts dafür getan sie zu beschützen. Ich wurde eigentlich sehr nervös, weil ich bemerkt hatte, wie nahe du an der Lösng des Fall schnüffelst, weshalb ich dachte, dass ich einen Fehler mache, verstehst du? Aber nein, alles hat reibungslos geklappt. Ich konnte Clara und Max ganz entspannt gleichzeitig umbringen, ganz reibungslos.“ Du hast angefangen in dem Flur auf und ab zu laufen.
„Woher wussten Sie wie weit ich mit meinen Ermittlungen bin?“
„Auch auf diese Frage kennen wir beide die Antwort. Du musst es dir nur eingestehen. Wie Lucas dich geschlagen hat, wie Alex auf dich eingetreten hat...“


Es fällt dir schwer auf dem Weg zu Sebastian einen kühlen Kopf zu bewahren. Wie konnte das nur geschehen? Du hast ihn doch auch noch gewarnt. War er wirklich so ein schlechter Vater?
Du schluckst und überlegst. Ein Verdacht keimt in dir auf. Was ist, wenn Sebastian der Entführer ist? Wenn er sich an seinen Freunden rächt und Claras Entführung nur vortäuscht, dich in eine Falle lockt, und umbringt.
>Finden wir es raus<, denkst du, und biegst nach rechts ab.
Wäre die ganze Sache nicht so ernst, würdest du den Mörder bewundern. Er ist so gerissen, und klug. Kein einziger Fehler. Alles so durchdacht und ohne eine einzige Spur.
Noch immer fehlt dir ein sinnvolles Motiv. Wenn du doch nur mehr von diesem Fall von damals wüsstest. Du könntest schwören, ihn mit Olli in der Ausbildung besprochen zu haben.
Als du ankommst, sitzt Sebastian auf seiner Terrasse und isst Kuchen, seine Frau hat sich in ihrem Zimmer verkrochen. Es herrscht eine deprimierende Stimmung. Doch nichts deutet darauf hin, dass Sebastian vorhat, dich umzubringen. Du setzt dich neben ihn.
„Fünf Minuten. Ich habe für fünf Minuten nicht aufgepasst. Wie konnte ich so etwas zulassen?!“
Du siehst ihn an. Seine Augen verwirren dich vollkommen. Irgendwie wirken sie vertraut und gleichzeitig lösen sie Angst und Hass tief in dir aus. Du musst an deine Schulzeit denken.
„Herr Stolz, Sie müssen bitte nochmal überlegen, ob sie wirklich nichts von einem Freund, oder einer Freundin von Mia wissen. Ob dieser noch lebt und wo.“ Sebastian isst das letzte Stück Kuchen, und zieht seine Nase hoch. Dann holt er Schwung und schleudert den Teller durch den Garten, ohne eine Emotion auf seinem Gesicht zu zeigen.
„Ich habe sie geliebt, wissen Sie? Mia. Sie war die schönste Frau die ich je gesehen habe. Ihr Lachen, ihr Gang, ihre Augen. Wir funktionierten auf einer Wellenlänge. Mein Herz schlug gemeinsam mit ihrem. Nach jeder Stunde haben wir die Pausen verquatscht und uns abends manchmal zum Fußball gucken verabredet. Ich würde meine Frau auf der Stelle mit ihr tauschen. Sie und ich, wir waren füreinander geschaffen. Zumindest dachte ich das immer. Eines Abends hat sie mir dann von ihm erzählt. Er war auch ein Schüler von ihr. Sie war unsterblich in ihn verliebt, und seit zwei Tagen mit ihm zusammen. Ich wusste, von wem sie sprach. Tim. Das war der Looser-Fettsack aus meinem Englischkurs. Jede Hofpause haben Lucas, Alex und ich ihn zusammen fertig gemacht. Er konnte nichts, er war ein Nichts. Und Mia entschied sich für ihn. Die schönste Frau der Welt stieß mich ab und nahm ihn. Ich griff nach dem ersten Messer, das ich finden konnte und stach zu. Und während sie dabei war zu verbluten, schrie ich ihr meine Liebe ins Ohr. Vor der Polizei habe ich nie ein Wort von Tim gesagt, aber schon am nächsten Tag haben wir ihn ins Krankenhaus geprügelt. Er hat sich wohl später das Leben genommen. Is von einer Brücke gesprungen oder so, sie haben aber seine Leiche wohl nie gefunden.“ Sebastian zuckt mit den Schultern. „Ist mir egal. Ich bereue nichts. Ich würde alles noch einmal genauso machen.“
Noch nie hast du einen Mann erlebt, den du so sehr hasst. Er ist kalt und abstoßend. Du hasst ihn, mit allem was du besitzt.
Aber somit fällt der Rachezug aus. Wenn Tim tot ist, dann kann er sich nicht an den drei Freunden rächen.
Sebastian sieht dich an.
„Ich könnte schwören, Sie irgendwoher zu kennen“, sagt er erneut. Du sagst nichts. Noch eine Sekunde bei diesem Menschen und du wirst ihm an die Kehle gehen.
„Danke, das war sehr aufschlussreich. Ich werde Clara finden.“
Dann stehst du auf und gehst.

Du presst dir deine Hände auf die Ohren. Nein, nein. Da ist nichts. Niemand hat dir jemals wehgetan. Du heißt Timo. Du bist 34 Jahre alt. Du hast niemandem etwas getan, niemand hat dir etwas getan.
„Hören Sie auf!“, brüllst du, obwohl die Stimme schweigt.
„Weißt du, durch den Zeitdruck hat es nicht soviel Spaß gemacht, Clara und Max zu töten. Außerdem hatte ich Hunger.“
„Was haben Sie mit mir vor?“ Die Stimme antwortet nicht. „Was haben Sie mit mir vor?“, fragst du erneut,, trittst näher an die Tür und klopfst.
Niemand klopft zurück.


Auf dem Weg von Sebastian holst du dir etwas beim Chinesen, isst es halb auf, und wirfst den Rest dann weg, weil es dir nicht schmeckt.
Irgendwie bist du mit deinen Gedanken nicht beisammen. Alles wirkt verstreut, ungeordnet und fehl am Platz. Etwas stimmt nicht. Dein Körper folgt nicht deinem Kopf.
Zu Hause nimmst du seit langem mal wieder deine Pillen, die gegen diese Verstreutheit helfen.
>Ich bin wieder am Anfang.<
Es gibt keinerlei Hinweise, nur einen Zusammenhang.
Die Spurensicherung konnte nichts feststellen.
Die Autopsie hat nichts gefunden.
Nichteinmal eine Überwachungskamera hat etwas aufgezeichnet.
Es ist unmöglich weiterzukommen bis Clara und Max gefunden wurden.
---
Die nächsten zwei Tage geschieht nichts. Dein ganzes Leben scheint irgendwie stillzustehen. Du telefonierst eine Menge, doch nichts führt dich zu klaren Ergebnissen. Der Fall scheint dich schier in den Wahnsinn zu treiben. Du nimmst zwei weitere Male deine Tabletten.
Dann kommt der letzte Anruf, auf den du gewartet hast.
„Sind sind tot, alle beide. Nebeneinander aufgehangen. Es ist schrecklich, so etwas habe ich noch nie gesehen. Wer tut so etwas? Das kann doch nur das Werk eines Monsters sein.“
Du steigst in dein Auto und fährst los, doch du wirst niemals am Tatort ankommen.

„Ich habe nichts mit dir vor. Du musst es endlich wieder verstehen, Timo. Akzeptiere es. All diese Qualen. Sie hatten es verdient, bestraft zu werden.“ Hilflos schüttelst du deinen Kopf.
„Nein, nicht so, nicht jetzt, nicht nachdem alles fast vorbei schien.“
„Für uns war es nie vorbei, verstehst du das denn nicht? Es würde uns immer verfolgen, weißt du? Nichts und niemand hätte uns retten können.“
Du drückst die Klinke der Tür, und sie geht auf. Die Flure vor dir sind leer.
„Was wollen Sie von mir?! Lassen Sie mich in Ruhe, gehen Sie weg“, schreist du. Die Stimme lacht.
„Du verstehst es nicht, habe ich recht? Ich kann dich nicht in Ruhe lassen, ich bin in deinem Kopf. Verstehst du jetzt warum Ollie sich nicht an den Fall erinnern konnte? Du hast ihn in der Ausbildung nie behandelt. Du warst dabei, ich war dabei. Ich bin Du.“
Du rennst los.
Du rennst und rennst.
Die Enge, die Stille, das Bedrücken dieser Gänge hier unten macht dir Angst, doch es ist noch Erschreckender dass du den Ausgang findest, ohne dich einmal zu verlaufen. Draußen ist es inzwischen dunkel, und die kühle Nachtluft empfängt dich wie ein Segen.
Du sinkst ins Gras und schließt deine Augen.
Die Anwesenheit der Kinder ist noch immer zu spüren.
„Ich wollte das nie“, sagst du.
„Natürlich wolltest du das nie“, lache ich. „Du warst schon immer zu feige für Rache, zu schwach, verstehst du? Erst wolltst du dich umbringen, dann hast du angefangen die Pillen zu nehmen, Rache war für dich nie eine Option, umbringen schon. Aber siehst du? Ich bin zu stark. Du kannst mich nicht zerstören, nicht gegen mich gewinnen, ich bin einfach zu stark, verstehst du Timo? Tim sitzt noch immer in dir. Es ist egal, wieviel du abnimmst, es ist egal, wie oft du deinen Namen änderst, es ist egal, mit wie vielen Psychatern du redest. Du. Kannst. Mich. Nicht. Verstecken.“
„Du hättest uns einfach nicht retten dürfen. Ich hätte in diesem Fluss ertrinken sollen“, murmelst du. „Dann würden drei unschuldige Kinder noch leben.“
„Unschuldige Kinder?“, fauche ich, und spucke wütend auf den Boden. „Drei Kinder von Mördern.“
„Es war nur Sebastian! Nur Sebastian hat uns das angetan!“
„Nein, das stimmt nicht. Er hat Anton und Carl davon erzählt, hat ihnen alles erzählt, sie waren nicht unschuldig. Wir waren ihnen egal, Hauptsache sie haben Sebastian glücklich gemacht. Er war ihr Anführer, hat sie geleitet.“ Du atmest tief durch.
„Was hast du mit ihnen gemacht? Mit Anna und Clara und Max?“?„Oh das weißt du genau, du warst doch dabei, du weißt es.“
„Nein, ich weiß es nicht, sag es mir.“
„Ich habe sie entführt und eingesperrt. Dann habe ich ihnen eine Fluchtmöglichkeit geschenkt, bin ihnen hinterhergerannt und habe sie langsam und qualvoll getötet.“
„Du hast sie getrieben. WIE TIERE!“, schreist du, springst auf, und rennst los. Dein Handy klappert zusammen mit deinem Schlüssel in deiner Manteltasche, deine Füße tun weh, du willst diesem Albtraum endlich ein Ende setzen.
„Du kannst vor mir nicht wegrennen“, lache ich und bleibe stehen.
Und dann ist für einen kurzen Moment nichts mehr.
Deine Umgebung verschwimmt, deine Gedanken verschwimmen. Ich bin ruhig, unterdrückt, du bist mit dir im Reinen. Du spürst, wie Tränen in dir hochkommen.
Nie hattest du gedacht, dass alles so endet. Erschöpft siehst du dich um, betrachtest den Wald, die Bäume, das Gras. Die Sonne bricht hervor, wirft ihre Strahlen auf die jungen Farne, lässt sie hellgrün strahlen. Du kennst diesen Wald. Als du noch einen Hund hattest, warst du hier oft spazieren. In der Nähe gibt es eine Senke mit Fluss. Das Rauschen ist in der Stille des Waldes bereits zu hören.
Ein Sprung wäre tödlich.
„Ich kann nicht vor dir wegrennen. Ich kann dich nicht besiegen. Aber ich kann dich töten, ich kann mich töten, ich kann uns töten.“
Du bist bereit. Bereit es mir zu zeigen. Diesmal wird es klappen. Diesmal gewinnst du gegen mich.
Aus deiner Manteltasche holst du dein Handy. Der Anruf mit Sebastian läuft seit zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten, die alles verändert haben.
„Was hast du getan?!“, schreie ich, lasse das Handy fallen und trete es weg.
„Ich habe mich selber besiegt.“ Du schließt deine Augen. „Es tut mir so leid Sebastian“, schluchzt du, obwohl er dich wahrscheinlich nicht mehr hört.
Dann rennst du los.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Hallo Blondie, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von jon

Redakteur in diesem Forum
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Spannend und für dein Alter richtig, richtig gut. Es gibt nur ganz wenige „grobe“ Probleme, deshalb steige ich mal gleich in die Arbeit auf Profi-Niveau ein:

Leider verschwimmt der knappe, harte Ton mangels Variationen rasch zu einem Rauschen und dieses wiederum macht das Lesen anstrengend. Die einfachste Lösung erscheint mir im Moment, den hier nicht kursiven Teil in der personalen Erzählweise (also mit „er“) und in der Vergangenheitsform zu gestalten.

Es gibt diverse Fehler, allerdings nicht so viele, dass der Text dadurch völlig „kaputtgehen“ würde. Ich benenne sie im Folgenden mal nicht mit, weil ich denke, dass du vor dem Korrekturgang sowieso noch mal am Text arbeiten solltest.
Ein Hauptfehler sind fehlende Kommas beim erweiterten Infinitiv mit zu.

Details:

Zuerst ist da völlige Orientierungslosigkeit.
Du weißt nicht wo du bist, du weißt nicht ob du schläfst, oder wach bist, du weißt nicht, ob du vielleicht sogar tot bist. Alles was du weißt ist, dass du wieder schlafen möchtest. Dass du Ruhe brauchst; deine Sinne nicht bereit sind, für das was kommt.
Als Zweites kommen die Schmerzen. Dein Kopf brummt, deine Muskeln schreien. Du wagst es nicht dich zu bewegen.
Der Boden ist kalt.
Die Luft ist feucht.
Kein Laut ist zu hören.
Langsam drückst du dich vom Boden hoch, deine grünen Augen weiterhin geschlossen. Du kannst sitzen, ohne dass dein Kopf an etwas stößt.
Hier beginnt das Rauschen schon. Zwar hast du oft die Einzelsätze per Komma aneinander gehängt, aber de facto sind alle (Teil-)Sätze bauähnlich und rhythmisch-klanglich fast identisch. Diese wie Hammerschläge wirkenden Konstruktionen sind prima für Thrill, also Spannung – aber wenn du den Leser von der ersten bist zu letzten Silbe unter der immer gleichen Spannung hältst, ermüdet er schnell. Oder um ein anderes Bild zu benutzen: Wenn der Leser vor Spannung den Atem anhält – und so wirkt der Klang – muss er immer wieder auch Gelegenheit bekommen, durchzuatmen und das Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen.


Für einen kurzen Moment starrst du nur auf das Display, sortierst deine Gedanken, und fragst dich, was genau dir das jetzt bringt, dass du Empfang hast.
Hier hätte ich erwartet, dass eine Erklärung kommt, warum es ihm vielleicht nichts bringt. Ich dachte: Weil er sowieso nicht weiß, wo er ist? Das macht doch aber heutzutage nichts, weil man Handys ja orten kann. Also warum dann?

Wie von selbst beginnen deine zitternden Finger die einzige Nummer einzutippen, die dir in diesem Moment in den Sinn kommt.
"Hallo Timo", sagt eine Stimme aus dem Nichts.
Und als letztes kommt die Erinnerung, so klar wie ein aufgeschlagenes Buch.
Das „als letztes“ stimmt nicht – danach kommt ja noch eine gaaaanze Menge.
Das Bild mit dem Buch ist nicht ganz stimmig: Ein zugeschlagenes Buch wäre auch klar zu sehen, man könnte trotzdem nicht drin lesen.


Eigentlich hast du vor übers Wochenende ein wenig an den See zu fahren. Deine Sachen sind bereits gepackt, da klingelt dein Handy und ein neuer Klient bittet um deine Hilfe.
Widerwillig versprichst du den Fall anzunehmen und bestellst Anton Range her.
Schlecht in Bezug gesetzt: An der Stelle klingt es, als sei Range jemand, den „du“ zum Lösen des Falles braucht.

Er ist ein kleiner Mann mit kurzen schwarzen Haaren und einem etwas zu breiten Mund, bekannt geworden durch Jugendbücher.
Hier klingt es immer noch so. Ich dachte dabei: Okaayy – und wozu braucht ein Detektiv einen Kinderbuchautor?

Seine Tochter Sarah wurde vor zwei Tagen entführt.
Und sogar hier noch. Deshalb fragte ich mich: Ist das jetzt die Info, woher der Detektiv Range kennt? Oder kommt nun, was der neue Fall mit dieser Entführung zu tun hat?

„Es fühlt sich an, als hätte jemand mit bloßer Hand ein Loch in mein Herz gerissen. Ich bin ein emotionsloser Haufen, ich schlafe nicht, ich esse nicht, ich habe Angst ans Telefon zu gehen, falls es der Anruf ist, dass... dass meine Kleine-.“ Antons Stimme bricht ab, und er schnaubt in ein Taschentuch.
Hier erst dämmerte mir, dass Range der Klient ist.

Es fiel dir schon immer schwer in solchen Situationen Menschen zu helfen, doch noch nie haben Worte dich so tief getroffen.
Das verstehe ich nicht. Punkt eins: Wenn er ihm schon immer schwer fiel, warum ist er dann Detektiv geworden? Punkt zwei: Wieso „doch“?


>Dieser Mann ist der reinste Poet<, denkst du, während du regungslos in deinem Sessel sitzt, und nicht weißt was du machen sollst.
Diese Zeichen sind unschön und genau genommen auch falsch. Da du das Kursive bereits „vergeben“ hast, solltest du hier die halben Anführungszeichen benutzen.

Du fragst noch zehn Minuten lang, gräbst nach irgendetwas Hilfreichem, doch nichts bringt dich wirklich weiter, weshalb du aufgibst und den aufgelösten Vater wieder nach Hause schickst.
Das ist aber verdammt schnell abgehandelt. Du erwähnst ausführlich, dass er ihn für einen Poeten hält (was auch ihn als Poeten oder zumindest Poesie-Fan markiert), aber die wichtigen Elemente des Geschehens an sich – also rund um den Fall – reißt du nichtmal an.
Im Übrigen gibt es ein Logik-Problem: Er kennt Range ja eigentlich, aber das kommt nichtmal andeutungsweise rüber. Auch wenn er ihn nicht erkennt (was bei der Pointe logisch ist), muss etwas an ihm ihn ansprechen: Irgendeine Emotion sollte er haben – am ehesten wohl sowas wie „unsympathisch!“.


Dann nimmst du ein Bad und denkst nach. Wer würde ein kleines, sieben jähriges Mädchen entführen?
Später ist sie 5.

Vielleicht ein Perverser? Nichts von dem bisschen, was Anton erzählt, hat deutet darauf hin, dass diese Tat etwas mit ihm zu tun hat, einen persönlichen Grund.
Den zweiten Satz, den ich irgendwie „angehängt“ finde, könntest du dir sparen, wenn du vorn ein bisschen erzählen würdest, was er fragte und Anton (plötzlich der Vorname. Warum???) antwortete.

„Aber auch nichts deutet darauf hin, dass es nichts mit ihm zu tun hat“, seufzt du, holst Luft, und senkst deinen Kopf unter Wasser.
Spannung verschenkt: Der Leser hat nicht die allerallerallergeringste Chance, selbst Vermutungen anzustellen, weil er ja nicht weiß, was Anton tatsächlich sagte. Auch für später gibt es so keine Chance, etwas zu vermuten. Wenn du es schaffen könntest, den Leser auf eine falsche Spur zu schicken (wozu überhaupt erstmal eine Spur gelegt werden muss!), würde die Pointe besser zünden.

„Was wollen Sie?!“, schreist du. Die Enge des Raums drückt dich zusammen und macht dich wütend.
„Luna zu entführen war einfach, weißt du?“, erklärt die Stimme, ohne näher auf deine Frage einzugehen. „Sie ist so klein und naiv. Ein einfacher Satz hat sie in mein Auto gelockt, so naiv. Beim Töten war sie zäh. Weißt du, eigentlich hätte ich nie gedacht, dass man so lange braucht, um ein fünfjährges Kind zu ermorden.“
Hier beginnst du, den Leser zu belügen. Der Ich-Erzähler, der über das Du redet, tut so, als wäre die Stimme etwas Drittes. Punkt eins: Man darf, ja muss mitunter Leser bei solchen Texten in die Irre führen. Aber nicht, indem man lügt, sondern das (im Rahmen der Story) Wahre geschickt formuliert (was auch Verschwiegen beinhalten kann). Punkt zwei: Der Vorteil der Ich-Erzählerhaltung ist es zwar, dass der Erzähler in bestimmten Konstellationen lügen kann (was der Beobachter-Erzähler nicht kann). Aber in dieser Geschichte befindet sich der Ich-Erzähler nicht in einer solchen Konstellation. Im Gegenteil: Er hat überhaupt keinen Grund, den Angesprochenen – den „Du“ – zu belügen. Der Text verliert auch überhaupt nichts an Spannung, wenn du von Anfang an sagen würdest

„Hallo Timo“, sagt eine Stimme aus dem Nichts. Meine Stimme.
(Dann einfach das Krimi-Geschehen, ganz ohne „Erinnern-Einleitung“.)
„Was wollen Sie?!“, schreist du. Die Enge des Raums drückt dich zusammen und macht dich wütend.
„Luna zu entführen war einfach, weißt du?“, sage ich. „Sie …


Dass „ich“ auf die Frage nicht eingeht, musst du nicht sagen, das sieht der Leser je selbst.
Alter des Kindes!
Wieso „eigentlich“?

Gegen Abend kommt dann der Anruf. Nach einem kurzen Telefongespräch mit dem leitenden Ermittler steigst du in dein Auto und fährst zum Tatort.
Du hast schon einige schreckliche Dinge gesehen, doch diese Szenerie brennt sich in deine Netzhaut ein: Zerkratztes Gesicht, aufgesprungene Lippen, zerstochene Füße. In deinem Magen rumort es, du spürst Galle hochkommen, und musst einmal heftig schlucken, um dein Müsli von heute morgen zu behalten.
DAS ist schrecklicher als die schrecklichen Dinge, der er sonst so gesehen hat? Dann waren die harmlos wie ein Mückenstich. – Ich weiß zwar nach der Pointe, was das soll, aber beim Lesen bin ich echt hierüber gestolpert. Das ist Lektion zwei beim Leser-Irreführen: Es muss zwar wahr sein, aber auch der suggerierte Aspekt muss sich sinnvoll anhören. Ich würde also nicht das schon Gesehene erwähnen, sondern nur seine Reaktion – die ist bei so harmlos daherkommenden Verletzungen erstaunlich genug.

>Wer tut so etwas?< fragst du dich zum wiederholten Male, und trittst näher an die auf dem Waldboden liegende Sarah heran.
Äh … vorhin hieß sie Luna. (Gegen Ende wird aus ihr dann eine Anna. Soll das heißen, es starben in Wirklichkeit noch viel mehr Kinder? Dann ist die Pointe nicht stimmig oder zumindest nicht vollständig.)

Bisher deutet alles auf einen Racheakt hin. Aber Rache wofür?
Der Gedankengang wird zwar durch die Pointe begründet, hier aber wirkt es falsch, denn es gibt im bisherigen Text überhaupt nichts, was darauf hindeutet. Also besser etwas wie Kein sexueller Übergriff, keine Lösegeldforderung – es könnte eine Racheakt sein.

Vielleicht ein Serien-Kindermörder, der ohne Motiv mordet. Aber warum dann dieses eine englische Wort?
Niemand mordet ohne „Motiv“ – selbst Zwang ist eines, manchmal erfinden diese Leute auch Motive als Rechtfertigung. Ich verstehe sowieso nicht, warum er hier „ohne Motiv“ denkt – wie kommt er denn bei Vorliegen einer Botschaft ausgerechnet darauf?


Dein Handy klingelt und reißt dich aus deinen Gedanken. Es ist Anton.
„Es... es tut mir so leid“, sagst du statt einer Begrüßung.
„Nichts wird diesen Schmerz, der tief in meinem Inneren sitzt jemals heilen können. Aber es geht um etwas anderes. Max, der Sohn meines Freundes Carl, ist verschwunden.“
Anton ist nicht vor Ort? In der Regel wollen Eltern das Kind sehen und sei es, weil sie im Stillen hoffen, dass es nicht ihr Kind ist … Abgesehen davon erscheint mir Anton deutlich abgebrühter zu sein als seine blumigen Worte wohl vermitteln sollen. Das soll vielleicht so sein, aber das ist – so nackt und unkommentiert – ein weiteres Stör-Element, das mich davon abhält, mit der Geschichte mitzugehen. Kurz gesagt: Ich kann zu vieles einfach nicht glauben.


„Bei Max hat sich das Entführen als schwieriger herausgestellt. Er ist ein kluger Bursche, musst du wissen. Verstehst du, er denkt nach, bevor er etwas macht. Ich musste mir eine Lüge einfallen lassen, doch selbst darauf hat er nicht reagiert, so ein kluger Junge. Also hab ich ihn bewusstlos geschlagen. Zähes Biest, verstehst du?“ Dir fehlen die Worte. Ja, du verstehst. Aber du willst nicht verstehen.
Das unterstrichene ist Quatsch: „Ich“ weiß, dass „du“ es weiß …
Der letzte Satz hier ist auch unglaubhaft: Bislang führst du den Leser in eine Konstellation Mörder redet mit Detektiv. Der Detektiv versteht an dieser Stelle also, dass dieser „Ich“ auch Max getötet hat und zwar recht brutal {Max war zäh}. Warum um alles in der Welt sollte er das nicht verstehen wollen? Weglassen!

„Warum? Warum machen Sie so etwas?“ Vorsichtig stehst du auf, und gehst ein paar Schritte auf die Tür zu. Deine Kniegelenke bereiten dir Schmerzen.
„Du weißt warum.“
Genau! Hier ist der richtige Moment, um die Pointe vorzubereiten!


„Wann haben Sie Max zuletzt gesehen?“ Aus deiner Jackentasche kramst du Stift und Papier. Dein Gegenüber denkt kurz nach. Er will gerade zur Antwort ansetzen, da wird die Zimmertür geöffnet, und ein Mann mit schulterlangen, blonden Haaren, durchdringenden, blauen Augen und einem guten Körperbau kommt herein. Du blinzelst. Irgendwoher kennst du ihn.
„Das ist Sebastian. Er, Anton und ich kennen uns seit der Grundschule. Basti, das ist Timo. Er ist der Privatdetektiv und hilft mir mit Max“, stellt Carl euch vor. Sebastian streckt seine Hand aus. Du greifst nicht zu. Etwas an ihm stößt dich ab.
… hier schreibst du „Szene“, das ist das, was oben bei Anton gefehlt hat.

„Kennen wir uns?“, fragt er.
„Nicht dass ich wüsste. Aber Sie sind doch Sebastian Stolz? Der Mörder dieser Referandarin?“
Sebastian lächelt. Du könntest ihn schlagen.
Wäre eine eigentlich eine gute Idee, aber dass er lächelt, ist unglaubhaft. Niemand lässt sich Mörder nennen und lächelt dazu. (Nein, es gibt schon Situationen, z. B. wenn einer beschuldigt wird und sich stinksicher ist, dass das eh niemand beweisen kann – dann kann ihm schon mal ein arrogantes Grinsen rausrutschen. Aber das trifft hier ja nicht zu.)

„Sie sind sehr direkt, aber ja. Ja, das ist richtig. Ich kann kaum glauben, dass sich jemand noch daran erinnert. Das ist so lange her. Diese Zeiten habe ich jedoch längst hinter mir gelassen. Heute habe ich meine Frau und meine Tochter.“
Das klingt, als spräche er über eine Ära, in der er allerhand Leute ermordet hat – so wie andere in der Jugend halt kiffen oder am laufende Band Mädchen flachlegen. Selbst wenn Sebastian es tatsächlich so empfindet, ist er sicher „erzogen“ und erfahren genug, sich nicht so klar und ungefragt zu outen. Glaubhafter wäre, wenn er drauf verweisen würde, dass er seine Strafe abgesessen hat, dass „Mord“ etwas zu hart für die Affekttat klingt oder ähnliche Entschuldigungen und Abwiegelungen.



„Nein, ich weiß nicht, ich weiß es nicht!! Ich weiß nicht warum irgendjemand so etwas tun sollte!“, schreist du. Wut und Angst treiben dich in den Wahnsinn, du schlägst mit deinen Knöcheln gegen die Wand, spürst wie dir Tränen in die Augen steigen und beißt dir heftig auf deine Lippe. Dein Herz rast, du schließt deine Augen, atmest tief durch. „Was wollen sie von mir. Na los, sagen Sie es mir, sagen Sie mir ihre Probleme ins Gesicht.“
„Du musst zuhören, okay? Du musst die ganze Geschichte hören, dann verstehst du alles, akzeptierst alles. Hör einfach weiter zu.“
Das „tun sollte“ ist die falsche Formulierung, die benutzt man, wenn man sich nicht vorstellen kann, dass es jemand tut.
Das viele „deine“ stört. Es passt auch nicht, denn es sind ja auch seine Augen/Lippen/Knöchel (also die den „Ich“), er würde sich wohl kaum so markant von ihnen distanzieren. Also einfach „den“ bzw. „die“.
„Sagen Sie mir Ihre Probleme ins Gesicht.“ – Im Ernst? Wer redet denn so? (Glaubhaft bleiben!)


Am nächsten Morgen hast du das Gefühl, du hättest gar nicht erst geschlafen. Dein Kopf brummt und du schüttest drei Tassen Kaffee in dich hinein, ohne eine Wirkung zu spüren.
Was soll das „erst“?

Erneut lässt du dir ein Bad ein.
Wann hat er das an diesem Morgen schon mal getan?

Sein Motiv hatte er nie genannt, der Richter gab ihm sechs Jahre.
Warum sollte er nie ein Motiv genannt haben? Sein Verteidiger wird ihm doch wohl erklärt haben, dass er auf Totschlag (also eine Affekthandlung) plädieren sollte.

Deine Gedanken fliegen zum gestrigen Tatort. Noch immer hast du keine Lösung für die Nachricht die auf dem Zettel stand.
>Ihr seid mein AIM.<
Nein, das stand da nicht. Da stand „Sie sind mein AIM.“ Mehr Sorgfalt bitte!

Das Wasser schwappt über und macht den Boden nass.
Natrülich tut es das – erwähnenswert wäre gewesen, wenn das nicht passiert wäre ;)

Du springst aus der Badewanne, bindest ein Handtuch um deine Hüfte und sprintest zu deinem Handy, wo du die Nummer von Sebastian wählst.
Die er woher hat?

Er nimmt nach dem vierten Klingeln ab.
„Sebastian Mayer, hallo?“
„Herr Stolz? Hier ist Timo. Timo Winterstein. Ich helfe ihrem Freund beim Finden von Max.
Er meldet sich mit Mayer und „du“ fragt „Herr Stolz?“???

Sebastian verschweigt dir etwas. Er hatte Mia umgebracht, und nie etwas verraten.
Wie: Nie etwas verraten?? Erstens ist er verurteilt worden – okay, kann allein aufgrund der Beweise passiert sein. Aber zweitens hat er es vorhin im Text quasi zugegeben. Und Drittens: Was genau denkt Timo bei „etwas“?

Aber jemand aus Eifersucht umbringen, in diesem Alter?
Wieso sollte Eifersucht mit 16 nicht so heftig sein können? Eben gerade in dem Alter schäumen die Gefühle schnell über!

Kurzerhand wählst du die Nummer eines alten Freundes von deiner Ausblidung.
„Timooo! Nie gedacht, dass du dich mal wieder meldest!“
„Hi Ollie. Ich habe eine Frage. Ich bin zur Zeit an einem Fall dran, und...“
„Ziehst du immer noch diese Privatdetektiv-Nummer durch?“, unterbricht dich Ollie, und du hörst quasi sein Grinsen. „Wie erfolgreich bist du?“
Du lässt deinen Blick durch dein karges, langweiliges Schlafzimmer gleiten und antwortest einfach nicht.
Schöne Szene in klasse Sätzen – sie ist für den Fall zwar weitgehend belanglos, aber macht das Geschehen „echt“. Bitte von Anfang an so!

„Sie ist weg. Clara ist verschwunden. Wie konnte mir das nur passieren?“
Letzten Satz streichen!


(Weiter bei Gelegenheit. Wenn du noch Interesse hast.)
 



 
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