Ich und die Ruffel

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Harmonika

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Ich und die Ruffel


Als ich eines Morgens aufwachte, standen zehn Ruffel rund um mein Bett. Sie sahen alle aus wie kleine braune Wischmops mit Augen und blickten mich neugierig aber auch etwas scheu an.
Ich stand langsam und vorsichtig auf. Die Ruffel schienen dies jedoch für einen Angriff zu halten, jedenfalls hüpften sie schnell davon und verkrochen sich in allen möglichen dunklen Ecken. Ich war gerade dabei, meinen Nachttisch zu Seite zu rücken, um das kleinste der Ruffel aus seinem Versteck zu jagen, als meine Mutter hereinkam.
„Ach, du bist schon wach?“ sagte sie ganz erstaunt. „Normalerweise schläfst du doch immer bis zehn. Ich wollte dir gerade deine frische Wäsche bringen.“
„Leg sie in den Schrank, oberste Schublade rechts“ sagte ich hastig und stellte mich vor den Nachttisch, sodass sie nicht sehen konnte, dass ich ihn zur Seite geschoben hatte und möglicherweise Verdacht schöpfen könnte. Aber meiner Mutter fiel nichts auf, sie legte nur meine Wäsche fein säuberlich auf einen Stapel in die Schublade und bemerkte im Rausgehen: „Mach hier mal bitte das Fenster auf. Es riecht wie in einem Leichenhaus.“
Ich hatte keine Ahnung, wie es in einem Leichenhaus roch, aber ich konnte mir vorstellen, dass es kein besonders angenehmer Geruch war, deshalb öffnete ich das Fenster. Während ich mich anzog, überlegte ich, woher diese Ruffel gekommen sein konnten.
Eines der Viecher saß gerade auf meinem Schreibtisch und war dabei, die Buntstifte aus dem Schuhkarton zu werfen, in dem ich sie immer aufbewahrte. Es schien großen Spaß dabei zu haben, jedenfalls quiekte es laut.
„Hey, lass das!“ schrie ich und stürzte auf das Biest zu. Das Ruffel machte einen großen Satz und landete oben auf dem Schrank, wo es in gleichmäßigem Rhythmus von einem Ende zum anderen rutschte, wie ein Besen durch den Sand. Dabei wirbelte es jede Menge Staubfussel auf, die schon seit längerer Zeit auf dem Schrank geruht hatten. Ich machte einen Schritt rückwärts und schnappte mir ein Kissen, um das Ruffel damit abzutreffen. Aber ich verfehlte mein Ziel, das so schnell wieder auf den Boden hüpfte, dass ich es kaum sah und dabei noch mehr Staubflocken verteilte.
Diese Staubfussel lockten auch die anderen Ruffel an und nach kurzer Zeit rutschten sie alle jauchzend durch den Staub und verteilten ihn im ganzen Zimmer. Einige Ruffel, die sich nicht für diese Rutschpartie interessierten, kugelten in meinem Bett umher oder brachten meine Comicsammlung durcheinander. Was immer sie auch anstellten, sie hinterließen nur Unordnung und Staub und schienen sich dazwischen auch noch wohl zu fühlen.
Ich geb ’s ja zu: Ich bin kein ordentlicher Mensch. Ich bin eigentlich sogar ein sehr chaotischer Mensch. „Nur ein Genie beherrscht das Chaos“ heißt es so schön, doch leider bin ich weder ein Genie, noch kann ich mein Chaos einigermaßen beherrschen. Eigentlich bin ich es gewohnt in meinem Zimmer ständig über Stapel von Büchern, Kissen, CDs, Spielzeug und anderen Kram zu steigen, aber diese Unordnung wurde selbst mir zu viel. Ich zog mich in unsere „Bücherei“ zurück und suchte im Lexikon unter dem Stichwort „Ruffel“. Folgendes fand ich:
Ruffel [ruffelus chaotix] Beschreibung: kleines, haariges Wesen von etwas 10 cm. Durchmesser. Nahrung: Meistens Staub und Schimmelpilze. Verhalten und Vorkommen: Bevorzugt das Leben in unordentlichen Haushalten und badet am liebsten im Staub. Verschönert sich seinen Aufenthaltsort durch noch mehr Durcheinander. Vermehrt sich sehr schnell, aber nur in guten Verhältnissen. Liebt fauligen Geruch, Staub, Schimmel und Nässe. Beseitigung: Räumen sie ihre Wohnung auf und vertreiben sie die Viecher. -weitere Hinweise unter dem Stichwörtern: Hauszwerge, Geister, Kobolde
Unter „Hauszwerge, Geister, Kobolde“ fand ich nichts weiter Interessantes zu den Ruffel, also sah ich ein, dass ich diese Biester nur loswerden könnte, wenn ich mein Zimmer aufräumen würde.
Ich holte tief Luft und betrat meinen Raum wieder. Die zwanzig Ruffel (irre ich mich, oder waren es vorher noch zehn?) tobten wie wild umher. Mittlerweile konnte ich den Boden vor lauter Unordnung nicht mehr sehen und alle glatten Oberflächen waren entweder unter Ruffel oder Staub verschwunden. Zuerst versuchte ich die Ruffel einfach einzufangen, aber sie kicherten und quiekten nur vor sich hin, sprangen oder „flogen“ davon und verstreuten noch mehr Staub, den sie anscheinend aus allen Ecken und Ritzen des Zimmers hervorgeholt hatten. Ich benutze den Staubsauger nur einmal im Monat, wenn überhaupt.
Es klopfte an der Tür. Meine kleine Schwester stürmte herein, um mir ihre sehr gut ausgefallene Rechenarbeit zu zeigen, blieb dann aber erschrocken stehen, was zum einen mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Ruffel lag, zum anderen einfach daran, dass sie gar nicht mehr weitergehen konnte.
„Och, sind die süß!“ rief sie und versuchte nach einem Ruffel zu greifen, das zu ihren Füßen herumwuselte.
Ich grinste verzweifelt. „Mama wird sie nicht so toll finden. Ich muss die Dinger irgendwie loswerden, bevor es noch mehr werden und ich mich überhaupt nicht mehr bewegen kann. Papa hat uns doch versprochen, dass er mit uns am Wochenende in den Freizeitpark fährt. Daraus wird garantiert nichts, wenn er diese Versammlung hier sieht. Dann ist das Wochenende mit Ruffeljagd besetzt. Hast du nicht ’ne brauchbare Idee, wie wir diese Biester loswerden können?“
Meine Schwester kniff die Augen zusammen, kratze sich mit der Hand im Nacken und rief plötzlich: „Na klar! Wir holen Ferdinand!“
Ich stöhnte, aber das hörte sie zum Glück nicht, weil sie wie der Blitz aus meinem Zimmer stürzte, um meinen älteren Bruder zu holen. Ferdinand war ein furchtbar gewissenhafter Mensch, in dessen Zimmer ich noch nie eine einzige Staubflocke herumfliegen gesehen habe. Er war der Stolz der ganzen Familie, ein Musterschüler und gleichzeitig ein Sportass, kurzum, ein Junge wie ihn (fast) jeder gerne zum Sohn hätte.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass Ferdinand sofort wieder auf dem Absatz kehrt machen würde, wenn er mein Zimmer auch nur gesehen hatte, aber er blieb ruhig stehen mit dem Mathebuch unter dem Arm und betrachtete die Ruffels interessiert.
„Aha“, sagte er schließlich, „das scheint mir ein ruffelus chaotix zu sein, im Volksmund auch als Ruffel bekannt.“
„Stell dir vor, dass hab’ ich nicht gewusst!“ murmelte ich leise, aber dennoch verständlich. Ferdinand machte sich daraus jedoch nichts, wahrscheinlich weil er dergleichen Bemerkungen schon gewohnt war, er fuhr nur ruhig fort: „Tut mir leid dir das zu sagen, aber du musst die Ruffel aus dem Haus schaffen. Sie werden auch die anderen Zimmer überfallen und in Papas Arbeitszimmer steht doch die neue Fraktionierkolonne.“
„Was ist das?“ fragte meine Schwester neugierig.
Ferdinand lächelte. „Eine Fraktionierkolonne benutzt man für Erdöldestillation. Je höher die Siedepunkte -“
„Ich glaube nicht, dass sich die Ruffel für so ein Zeug interessieren“, unterbrach ich ihn. „Wir haben dich eigentlich nur gerufen, weil wir dachten, du hättest vielleicht eine Idee, wie wir die Viecher wieder loswerden. Das diese Biester aus dem Haus geschafft werden müssen, ist mir selber klar.“
„Ich nehme an, die Aufräum-Taktik hilft hier nicht mehr viel. Aber ich kenne noch eine andere Methode. Könnte allerdings etwas länger dauern bis du das alles.... äh... wieder in den Griff gekriegt hast.“ Er zeigte auf das Fenster.
„Daran hab ich auch schon gedacht“, gab ich zu. „Aber wie -“
Meine Schwester, die es sich inzwischen auf einem Stapel Bücher gemütlich gemacht hatte, sprang auf. „Ich weiß, was ihr braucht!“ schrie sie. „Bin gleich wieder da!“ Und weg war sie.
Ich seufzte. Ferdinand versuchte ein Ruffel einzufangen, das auf dem Lampenschirm hockte und ihn von dort mit Popcorn bewarf. „Runter da!“ zischte er. „Mach dass du wegkommst!“ Nach einigen Versuchen gab er es jedoch auf. „Ich dachte ja daran, es mit einem Kissen von dort oben weg zu befördern, aber dann fiel mir ein, was ich über Ruffel gelesen hab. Schnelle Springer.“
Unsere Schwester kam zurück mit zwei großen Schaufeln in jeder Hand und unter dem Ellbogen ihre rote Plastikschippe aus dem Sandkasten. „Hiermit geht’s besser!“ rief sie triumphierend.
Ich zögerte, als sie mir die Schaufel entgegenhielt. „Mama und Papa wird das sicher nicht gefallen!“ warnte ich, aber Ferdinand zuckte mit den Schultern. „Ich glaube schon, dass sie es einer Mülllawine vorziehen“, sagte er, während er das Fenster öffnete. Und da musste ich ihm Recht geben.
Wir begannen zu schaufeln. Am Anfang war es noch recht mühselig, weil alle Gegenstände übereinandergestapelt waren und sich eckige Dinge oft ineinander verkeilt hatten. Außerdem musste man darauf achten, wohin man seine Füße stellte, damit man nicht plötzlich ausrutschte. Aber nach einer Weile jubelte meine Schwester, sie sei schon beim Boden angekommen. Ich grub hastig weiter und Ferdinand suchte sich eine andere Stelle: Er war dem Teppich schon ganz nahe und allergisch gegen Staubfussel. Vielleicht war das auch einer der Gründe für seinen Ordnungstick.
Die Ruffel, die nicht auf der Schaufel landeten und in den Garten geschleudert wurden, flohen schließlich kreischend beim Anblick unseres Staubsaugers. Es hatte eine knappe Viertelstunde gedauert, bis wir dieses Monstrum auf mein Zimmer befördert hatten und wir mussten zuerst den neuen Müll wegräumen, den die übrigen Ruffel wieder hervorgeholt hatten, um sich ihr Heim zu verschönern. Meine Schwester rannte mit dem Saugschlauch von einer Ecke des Zimmers in die andere und machte erst halt, als auch der letzte Staubfussel verschwunden war. Wir atmeten auf. Doch es war noch nicht ganz überstanden.
„Was ist denn hier los?!“ donnerte mein Vater, kaum hatte er die Tür geöffnet. „Wo sind die Bücher und Spielsachen?“
„Im Garten“, antwortete meine Schwester unschuldig.
Ferdinand trat vor und erklärte: „Einige ruffelus chaotix hatten sich in unserem Hause eingeschlichen, aber unser wirkungsvoller Plan hat sie vertrieben. Wir können jetzt beruhigt in den Freizeitpark fahren.“
„Aber nicht, bevor ihr das aufgeräumt habt!“ sagte meine Mutter drohend. Mein Vater hingegen stürzte auf Ferdinand zu, packte ihn am Kragen und schrie: „Wo sind die Ruffel jetzt? Habt ihr eins eingefangen? Wo sind sie? Wo?“ Ferdinand befreite sich aus seinem Griff und antworte ruhig: „Auch im Garten, nehme ich an. Aber wahrscheinlich haben sie sich bereits in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Sehr typisch für ihre Art. Wenn man sie beschuldigen möchte, sind sie nie da.“ Mein Vater sprang mit einem Satz ans Fenster, lehnte sich weit hinaus und jammerte dann: „Ruffelus chaotix! Ich habe immer geglaubt, diese Gattung wäre schon seit Ewigkeit ausgestorben. Immerhin wurde seit fast sieben Jahrhunderten kein einziges Exemplar mehr gesehen! Na ja, vielleicht ist es besser so, dass sie entkommen sind. Wer weiß, was sie noch alles angestellt hätten.“
„Ich bin allergisch gegen Ruffel“, bemerkte Ferdinand.

Seit diesem Abenteuer achte ich immer darauf, dass nicht nur mein Zimmer, sondern das ganze Haus sauber ist. Und das sauberste Ding in unserem Haus ist sicherlich der Staubsauger, denn der wird so oft benutzt, dass er gar nicht mehr einstauben kann.

©Harmonika
 
A

Abendsternchen

Gast
Hallo Harmonika,

eine recht amüsante Geschichte, die Du hier geschrieben hast. Ein paar Fragen/ Anmerkungen hätte ich zu machen, versteh sie nur als Vorschläge.

1. Woher weiß Dein Protagonist, dass die Ruffel "Ruffel" heißen? (Sorry, mir ist dieses Wort zumindest nicht bekannt :)) vielleicht sollte es erst auftauchen, wenn man im Lexikon nachgesehen hatte?
2. "Eines [blue]der[/blue] Viecher saß gerade
3.wo es in gleichmäßigem Rhythmus von einem Ende zum
anderen rutschte, wie ein Besen durch den Sand.
--> Du beschreibst den Staub erst hinterher, aber wenn es wie ein Besen auf dem Schrank hin und herwedelt, wird es dort doch auch schon den Staub verteilen und durchs Zimmer wirbeln, oder?
4."Eine Fraktionierkolonne benutzt man für Erdöldestillation"
--> aha... was macht diese Maschine im Arbeitszimmer eines normalen Menschen? Oder ist der Vater Ölmogul? :) Würde vielleicht eher Stapelweise Akten oder vielleicht eine Aktensortiermaschiene etc. nennen, die wenn durcheinander gebracht wurden, kann auch ganz schönes Chaos verursachen.

Am Ende könntest Du vielleicht als humorvolle Pointe einen der Ruffel überleben lassen, vielleicht ganz hinten unter dem Bett, der nur darauf wartet, auf ein neues hoervorzukommen.

Ansonsten wirklich recht amüsant.

lieben Gruß

Abendsternchen
 

Harmonika

Mitglied
Hallo Abendsternchen!
Vielen Dank für dein Feedback! :D Dann sag ich auch mal gleich was zu den Anmerkungen.
1. Na ja, ich wollte gleich im ersten Satz dieses witzige Wort benutzen, damit der Leser auch schön neugierig wird! :D Das ist sozusagen der Knüller am Anfang der Geschichte! Aber wenn der Erzähler nicht wüsste, dass die Ruffel Ruffel sind, könnte er das Wort ja auch nicht im Lexikon nachschlagen..
2. Oh, Rechtschreibfehler, tut mir leid, muss ich wohl übersehen haben... :rolleyes: Wird auch sofort verbessert!
3. Stimmt, da hast du Recht! Ich überarbeite die Stelle noch mal, vielleicht ist das Problem dann gelöst.
4. Die Idee mit der Fraktionierkolonne stammt von meinem eigenen Vater, denn so ein Ding soll sehr teuer und wertvoll sein und ich wollte ja gerade, dass das Ganze ein wenig "abgedreht" klingt. :D Der Vater ist vielleicht Chemiker oder Wissenschaftler. ;)
Zur Pointe: Das müsste ich mir noch mal überlegen, ob ich eins dieser kleinen Biester im Haus überleben lasse! *lol* ;-)
Nochmals danke fürs Feedback, hat mich schon sehr viel weitergebracht! :)

Harmonika :)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

ich finde, dass diese originelle geschichte gut ins kindergeschichten forum passen würde. märchen für große kinder. ganz lieb grüßt
 



 
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